„Schulen spielen die entscheidende Rolle“: Kultusminister Tonne will die Demokratiebildung aus ihrem Nischendasein befreien

3

HANNOVER. „Die  Jugend  soll  erzogen  werden  im  Geist  der  Menschlichkeit,  der  Demokratie  und  der  Freiheit“, so heißt es gleich in Paragraph zwei des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes. Auch in den anderen Bundesländern  wird der politische Bildungsauftrag der Schule ähnlich prominent gesetzlich fixiert. Nur: Im Unterrichtsalltag  ist davon nicht immer viel zu spüren. Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) möchte die Demokratiebildung nun aus ihrem Nischendasein befreien. Er startete eine Initiative, die den Austausch von Lehrern fördern und für mehr Verbindlichkeit sorgen soll – samt den dafür notwendigen Ressourcen.

Schüler müssen lernen, für ihre Rechte einzustehen – gerne lautstark, aber fair. Foto: Shutterstock

Demokratie ist als Thema in Schulen nur eins von vielen: In einer Online-Befragung des Berliner Instituts für Gesellschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung im vergangenen Jahr gaben nur knapp vier Prozent der bundesweit befragten Lehrkräfte an, dass das Thema einen hohen Stellenwert in ihrem Schulalltag hat (News4teachers berichtete). Die Teilnahme an Schülerparlamenten oder die Veranstaltung von Demokratie-Projektwochen ist in Schulen eine absolute Ausnahme. Andererseits sehen die allermeisten Lehrer durchaus die Notwendigkeit, die Schüler mit dem Thema in Berührung zu bringen: Für 96 Prozent von ihnen ist schulische Demokratiebildung – immerhin – von mittlerer Bedeutung.

Doch offenbar fehlt es vielfach an Know-how, das Thema pädagogisch anzugehen: In der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften sind Inhalte der Demokratiebildung unterrepräsentiert. Nur 16 Prozent der befragten Lehrer hatten sich im Studium damit intensiv auseinandergesetzt, im Referendariat sank der Wert sogar auf 13 Prozent.

Demokratiebildung: Kostenloser Online-Kurs für Lehrer

„Schule ist ein zentraler Ort, an dem junge Menschen Demokratie und Engagement lernen, erfahren und gestalten können.“ Foto: Shutterstock

Die Demokratiebildung in der Schule hat im Zuge der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen an Bedeutung gewonnen. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, sich als Part der Gesellschaft zu begreifen, der diese aktiv verändern kann. Doch wie können Lehrkräfte dies erreichen? Unterstützung bietet der kostenlose Online-Kurs „Citizenship Education – Demokratiebildung in Schulen“, den die Bertelsmann Stiftung zusammen mit dem Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz Universität Hannover entwickelt hat.

Hier gibt es weitere Informationen.

In Niedersachsen soll das Thema jetzt stärker in den Fokus rücken. Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) gab vor einigen Hundert Schülern den Startschuss für die Initiative „Demokratisch gestalten“, mit der Demokratiebildung vom Rand in die Mitte der schulischen Themen befördert werden soll. „Es geht darum, im Rahmen der politischen Bildung eine Grundvorstellung von Demokratie zu vermitteln“, sagte Tonne im Gespräch mit News4teachers. Und dies sei dringend nötig – immer wieder, von Schülergeneration zu Schülergeneration.

Bei der Vermittlung demokratischer Regeln sind vor allem Lehrer gefordert

Dass das Engagement für die Demokratie gesamtgesellschaftlich nachgelassen habe, liege wohl auch darin begründet, dass vielen Menschen in Deutschland die Grundrechte, Mitbestimmung und Frieden seit Jahrzehnten selbstverständlich erschienen – womit sie aber falsch lägen. „Wer Demokratie haben will, muss sie bewahren, verteidigen und immer wieder neu beleben. Schulen spielen hierbei die entscheidende Rolle“, erklärte der Minister. Denn die Demokratie mit ihrer Gewaltenteilung, mit den Regeln des Parlamentarismus und ihren Freiheiten sei eine komplexe Staatsform, die sich nicht selbst erkläre. Hierbei seien vor allem Lehrerinnen und Lehrer gefordert.

