50 Jahre Gesamtschule in (West-)Deutschland – GEW fordert zum Jubiläum neue „Anstrengungen für längeres gemeinsames Lernen“

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BERLIN. Lebt die Schulstrukturdebatte aus der Bundesrepublik der 70-er Jahre wieder auf? Während in Sachsen aktuell über die Einführung einer Gemeinschaftsschule – neben dem bisherigen zweigliedrigen System – gerungen wird (News4teachers berichtete), hat die Berliner GEW mehr „Anstrengungen in Richtung längeres gemeinsames Lernen“ gefordert. Der Anlass: Vor nunmehr 50 Jahren wurden in Westdeutschland die ersten Gesamtschulen gegründet. Mit ihnen wurde die Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule (GGG) ins Leben gerufen, die das Jubiläum mit ihrem Bundeskongress an einem symbolischen Ort beging.

Gesamtschule
Gibt es seit nunmehr 50 Jahren in Westdeutschland: Gesamtschulen. Foto: EnergieAgentur.NRW / Flickr (CC BY 2.0)

Der Bundeskongress der „Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule – Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens e. V.“ mit dem Titel „Aufbruch 2019: Die Schule als gesellschaftsbildende Kraft“ fand nun nämlich in der Berliner Fritz-Karsen-Gemeinschaftsschule statt – der ältesten Gesamtschule Deutschlands. Deren sich im Lauf der Jahre ändernde Bezeichnung (bei Gründung 1948 „Einheitsschule“, danach „Schule mit besonderer pädagogischer Prägung“) stehe „auch für die wechselvolle Namensgeschichte unserer Schulen des gemeinsamen Lernens“, wie der GGG-Bundesvorsitzende Gerd-Ulrich Franz betonte.

Tatsächlich spiegelt diese Namensgeschichte auch den Kulturkampf, der sich in Westdeutschland über Jahrzehnte mit der Gesamtschule verband – und der 1978 in einem erfolgreichen Volksbegehren gegen die sogenannte kooperative Schule („Stopp Koop“) in Nordrhein-Westfalen gipfelte. Kirchen, konservative Elternverbände sowie die CDU hatten massiv gegen das Vorhaben der SPD-geführten Landesregierung getrommelt.

GEW beklagt: Erfolg von Schülern hängt immer noch stark von der Herkunft ab

Schnee von gestern? Keineswegs – meint jedenfalls die GEW. „In Zeiten von zunehmender sozialer Spaltung und politischer Polarisierung ist die Forderung nach längerem gemeinsamen Lernen und mehr Gemeinschaftsschulen hoch aktuell. Die gemeinsame Bildung ist ein zentraler Ansatz für eine solidarische Gesellschaft“, meint der Berliner Landesvorsitzende Tom Erdmann. Nach der Grundschule würden Kinder immer noch sortiert und Benachteiligungen damit zementiert. „Der Bildungserfolg hängt nach wie vor stark vom Einkommen, Bildungsstand der Eltern sowie von der Familiensprache ab. Bei dem Übergang in die weiterführende Schule werden die Ungleichheiten verstärkt. Die Beweggründe von damals für die Gründung der Gesamtschulen sind also auch heute noch relevant“, betont Erdmann.

Gerade vor dem Hintergrund der aufgrund von steigenden Schülerzahlen geplanten neuen Schulbauten in Berlin fordert der Gewerkschafts-Chef: „Jetzt müssen die Weichen für mehr Gemeinschaftsschulen gestellt werden. Unter den gut 60 neu zu bauenden Schulen gibt es bis jetzt kaum Gemeinschaftsschulen. Nur hier können die Schüler*innen gemeinsam von der 1. bis zur 10. oder 13. Klasse lernen. Wir dürfen uns nicht darauf ausruhen, dass die Gemeinschaftsschulen nun im Schulgesetz stehen. In vielen anderen Ländern ist das lange gemeinsame Lernen die Regel. Wir brauchen einen neuen Aufbruch! Wir brauchen mehr Gemeinschaftsschulen“, betont Erdmann.

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Diskutiert wurden Lehrerausbildung und heterogene Klassen

Ähnliche Töne sind von der GGG zu hören. „Mit der Tagung in der Bundeshauptstadt wollen wir den bundespolitischen Anspruch hervorheben und nach 50 Jahren den alle anderen ersetzenden Charakter unserer Schulen wieder in Erinnerung rufen“, so Vorsitzender Franz.  Angestrebt werde eine  Aufhebung der Vorgaben der KMK, nach denen eine schulformbezogene Differenzierung in der Sekundarstufe II in den Ländern zu organisieren ist. Dies sei auch eine Voraussetzung für eine „inklusive Schule“, wie sie durch die Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention durch den Bundestag 2009 „unabweisbar erforderlich ist“, so Vorsitzender Franz. „Wir werden selbstbewusst die eine, inklusive Schule für alle offensiv herausstellen und deren politische Unterstützung einfordern.“

