Fünftklässler, die würgen, treten und schlagen, sich prügelnde Neuntklässler fernab von Berufsreife – Schule schreibt Brandbrief

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MAINZ. Mit einem Brandbrief – formal: einer Überlastungsanzeige – hat eine „Realschule plus“ im rheinland-pfälzischen Betzdorf Alarm geschlagen: Die Rede ist in dem Schreiben an die Schulaufsicht laut „Rhein-Zeitung“ von Fünftklässlern, die „würgen, treten und schlagen“, Lehrer beleidigen und dabei auf dem Bildungsstand einer dritten Klasse seien, von Neuntklässlern, die sich zu Prügeleien an anderen Schulen verabredeten, aber größtenteils das Niveau der Berufsreife nicht erreichen könnten. Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) hat die Schule bereits besucht und die Aufstockung der Sprachförderung um eine Kraft zugesagt. Eine turbulente Landtagsdebatte verhinderte das nicht.

Dutzende von Brandbriefen überlasteter Kollegien kursieren bundesweit. Foto: Annie Roi / flickr (CC BY 2.0)
Lehrer schlagen Alarm: Sie sehen ihre Schule kaum mehr in der Lage, ihren Bildungsauftrag zu erfüllen. Foto: Annie Roi / flickr (CC BY 2.0)

Die Lehrer der „Realschule plus“ – wie in Rheinland-Pfalz der Zusammenschluss von Real- und Hauptschule heißt – bezeichnen laut „Rhein-Zeitung“, der das Schreiben an die Schulbehörde vorliegt, ihre eigene Schule als  „Restschule“ für „leistungsschwache Grundschüler“, für „Schüler mit Migrationshintergrund mit wenig oder gar keinen Deutschkenntnissen“, für „Förderschüler“ und „verhaltensauffällige Schüler“ mit den „üblichen Problemen“. Das Niveau sei größtenteils so niedrig, dass Noten immer „beschönigen“, „da der Maßstab für mit ,gut‘ zu bewertende Leistungen verloren gegangen ist“.

„Zugewanderte Schüler machen permanent negative Lernerfahrungen“

Mehr als die Hälfte der 320 Schüler hat dem Bericht zufolge einen Migrationshintergrund – jeder achte Schüler spricht danach überhaupt kein Deutsch. Trotzdem seien die Wochenstunden für Deutsch als Fremdsprache von 20 (im vergangenen Schuljahr) auf aktuell 12 heruntergefahren worden. Der Vertrag für eine Lehrkraft, die den Unterricht gab, sei nicht verlängert worden. Eine der Folgen: In einer Klasse gebe es sieben rumänische Kinder, die eine geschlossene Gruppe bildeten. „Integration findet nicht statt“, so stellen die Lehrer fest. Überhaupt machten die zugewanderten Schüler „permanent negative Lernerfahrungen“, weil sie dem Unterricht nicht folgen können.

Versuche, die Eltern auf die Probleme anzusprechen, seien zum Scheitern verurteilt – sie verstünden nichts. Generell sei ein „guter Informationsaustausch zwischen Schule und Elternhaus oftmals unmöglich“. Beim Elternabend erscheine praktisch niemand. Gespräche müssen von älteren Geschwistern übersetzt werden. Wenn die Lehrer schriftliche Tadel verschickten, bleiben die unbeantwortet. Die zuständige Schulbehörde sei keine Hilfe, sondern „teilweise zu langsam oder überhaupt nicht aktiv“. Von Unterstützung könne kaum die Rede sein: Zwar habe sich die Anzahl der Förderschüler von 1999 bis heute von zwölf auf 26 mehr als verdoppelt. Aber: Heute gebe es nur noch einen Sonderpädagogen an der Schule – damals vier.

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Hubig: Das größte Problem der Schule sei ihr Gebäude

Der Landtag in Mainz debattierte nun über den Brandbrief. Die CDU-Abgeordnete Anke Beilstein warf der Landesregierung „staatlich vereitelte Bildungschancen vor“. Die Schule in Betzdorf sei nur die Spitze eines Eisbergs. Der AfD-Abgeordnete Joachim Paul hielt der Ampel-Regierung vor, die Lehrer zu „Vielfaltsdompteuren“ zu machen. Der ehemalige Lehrer forderte eine Rückkehr zum dreigliedrigen Schulsystem ohne die Realschule plus.

Bildungsministerin Hubig wies die Vorwürfe weitgehend zurück. Sie betonte: „Die 1600 Schulen in Rheinland-Pfalz sind hervorragend aufgestellt.“ Die Realschulen plus seien dabei eine wichtige Säule, die für mehr Fachkräfte sorge. Die SPD-Politikerin versprach: „Jeder der Schwierigkeiten hat, bekommt schnelle Hilfe wie in Betzdorf.“

Bereits wenige Tage nach der Überlastungsanzeige habe sie sich ein Bild vor Ort gemacht und die Sprachförderung um eine Kraft aufgestockt, weil sich dafür der Bedarf an der Schule verändert habe. Hubig betonte jedoch: «Nicht wer laut schreit bekommt mehr, sondern der, der Bedarf hat.» Das größte Problem der Schule sei allerdings ihr Gebäude, für das der Schulträger – also der Kreis – zuständig sei.

Überlastungsanzeige

Eine Überlastungsanzeige bietet Beschäftigten die Möglichkeit, auf massive Schwierigkeiten aufmerksam zu machen und sich im Rahmen etwaiger Haftungsansprüche entlasten zu können, so heißt es bei Verdi.

„Durch die Zunahme von Arbeitsbelastungen, verursacht u.a. durch Personalmangel, Defizite bei der Organisation des Personaleinsatzes oder Überstunden werden Arbeitnehmer im hohen Maße beansprucht. So dass sich mit der Zeit Fehler in der Erledigung der Arbeitsaufgaben einschleichen, die zu einer Gefährdung des Betriebs (…) und nicht zuletzt auch von sich selber führen können. Damit ArbeitnehmerInnen sich entlasten können, wurde die Überlastungsanzeige eingeführt.“

Darüber hinaus diene die Überlastungsanzeige auch dazu, den Arbeitgeber deutlich auf Gefahren hinzuweisen und zum Ergreifen von Gegenmaßnahmen anzuregen. „Eine Überlastungsanzeige ist der (schriftliche) Hinweis an den Arbeitgeber bzw. unmittelbaren Vorgesetzten mit der Kernaussage, dass die ordnungsgemäße Erfüllung der Arbeitsleistung in einer konkret zu beschreibenden Situation gefährdet ist, und Schäden zu befürchten sind.“

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