Und viele, so Tonne, zeigten ja auch schon beachtliches Engagement. „Bei uns gibt es 300 ‚Schulen gegen Rassismus‘, wir haben UNESCO-Schulen, Europa-Schulen. Viele Schulen machen sich auf den Weg“, sagte der Minister mit Blick auf Niedersachsen. Dieser Einsatz sei nicht „von oben“ vorgegeben – für ihn ein „ermutigendes Signal“.

Fridays for Future: Die Schülerbewegung macht Hoffnung

Hoffnung bereitet ihm auch eine andere Entwicklung. Bislang galt die Jugend als eher unpolitisch. Jetzt erlebt Deutschland, dass freitags Tausende von Schülerinnen und Schüler für eine schärfere Klimapolitik auf die Straße gehen. Begrüßenswert? Tonne: „Es ist grundsätzlich gut, dass junge Menschen sich politisch engagieren. Ihr Einsatz sorgt für intensive Debatten in der Gesellschaft.“ Natürlich dürfe er als verantwortlicher Minister auch die formale Seite der „Schulstreiks“ nicht übersehen. „Wir können nicht ignorieren, wenn ein Schüler oder eine Schülerin  unentschuldigt fehlt.“ Abseits dieser Frage jedoch griffen viele Schulen die aktuelle Klimadebatte auf, ließen Diskussionen zu, lieferten Antworten auf drängende Schülerfragen. Daraus ergebe sich ein „Streit im positiven Sinne“ – ein Ringen um Lösungen nach demokratischen Prinzipien, also: ein hervorragender Anschauungsunterricht in Demokratiebildung.

In der niedersächsischen Initiative „Demokratisch gestalten“ sind „alle an Schulentwicklung Beteiligten“ eingeladen, „Kinder und Jugendliche in ihrem Engagement für Demokratie und Menschenrechte zu stärken sowie Teilhabe und Partizipation auszubauen“ – wie es in einer Beschreibung des Ministeriums heißt „Die Initiative wird in den Schwerpunkten ‚Aufbau regionaler Schulnetzwerke‘, ‚Kinderrechte und Partizipation im Primarbereich‘, ‚Friedensbildung in der Schule‘ und ‚Systemische Grundlagen und Unterstützungsangebote‘ umgesetzt. Ziel ist, gute Praxis in bereits bestehenden Strukturen zu stärken, neue Wege zu ermöglichen und inspirierende Ideen für eine demokratische und nachhaltige Schule zu entwickeln“.

Demokratiebildung ist auch eine Ressourcenfrage für die Schulen

Die ehrgeizige Agenda wirft die Frage auf: Bleibt es beim Engagement der Schulen „on top“, also auf freiwilliger Basis und ohne zusätzliche Ressourcen?  Der nächste Schritt, so erklärt Tonne, sei die Entwicklung eines Grundsatzerlasses Demokratiebildung, der einen formalen Rahmen setze. Der Minister betont: „Wir werden dann nicht umhin kommen, Prioritäten zu setzen. Wenn wir auf der einen Seite verstärken, dann müssen wir debattieren, was einen Schritt zurücktreten kann. Es ist logisch: Man kann nicht immer nur draufsatteln.“ Er erhoffe sich von den nun beteiligten Projektschulen Rückmeldungen darüber, wo inhaltlich an anderer Stelle abgespeckt werden könne. „Das möchten wir nicht den Lehrkräften diktieren, nicht von oben vorgeben“, betont er. Im Ergebnis aber werde es eine stärkere curriculare Verankerung des Themas Demokratiebildung geben. Tonne: „Das muss so sein.“ Agentur für Bildungsjournalismus

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Ein Leser kommentiert auf der Facebook-Seite von News4teachers die Rahmenbedingungen für Demokratiebildung an Schulen.

Jugend 2019: optimistisch, tolerant, umweltbewusst – und in großen Teilen populistisch. VBE: Demokratiebildung stärken!

 

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

3 Kommentare
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
Palim
4 Jahre zuvor

Frage: „Bleibt es beim Engagement der Schulen „on top“, also auf freiwilliger Basis und ohne zusätzliche Ressourcen? “
Antwort: „Der nächste Schritt, so erklärt Tonne, sei die Entwicklung eines Grundsatzerlasses Demokratiebildung, der einen formalen Rahmen setze.“
Also: Ja, es bleibt bei einem Engagement der Schulen „on top“, der per Grundsatzerlass geregelt wird. Die Einarbeitung in Kerncurricula kann Jahre dauern und schafft ebefalls keine Ressourcen, aber erneute Arbeit in den Kollegien, die diese dann in Schulpläne umsetzen müssen.

