Piwarz: Förderschulen bleiben unverzichtbar – Sachsen hinkt bei der Inklusion weiter hinterher

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DRESDEN. Sachsens Kultusminister Christian Piwarz hat sich deutlich zu den Förderschulen im Freistaat bekannt. Nicht nur, dass sie erhalten werden sollen – der CDU-Politiker möchte die Standorte stärken. Er meint: „Es war nie Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention, das in Deutschland hochentwickelte Förderschulsystem aufzulösen, wie es einige Bundesländer getan haben.“ In einem Bundesländer-Vergleich der Bertelsmann-Stiftung zur Inklusion schneidet Sachsen allerdings schlecht ab.

Lässt sich die Inklusion an Regelschulen verbessern, wenn viele Ressourcen in Förderschulen fließen? Foto: Shutterstock

„Als Kompetenzzentren sind Förderschulen nicht nur für Förderschüler, sondern auch für die sonderpädagogische Begleitung und Beratung von inklusiv unterrichteten Schülern an Regelschulen sowie für die sonderpädagogische Diagnostik unverzichtbar“, sagt Piwarz.  „Sachsen tut gut daran, die bewährten Förderschulen als Orte ausgewiesener sonderpädagogischer Kompetenz zu stärken, weil Schüler und Eltern darauf ein Recht haben.“

Sonderpädagogen gewinnen: mit Imagekampagne und Weiterbildung

Mit einer Imagekampagne und berufsbegleitenden Qualifizierungsmaßnahmen wolle Sachsen einerseits die Förderschulen und andererseits die Inklusion an Regelschulen stärken. So werden laut Piwarz neben berufsbegleitenden Weiterbildungen für die Förderschwerpunkte „Sehen“ und „Hören“ ab dem kommenden Wintersemester auch entsprechende Weiterbildungsgänge für die Förderschwerpunkte Lernen, emotional-soziale Entwicklung, geistige Entwicklung und Sprache beginnen. „Das ist wichtig, weil wir allein über die Absolventen des grundständigen Studiums der Sonderpädagogik in Leipzig die regionalen Bedarfe nicht abdecken können“, sagt er.

Auch pädagogischen Fachkräften an Schulen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung soll die Möglichkeit angeboten werden, sich zu Fachlehrerinnen und -lehrern zu qualifizieren. Dazu startet mit diesem Schuljahr 2019/2020 eine auf 12 Monate angelegte berufsbegleitende Qualifizierung, an der 25 pädagogische Fachkräfte teilnehmen werden. „Ich gehe davon aus, dass dieses Angebot zur Qualifizierung, das nach einem erfolgreichen Abschluss nicht nur einen eigenständigen Einsatz als Lehrer ermöglicht, sondern auch mit einer Höhergruppierung verbunden ist, Bestand haben wird. Unser Ziel ist, solche Kurse auch in den darauffolgenden Jahren anzubieten“, so Piwarz.

Neu ist auch, dass es an den gut 60 Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen künftig mindestens eine Assistenzkraft geben soll: entweder einen Inklusionsassistenten oder einen Assistenten aus dem Programm Schulassistenz. Diese systematische Ausstattung der Schulen ist geboten, weil in diesen Schulen zunehmend Schüler mit komplexen Problemlagen und Verhaltensauffälligkeiten unterrichtet werden.

Kooperationsverbünde sollen die Inklusion an Regelschulen stärken

Um in den nächsten Jahren parallel die Inklusion an Regelschulen zu stärken, würden insgesamt 63 Kooperationsverbünde in allen Regionen etabliert. Die ersten zehn Verbünde werden bis zum Ende des Kalenderjahres ihre Arbeit aufnehmen. Ziel der Kooperationsverbünde ist es, die sonderpädagogische Förderung und den inklusiven Unterricht an Regelschulen mit zumutbaren Schulwegen zu sichern.

Alle allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen in öffentlicher Trägerschaft sollen sich zu Kooperationsverbünden zusammenschließen. Perspektivisch werden auch Kitas einbezogen. Schulen in freier Trägerschaft können sich ebenfalls daran beteiligen. Partner sind dabei nicht nur die Schulen, sondern auch Schulträger sowie die Träger der Jugend- und Sozialhilfe und der Schülerbeförderung. Durch die Zusammenarbeit sollen die Übergänge in der Bildungslaufbahn von Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf erleichtert werden.

In Sachsen gab es laut Kultusministerium im Schuljahr 2018/2019 an den 155 öffentlichen und freien Förderschulen rund 29.000 Schülerinnen und Schüler mit Behinderung beziehungsweise sonderpädagogischem Förderbedarf. Davon besuchten etwa 19.000 Schülerinnen und Schüler Förderschulen, weitere 10.000 wurden an Regelschulen inklusiv unterrichtet. Der Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die inklusiv an Regelschulen unterrichtet werden – also die sogenannte Inklusionsquote -, betrage somit im Durchschnitt knapp 35 Prozent. In einigen Förderschwerpunkten (körperliche und motorische Entwicklung, emotionale und soziale Entwicklung, Sprache) seien es deutlich mehr. So würden drei Viertel (75,0 %) der Schüler im Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung in Sachsen inklusiv unterrichtet.

