Privatschulen sind zunehmend gefragt – nimmt Deutschland Kurs auf Zwei-Klassen-Bildungssystem?

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DORTMUND. Eine Million Kinder und Jugendliche lernen inzwischen an Privatschulen. Mancherorts schließen öffentliche Schulen, und neue private öffnen. Was macht das mit der angestrebten Chancengleichheit? Droht ein Zwei-Klassen-System?

Das Internat Schloss Salem ist die wohl bekannteste Privatschule in Deutschland. Foto: Janobi / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Die einen freuen sich über mehr Vielfalt und ein breiteres Angebot für den Nachwuchs, die anderen sind skeptisch und in Sorge um die Chancengleichheit. Vertieft sich mit der wachsenden Bedeutung von Privatschulen die soziale Spaltung im Land und driftet das Bildungswesen in Richtung Zwei-Klassen-System? Knapp eine Million Schüler – das ist jeder elfte Schüler – lernen inzwischen laut Verband Deutscher Privatschulverbände (VDP) an einer Einrichtung in privater Trägerschaft.

Man müsse angesichts dieser Zahlen nicht «überdramatisieren», sagt Bildungsforscherin Prof. Nele McElvany,l Direktorin am Institut für Schulentwicklungsforschung der Uni Dortmund. Aber den wachsenden Zulauf doch kritisch im Auge behalten. «Die Frage ist: Bis zu welchem Grad wollen wir das – mitsamt der starken sozialen Selektivität».

In 25 Jahren hat sich die Zahl der Privatschulen fast verdoppelt

Binnen 25 Jahren hat sich die Zahl der Schulen in privater Trägerschaft von rund 3200 auf knapp 5850 nahezu verdoppelt. Sie haben nach jüngsten Zahlen einen Anteil von 14 Prozent gemessen an allen Schulen. Das Wachstum kommt stark aus Ostdeutschland, wo es vor der Wende praktisch keine Privatschulen gab, erläutert McElvany. In fast allen Bundesländern sind die Privatschülerzahlen zuletzt im Schuljahr 2018/19 konstant oder steigend, wie eine Umfrage zeigt.

«Wir sehen ein kontinuierliches Wachstum und eine steigende Beliebtheit», schildert VDP-Sprecherin Beate Bahr. Privatpersonen, Stiftungen oder kirchliche Organisationen – alle können eine Privatschule gründen. Unter mehreren Bedingungen: Sie müssen dem VDP zufolge gemeinnützig und für jeden zugänglich sein, Kriterien und Auflagen erfüllen und staatlich genehmigt werden.

Wer lernt an Privatschulen? In hohem Maße eine «sozial privilegierte Schülerschaft», berichtet McElvany. Die Privaten seien bereichernd. Allerdings: «Was nicht Idee und Ziel sein darf: Wer es sich leisten kann, wandert ab zu den Privatschulen.» VDP-Sprecherin Bahr betont dazu, das Schulgeld werde gestaffelt nach Elterneinkommen erhoben. Die Schülerschaft sei heterogen. «Privatschüler sind keine selektive, elitäre Gruppe.» Tendenziell nutzten «Familien mit Bildungsinteresse» das Angebot stärker.

Privatschulen sollten nicht für soziale Spaltung verantwortlich gemacht werden, findet Bahr. Bedenken in diese Richtung gibt es schon länger, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wird deutlich: Die Existenz privater Schulen wirke «sozial selektiv», kritisiert NRW-Landeschefin Maike Finnern.

Für zusätzliche Aufregung sorgt Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann, der sich zu mangelnder Sprachkompetenz vor der Einschulung geäußert und angeregt hatte, eine Einschulung notfalls zurückzustellen. Dabei sagte er der «Rheinischen Post» auch: «Bis tief hinein in die Mittelschicht erlebe ich Eltern, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, weil das Niveau an staatlichen Schulen sinkt.» (News4teachers berichtete)

„Wir dürfen den Privatschulen nicht das Feld überlassen“

Was also sind die Beweggründe der Eltern? Für viele gebe das pädagogische Konzept den Ausschlag, erläutert der Bundeselternrat (BER). Einige Privatschulen seien offenbar finanziell besser ausgestattet. Womöglich zeigten Lehrer an Privatschulen – wo sie tendenziell mehr Gestaltungsfreiraum haben – manchmal ein ganz besonderes Engagement, glaubt der BER-Vorsitzende Stephan Wassmuth. Und: Manche öffentliche Schulen machten aus finanziellen Gründen dicht und private Anbieter füllten diese Lücke.