Diskutiert wurden auf dem Bundeskongress unterschiedliche Themen, darunter die Lehrerausbildung. „Auch 50 Jahre nach der Einrichtung der Gesamtschulen werden in den meisten deutschen Bundesländern Lehrkräfte noch immer für ‚Schulformen‘ ausgebildet, fehlt es an einer Lehrerausbildung für die Schulen des gemeinsamen Lernens. Bei der Entscheidung für ‚das Studium auf Lehramt‘ überwiegt weiterhin das Interesse an einem ‚Unterrichtsfach‘. Die inklusive Aufgabe, die Potenziale aller Kinder in einer Schule bestmöglich zu entfalten, ihre Verschiedenheit wertzuschätzen und im Miteinander fruchtbar werden zu lassen, wird nicht angemessen berücksichtigt“, so hieß es.

Auch das Ende der Vorstellung von „homogenen Klassen“ wurde beschworen. „Jahrgangsklassen suggerieren Homogenität, fördern Gleichschrittigkeit und Konkurrenz, verstellen den Blick auf die Vielfalt, die unterschiedlichen Entwicklungsstände und Lernzugänge der Kinder“, so wurde kritisiert. Das diskutierte Gegenmodell: jahrgangsübergreifende Lerngruppen. Sie „erfordern unausweichlich die verschiedenen Entwicklungsstände anzuerkennen und zu berücksichtigen“, hieß es mit Blick auf die Lehrer. News4teachers

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

„Kampf gegen Gleichmacherei“: Der Volksantrag zur Einführung der Gemeinschaftsschule in Sachsen wird zum bundesweiten Politikum

 

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6 Kommentare
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drd
4 Jahre zuvor

Unbelehrbar, diese Leute. Verblendet. Linksignorant. Die Lehrerverrätergewerkschaft eben.

dickebank
4 Jahre zuvor

… und deshalb steigen die Anmeldezahlen – oder wie muss ich das verstehen?

Der Richtigsteller
4 Jahre zuvor

@dickebank

Die Anmeldezahlen steigen logischerweise, weil Berlin seit Jahren rasant wächst – und sich nicht alle Zugezogenen Gedanken darüber machen, welche Schulformen die beste für das eigene Kund ist bzw. Bildung nur eine untergeordnete Rolle im Alltag spielt.

Pälzer
4 Jahre zuvor

In einer so großen Stadt wie Berlin ist Platz für viele Schulformen. Wenn alle Schulen gleich gefördert werden (ist das in Berlin so?) und die Bewertungen nach gleichen Maßstäben erfolgen, spricht nichts dagegen, dass alle diejenige Bildung für ihre Kinder wählen, die sie für richtig halten.

Pälzer
4 Jahre zuvor

Da steht „Dies sei auch eine Voraussetzung für eine „inklusive Schule“, wie sie durch die Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention durch den Bundestag 2009 „unabweisbar erforderlich ist“, so Vorsitzender Franz. „Wir werden selbstbewusst die eine, inklusive Schule für alle offensiv herausstellen und deren politische Unterstützung einfordern.““
Kann man daraus schließen, dass die Inklusion ein Mittel zum Zweck ist, nämlich um die „eine inklusive Schule für alle“ juristisch zu erzwingen?

Carsten60
2 Jahre zuvor
Antwortet  Pälzer

Manche Politiker bei den Grünen sehen das tatsächlich so: die konsequente Weiterentwicklung der Inklusion gemäß der UN-Konvention sei die „inklusive eine Schule für alle“. Aber juristisch erzwingen kann man das natürlich nicht, kein Gericht der Welt wird das anordnen. Bisher hat auch niemand versucht, das etwa vor den Bundesgerichtshof oder den EuGH zu bringen. Es ist eher ein typischer Fall davon, mit einer bewusst unklaren Begrifflichkeit politische Ziele zu verfolgen, also sozusagen „im Trüben zu fischen“. Viele sind dann zu dumm oder zu bequem, den Pferdefuß darin zu entdecken. Sie lassen sich von schönen Worten einlullen.
Dasselbe passiert, wenn neuerdings die Ganztagschule mit „ganzheitlicher Bildung“ in direkte Verbindung gebracht wird, obwohl es in der Ganztagsschule nachmittags nur Betreuungsangebote (mit viel Sport) gibt. Diese „ganzheitliche Bildung“ kann also auch zum Fußballspielen degenerieren. Nichts gegen Fußball an sich, aber als „Flaggschiff“ für Bildung eignet der sich nun mal nicht. Da fehlt zumindest die Thematisierung der korrupten FIFA und auch der überhöhten Gehälter, die bei Managern immer hämisch beanstandet werden („wie unsozial und ungerecht“).