Im Bundesdurchschnitt sei dies nur die Hälfte der Schüler (54,5 %), heißt es. In allen Förderschwerpunkten liege die Anzahl der inklusiv unterrichteten Schüler über dem Bundesdurchschnitt. Eine Ausnahme bilde allerdings die lernzieldifferente Unterrichtung in den Förderschwerpunkten Lernen und geistige Entwicklung, so räumt Piwarz ein. Dort seien die Bundeszahlen wesentlich höher (Lernen: Sachsen 6,7 %, Bund  50,8 % Geistige Entwicklung: Sachsen 3,4%, Bund: 12,8%). Die inklusive Unterrichtung könne dort gut gelingen. Jedoch habe ein Schulversuch auch gezeigt, dass hier besondere Bedingungen notwendig seien und die Gefahr der Vereinzelung bestehe durch die fehlende Peer Group.

Immer mehr Regelschüler bekommen Förderbedarf attestiert

Der Bildungsforscher Prof. Klaus Klemm beschreibt in einer Studie für die Bertelsmann Stiftung aus dem vergangenen Jahr die Entwicklung der Inklusion in Sachsen allerdings kritischer. Er hält die vom Kultusministerium angeführte Inklusionsquote für wenig aussagefähig, weil immer mehr Regelschüler sonderpädagogischen Förderbedarf attestiert bekommen – und schon deshalb deren Anteil in den Regelschulen steige, ohne dass sich faktisch etwas ändere. Klemm hat deshalb einen bundesweiten Vergleich der „Exklusionsquote“, also des Anteils der Kinder und Jugendlichen an Förderschulen, vorgelegt. Danach besuchte 2016/2017 im Freistaat immer noch jeder 18. Schüler eine Förderschule (Quote: 5,7 Prozent) – womit Sachsen im Bundesländervergleich den dritthöchsten Wert (nach Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt) aufweist. Zum Vergleich: In Bremen war es lediglich jeder 83. Schüler (Quote: 1,2 Prozent), in Schleswig-Holstein jeder 48. (Quote: 2,1 Prozent).

Und: In Sachsen hat sich die „Exklusionsquote“ seit 2008/2009 nur um 1,2 Prozentpunkte verringert. News4teachers

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

“Etikettierungsschwemme” bei der Inklusion: Warum es in Deutschland immer mehr Schüler mit der Diagnose „Förderbedarf“ gibt

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xxx
4 Jahre zuvor

Man könnte mal die Exklusionsquote mit den Leistungen korrelieren. Zumindest Bremen und Sachsen sind da sehr gegensätzlich.

Bernd
4 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Sachsen produziert so viele Schulabbrecher, wie kaum ein anderes Bundesland in Deutschland.

Wenn Sie alle Schülerinnen und Schüler, die Mühe bereiten, hinauskomplimentieren, bekommen Sie natürlich fürs Regelsystem beste Durchschnittsleistungen, ohne sich dafür anstrengen zu müssen. Am besten alle raus, dann stört keiner mehr den Betrieb.

Carsten60
4 Jahre zuvor
Antwortet  Bernd

Berlin hat aber mehr Schulabbrecher (9,3% gegenüber 7,6%):
https://www.tag24.de/nachrichten/nirgends-in-sachsen-gibt-es-so-viele-schulabbrecher-wie-in-leipzig-caritas-bildungsstudie-sachsen-286111
Und woran liegt es in Berlin? Hat man da im Regelsystem auch „beste Durchschnittsleistungen“, weil man alle anderen hinauskomplimentiert? Hat man nicht sogar besonders schwache Durchschnittsleistungen?

Gerd Möller
4 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

@ xxx:“Man könnte mal die Exklusionsquote mit den Leistungen korrelieren“
Mal angenommen man erhielte eine positive Korrelation, was soll man denn daraus schließen?
Bernd hat hier schon eine plausible Begründung gegeben, warum dies Unsinn ist.
wahrscheinlich war dies auch von Ihnen gar nicht ernst gemeint, nur mal so einfach gegen Inklusion polemisiert.
Etwas mehr Mühe müssten Sie sich schon machen.

Conny
4 Jahre zuvor

Der Bundesländervergleich der Bertelsmann Stiftung zur Inklusion sagt gar nichts über gelingende oder nicht gelingende Inklusion aus. Nach dieser Studie schneiden die Länder am besten ab, die zwangsweise Förderschulen geschlossen haben und wo sich Kinder mit Förderbedarf dann in Regelklassen mit doppelt so großer Gruppengröße und mit deutlich geringerer Betreuung durch ausgebildete Sonderpädagogen wiedergefunden haben. Übrigens können in Regelklassen die Phasen, wo sich ein Kind mit Förderbedarf exkludiert fühlt, weil es mit den anderen nicht mithalten kann, sogar zunehmen. Woran liegt es denn, dass die Zahl der Rückwechsler aus Regelklassen in Förderschulen in einer Reihe von Bundesländern stetig zunimmt?

Gerd Möller
4 Jahre zuvor
Antwortet  Conny

„…dass die Zahl der Rückwechsler aus Regelklassen in Förderschulen in einer Reihe von Bundesländern stetig zunimmt“
Woher stammen denn diese Daten, bitte die Quelle angeben

Herr Mückenfuß
4 Jahre zuvor

Zitat: „Piwarz: Förderschulen bleiben unverzichtbar …“

Ja, das ist genau richtig. Übrigens:

„Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung zur Benachteiligung von Behinderten im Schulsystem deutlich gemacht, dass die ideologisch-apodiktischen Festlegungen von der Art „Behinderte müssen Förderschulen besuchen“ oder „Behinderte müssen Regelschulen besuchen“ dem Grundgesetz nicht entsprechen und die Rechte aller Beteiligten im Einzelfall zu respektieren und gegeneinander abzuwägen sind. Diese Rechtsprechung gilt unverändert auch nach der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention durch die Bundesländer.“

(Thomas Böhm: „Nein, du gehst jetzt nicht aufs Klo!“.- München 2018, S. 34)