Vielfalt sei begrüßenswert, meint der Elternrat: «Aber wir dürfen den Privatschulen nicht das Feld überlassen.» Zentral über allem stehe das Ziel: «Wir brauchen ein durchweg hohes qualitatives Niveau für unsere Kinder.» Dafür müsse deutlich mehr in Bildung investiert werden. Ausreißer beim Schulgeld seien nicht akzeptabel, betont Wassmuth: Es gebe Privatschulen, die 50 Euro pro Monat verlangten, aber manchmal eben auch extrem hohe Summen. «Das könnte die Chancengleichheit unterbinden, was fatal wäre», findet er. Und: «Ein Zwei-Klassen-System wollen wir doch wohl alle nicht.»

Expertin McElvany sagt: «Es gibt Schulen, da geht es um Elite.» Häufiger seien aber eine alternative Pädagogik oder ein christlich-sozialer Hintergrund wesentliche Merkmale. Besondere Ausrichtungen etwa im sportlichen oder kreativen Bereich könnten attraktiv wirken. Einige wollten das eigene Kind nicht an Brennpunktschulen schicken. «Manchmal haben Eltern auch tatsächlich keine Wahl.» Wenn auf dem Land auch die letzte öffentliche Grundschule schließe, sei die private Schule alternativlos.

Bei Klassengröße und Unterrichtsstunden liegen Privatschulen vorn – leicht

Sind Rahmenbedingungen und Leistungen bei den Privaten so viel besser, wie es oft heißt? Bei Klassengröße und Unterrichtsstunden haben sie im Schnitt nur leicht die Nase vorn, erklärt McElvany. Das gelte auch für die Leistungen. «Und das liegt an der sozial privilegierten Schülerschaft und kann nicht als Erfolg des Konzeptes bewertet werden.» Auch mit Blick auf Linnemanns Äußerung meint sie: «Eine Flucht aus dem öffentlichen Bildungssystem ist nicht der zentrale Faktor, der die Privatschulbewegung treibt.» Von Yuriko Wahl-Immel, dpa

Hintergrund: Länderdaten

Wie viele Schüler besuchen nach aktuellsten Zahlen in den einzelnen Bundesländern eine private Schule?

Für NORDRHEIN-WESTFALEN meldet das Statistikamt steigende Werte. Zuletzt lernten dort demnach fast 163.100 Schüler an einer Privatschule – 0,3 Prozent mehr als 2017/18. An der Schülergesamtzahl mache das einen Anteil von 8,6 Prozent aus – vor allem bei Gymnasien sei er mit 16,8 Prozent hoch. Nicht enthalten sind hier Berufs- und Weiterbildungskollegs, Förderschulen nur zu einem Teilbereich. Das Düsseldorfer Schulministerium zählt anders, kommt auf sogar 208.000 Privatschüler, aber einen «leicht rückläufigen» Trend. Ministerin Yvonne Gebauer (FDP) sieht die Privaten als Ergänzung, alle Schulformen ermöglichten eine «gute, erfolgreiche Bildungsbiografie».

In BAYERN gingen im Schuljahr 2018/19 knapp 146 800 Kinder und Jugendliche in eine der 625 Privatschulen. Das macht einen vergleichsweise hohen Anteil von 11,7 Prozent aus. Viele wollten ihre Kinder wohl vor dem in Bayern besonders leistungsorientierten System der öffentlichen Schulen bewahren, meint der dortige Lehrerverband. Es gebe auch elitär ausgerichtete Gründe. Von einer «bedauerlichen Entwicklung» spricht der Elternverband. Einige Eltern gingen offenbar von besserer Förderung und Geborgenheit bei privaten Trägern aus.

In BADEN-WÜRTTEMBERG hat die Zahl der Privatschüler einen Höchststand erreicht. Rund 106.800 Schüler besuchten eine allgemeinbildende Privatschule – 0,8 Prozent mehr als 2017/18. Nach Einschätzung der Landes-GEW wollen Eltern über das Umfeld ihrer Kinder bestimmen. «Und private Schulen wählen nach Milieu oder auch nach Religion aus.» In RHEINLAND-PFALZ bewegt sich die Privatschüler-Quote in Richtung 8 Prozent, aus dem SAARLAND wird eine konstante Zahl von knapp 8600 Privatschülern gemeldet.