Vorschläge der Entlastung hinsichtlich des Unterrichts kommen nicht aus dem Ministerium, sondern sollen von den Modellschulen geliefert werden – also auch Mehrarbeit und Engagement der SCHULEN.
DESHALB erklärt der Minister ja auch: „Schulen spielen hierbei die entscheidende Rolle.“

Aber vielleicht ist einfach die Pressemeldung nicht so informativ formuliert, sodass unter den Tisch gefallen ist,
– dass die Modellschulen für das zusätzliche Engagement mit zusätzlichen Stunden ausgestattet wurden, die diesen Schulen trotz Lehrermangels auch tatsächlich erhalten und den beteiligten Lehrkräften auch wirklich auf ihr Deputat angerechnet werden, schließlich leisten sie mit ihrem Engagement ja offenbar den größten Anteil,
– dass die Erabeitung von Materialien durch ein Team unterstützt wird, dass sich um mediale Aufbereitung kümmert, sodass die Lehrkräfte die Ideen und Vorgehensweisen liefern, anderes aber durch weitere Kräfte erfolgen kann, die sich auch um Darstellung, Lizenzen etc. kümmern können, und
– dass entstehende Materialien zur Dikussion oder weiteren Erprobung z.B. über die Landeszentrale für politische Bildung anderen Lehrkräften zur Verfügung gestellt werden?

Immerhin gibt es ja auch Internetseiten mit Downloads zur erfolgten Auftaktveranstaltung https://wordpress.nibis.de/demokrat/downloads/
und https://www.nibis.de/download-bereich_11958

Jule Krause
4 Jahre zuvor

Na BRAVO, unser Kultusminister ist voll „auf Linie“. Aber etwas anderes habe ich aber auch eigentlich nicht von ihm erwartet. Dafür ist er viel zu jung und „spröde“. Schade, dass nicht Leute aus der Praxis, also langjährige LehrerInnnen, das Kultusministeramt bekleiden (müssen). So jemand wüsste wenigstens, dass wir Lehrer an Grund- und Hauptschulen mehr als genug Demokratiebildung in den Unterricht und das Unterrichtsgeschehen integrieren – doch unsere Sorgen GANZ ANDERE sind: Nämlich in der Grundschule eine mittlerweile vollkommen überzogenen Dokumentationspflicht, EXTREM heterogenen Klassen mit minimaler Unterstützung und unverschämte Eltern. An der Hauptschule Gewalt, Absentismus in Massen und Resignation in der Schülerschaft. Von der psychischen Belastung will ich gar nicht erst sprechen, wenn einem schon Grundschulkinder jede Unterrichtsstunde „schmeißen“ und dich als „Arschloch“ beschimpfen. Die Realität kennen nur die Lehrkräfte. Sonst keiner.

AvL
4 Jahre zuvor
Antwortet  Jule Krause

Guter Beitrag.
Schade finde ich es, wenn es wie bei Jule Krause läuft, denn es geht auch anders, wie in der ersten Klasse meiner jüngsten Tochter, in der die Kinder sehr diszipliniert mitarbeiten und sehr viel Freude am Lernen haben.
Die Zusammensetzung ist sehr gemischt; unter anderem sind auch rumänische und polnische Kinder mit einem sehr geringen Sprachschatz zugegen, die es gelingt über die Laut- und Silbenvermittlung der Wörter an die deutsche Sprache heranzuführen. Toleranz und gegenseitige Respekt werden vermittelt.
Mathematik wird mit Montessori-Mengenbildern und selbst gewählten Kennfarben vermittelt. Wochenarbeitspläne mit der möglichen Anleitung der Eltern durch die Lehrerin ermöglichen eine individuelle Erarbeitung des Lernstoffs.
Wenn es zu laut wird, läutet die Lehrerin mit einer Klingel. Man lernt andere nicht im Satz zu unterbrechen.
Konzentriertes Arbeiten findet im Wechsel mit Bewegungsphasen statt.
Die Silben werden mit motorischer Bewegung beim Sprechen gesprochen.