In HESSEN verzeichnete das Kultusministerium einen leichten, kontinuierlichen Anstieg: Dort besuchten nahezu 54.700 Heranwachsende eine allgemeinbildende Schule in privater Trägerschaft – ein Anteil von gut 7 Prozent. Viele Eltern hätten Interesse an Reformpädagogik, meint die Arbeitsgemeinschaft der freien Schulen. Die GEW in Hessen verlangt eine Stärkung des öffentlichen Systems.

In BREMEN herrscht zwar große Unzufriedenheit mit den öffentlichen Schulen, einen Ansturm auf die Privaten gibt es aktuell trotzdem nicht. Laut Bildungsverwaltung besucht immerhin etwa jeder zehnte Schüler eine Privatschule. In NIEDERSACHSEN blieb die Zahl konstant. Das Bildungsministerium in SCHLESWIG-HOLSTEIN hält die Ersatzschulen für «eine gute Ergänzung des öffentlichen Bildungssystems». Dort lernen nur 5 Prozent der Schüler an Privatschulen. HAMBURG meldet «konstanten Zulauf».

In BERLIN besuchen rund 37.000 Schüler Privatschulen – ein Anteil von rund 10 Prozent. In BRANDENBURG ist der Anteil binnen zehn Jahren von 8 Prozent auf aktuell gut 11 Prozent geklettert – was nach Einschätzung des Bildungsministeriums an besonderen Konzepten oder schlicht am kurzem Schulweg liegen könnte.

Privatschulen verbuchen in SACHSEN. einen deutlichen Zulauf. Nach Angaben des Kultusministeriums besuchten im Schuljahr 2018/2019 rund 70.200 Schüler eine der mehr als 400 Schulen in freier Trägerschaft. Die Schülerzahlen seien in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen, sagte eine Behördensprecherin auf Anfrage. Das habe auch damit zu tun, dass zahlreiche freie Schulen neu gegründet wurden und erst nach und nach ihre volle Schülerzahl erreichten. Um die Jahrtausendwende gab es im Freistaat gerade einmal 240 Privatschulen mit rund 37.000 Schülern.

Auch in SACHSEN-ANHALT liegen Privatschulen im Trend. Ebenso in THÜRINGEN, wo mehr als jeder zehnte Schüler an einer privaten Schule lernt – Tendenz steigend. Das Milieu sei geprägt von einer gut situierten Elternschaft mit hohem Bildungsabschluss, meint die dortige GEW. Die Evangelische Schulstiftung verweist aber auf sozial gestaffeltes Schulgeld und gemischte Elternschaft.

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Immer mehr Kinder aus reichen und gebildeten Familien besuchen eine Privatschule

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xxx
4 Jahre zuvor

Schulen mit kirchlichem Träger werte ich nicht als Privatschule, auch wenn die sich in Maßen die Schüler aussuchen können.

In den neuen Bundesländern sind die Privatschulen der klammen Finanzlage geschuldet, weil viele Schulen ohne privaten Träger andernfalls geschlossen werden würden.

Wenn man all diese Schulen rausrechnet, wie viele Privatschulen bleiben dann noch übrig?

Abgesehen davon sollte man „Privatschule“ als Schule ohne öffentliche Förderung oder zumindest mit eigenen Lehrplänen definieren. Wie gut oder schlecht solche Schulen sind, müsste man anschließend erörtern. Ergänzungsschulen sind nach dem, was ich davon gehört habe, auf jeden Fall nicht nennenswert besser. Für die Schüler nicht, für die deutlich schlechter bezahlten Lehrer erst recht nicht.

Herr Mückenfuß
4 Jahre zuvor

@ xxx, das sehr ich ähnlich.

Viele Privatschulen profitieren von dem guten Ruf einiger weniger. Weder ist jede öffentliche Schule schlecht noch ist jede private Schule besser. Es ist dagegen oft mehr Schein als Sein. An Privatschulen arbeiten viele Lehrer, die keine vollständige Lehrerausbildung haben oder deren Ausbildung nicht voll anerkannt ist.

Der Elitär
4 Jahre zuvor

@ xxx und @ Herr Mückenfuß, das sind gute Kommentare, danke! Ich finde auch, dass man nicht alle Privatschulen immer über einen Kamm scheeren kann. Es gibt private berufliche Schulen in Baden-Württemberg, die als Ersatzschulen zu den öffentlichen Schulen gegründet wurden. Die „staatlichen“ Schulen konnten nicht alle Schüler/innen aufnehmen, die sich beworben hatten und so mussten die privaten Schulen diejenigen nehmen, die „übrig“ blieben. Die öffentlichen Schulen nehmen ja nach Notenschnitt auf (bei weiterführenden Schulen) und gute Noten – so sagt die Bildungsforschung der letzten 20 Jahre – haben auch etwas mit dem Einkommen der Eltern zu tun. Wer ist denn dann nun Eliteschule??? Doch eher die öffentlichen beruflichen Schulen! Hallo GEW???
Und wenn eine Privatschule kein Schulgeld verlangt und dafür 80% dessen bekommt, was ein Schüler den Staat kostet, wie soll da ein privater Schulträger die Lehrkräfte voll bezahlen? Alle, die auch nur ein bisschen Ahnung von Rechnungswesen haben, können ganz schnell ausrechnen, das dieser Schulträger innerhalb eines halben Jahres insolvent sein wird. Oder kann mir jemand von der GEW das anders ausrechnen???
Darüber schreibt kein Journalist! Das wäre ja auch nicht so einfach, als einfach alle Privatschulen in einen Topf zu schmeissen und als elitär zu „beschimpfen“. Nicht ausgewogen und keine gute Recherche!

Carsten60
3 Jahre zuvor

„Die Existenz privater Schulen wirke ’sozial selektiv‘ „, bemängelt die GEW.
Nun, abgesehen von der ausdrücklichen Erwähnung von Privatschulen in Art. 7 GG gibt es natürlich jede Menge Dinge, die sozial selektiv wirken. Man denke etwa an Einfamilienhäuser mit Gärten drumherum oder Villlenetagen im Kontrast zu Sozialbauwohnungen. Dadurch entstehen nicht nur individuelle Unterschiede zwischen der einen und der anderen Familie, sondern ganze Stadtviertel sind von der einen oder der anderen Art, wirken also zwangsläufig sozial selektiv.
Genau dies ist auch in Frankreich so, weswegen die „carte scolaire“ (zu Deutsch etwa: Sprengelprinzip) kein großer Erfolg war trotz eines einheitlichen Schulsystems: Die Kinder, die in Villenvierteln wohnen, gehen halt dort zur Schule, und die Kinder aus den Sozialwohnungen und Hochhäusern der Vorstädte eben dort. Aber so weit denken die GEW-Funktionäre offenbar nicht. Und mit Privatschulen kann man zusätzlich auch noch dem Sprengelprinzip entfliehen, und das auch in Frankreich.
Ich nehme man ganz grob an, dass diese Einteilung in die sozial unterschiedlichen Wohnviertel stärker wirkt als das Vorhandensein der — bislang noch nicht allzu zahlreichen — Privatschulen. Es ist überhaupt die Frage, ob die Schule geeignet ist, soziale Unterschiede auszugleichen oder zurückzudrängen. Schließlich fahren die einen in klimatisierten Limousinen der gehobenen Klasse, während andere im Sommer in nicht klimatisierten und überfüllten Stadtbussen schwitzen. Die einen Jugendlichen sind im Tennisclub oder gar Golfclub, die anderen spielen Fußball auf der Straße oder auf brachliegenden Flächen. Die einen lernen mit Privatunterricht (!) Geige spielen, die anderen drehen nur an den Knöpfen eines elektronischen Geräts, das krächzende Musik von sich gibt. Die einen fahren im Sommer nach Sylt, die anderen drängeln sich in überfüllten Freibädern (sofern die nicht schon geschlossen wurden). Die GEW kann nie zufrieden sein, solange das so ist. Aber ist das in Deutschland nun besonders schlimm im internationalen Vergleich? In welchen Ländern gibt es denn noch Schulgeld an staatlichen Schulen? Sogar fernöstliche PISA-Sieger scheinen immer noch dazu zu gehören, Südkorea und (zumindest bis vor kurzem) sogar China mit einer kommunistischen Regierung. Die wirklich Reichen können ihre Sprößlinge auch in die vornehmen Internate in England schicken, dort, wo manche dann zu Ferienbeginn vom Chauffeur mit dem Rolls-Royce abgeholt werden.