Schulen werden mit Erwartungen überfrachtet – und müssen daran scheitern. Deshalb: Lasst Lehrer endlich mal in Ruhe arbeiten!

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MÜNCHEN. Ob Antisemitismus, unzureichende Inklusion, Islamismus, mangelndes Demokratiebewusstsein, Ernährungsmängel, Bewegungsdefizite, Betreuungsprobleme von Familien, Benachteiligung von Jungen, Benachteiligung von Mädchen, Unkenntnis in ökonomischen Fragen, falsches Zähneputzen – praktisch jede Woche kommt eine neue Forderung auf den Tisch, welches gesellschaftliche Problem die Schule zusätzlich zu lösen hat. Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, schlägt angesichts der Inflation solcher Erwartungen jetzt Alarm. Und er hat Recht – eine Analyse von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.

Der gesellschaftliche Druck auf Schulen steigt zunehmend – und es ist aussichtslos, den Erwartungen zu entsprechen. Illustration: Shutterstock

2. Januar: Spitzenverbände der Wirtschaft sehen die Schulen in der Pflicht, den Nachwuchs besser auf die Digitalisierung in der Arbeitswelt vorzubereiten. „Es ist aus meiner Sicht völlig unzureichend, dass es keine ausreichende digitale Bildung in den Sekundarstufen gibt“, sagt Industriepräsident Dieter Kempf.

22. Dezember: Nach einer antisemitischen Attacke auf einen Schüler in Berlin-Marienfelde hat Berlins Antisemitismusbeauftragter Schulen dazu aufgefordert, sich gegen Antisemitismus zu positionieren. Außerdem sollten sich Schulen mit dem jüdischen Leben befassen.

5. Dezember: Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) will jede Schule in Deutschland mit einer Partnerschule in einem Entwicklungsland vernetzen. Eine solche Schulpartnerschaft könne man über digitale Kommunikation aufbauen und später durch gegenseitige Besuche beleben.

5. Dezember: Die Schule soll Schülerinnen und Schüler besser darüber aufklären, welche Rechte sie hinsichtlich sexueller Übergriffe haben – fordert die Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen. Hintergrund: Eine neue Studie hat ergeben, dass knapp die Hälfte der Jugendlichen bereits mit sexueller Gewalt (von Beleidigungen, über Antatschen bis hin zur Vergewaltigung) konfrontiert war.

3. Dezember. Mediziner fordern ein jährliches Wiederbelebungstraining für Schüler ab der siebten Klasse in Deutschland. Der Ablauf müsse in Fleisch und Blut übergehen – wie Fahrradfahren, meint der Deutsche Rat für Wiederbelebung.

Fünf Beispiele aus den vergangenen Wochen, die illustrieren, wie flott Politiker und Interessenvertreter mal eben Verantwortung an die Schule delegieren. Es ist typisch: Irgendjemand stellt einen gesellschaftlichen Missstand fest – und reflexartig wird gefordert, dass die Schule sich darum kümmern muss.

Bitte lösen, liebe Lehrer – und zwar plötzlich und nebenbei!

Ob Bildungsungerechtigkeit und, damit verbunden, sozialer Ausgleich, Integration von Flüchtlingskindern, Inklusion, Islamismusprävention, mangelndes Demokratiebewusstsein, Ernährungsmängel, Bewegungsdefizite, Betreuungsprobleme von Familien, Jungenförderung, Mädchenförderung, Unkenntnis von Schülern in ökonomischen Fragen, falsches Zähneputzen – jedes gesellschaftliche Problem in Deutschland, dessen Ursprung sich irgendwie in der Jugend verorten lässt (und das trifft auf praktisch alle zu), soll die Schulen lösen. Und zwar plötzlich und nebenbei, also ohne dass den Lehrern mitgeteilt würde, woher zusätzliche Mittel für die zusätzlichen Aufgaben kommen.

Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, schlägt angesichts der Inflation solcher Forderungen jetzt Alarm. „Die Politik hat die Angewohnheit, alles an die Schulen zu delegieren, woran sie selbst scheitert“, sagte Meidinger gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“. Reflexartig würden neue Fächer gefordert. In den Achtzigerjahren sei das etwa das Schulfach Aids gewesen, heute eben Glück, Umwelt oder Alltagskompetenz (er spielt damit auf den unlängst ergangenen Beschluss der bayerischen Landesregierung an, den Schulen Projektwochen zur „Alltagskompetenz“ zu verordnen, in denen auch Umweltthemen eine Rolle spielen sollen).

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Das ist zwar kein Wunder. Denn Schule, so Meidinger, sei heute die letzte gesellschaftliche Instanz, die alle Schichten erreiche, die letzte Chance, um Werte und Grundlagen des Zusammenlebens „in Köpfen und Herzen zu verankern“. Die Folge ist ihm zufolge aber fatal: Schule werde zunehmend als „Dienstleister“ gesehen. Und weil die Erwartungen immer größer würden, könne Schule nur scheitern. Das wirke sich auf Stimmung und Arbeitsmoral in der Lehrerschaft aus. Anmerken muss man allerdings: Die genannten Beispiele sind allesamt relevante Themen. Wenn sich aber die Schulen darum kümmern sollen, dann müssen ihnen dafür auch Ressourcen bereitgestellt werden.

Forderungen bitte dahin, wohin sie gehören: an die Politik

Im Umgang des Bundes mit den Ländern und der Länder mit den Kommunen gilt das Konnexitätsprinzip. Das bedeutet kurz gefasst: Wer bestellt – bezahlt. Übertragen wir das doch mal im aktuellen Geschehen auf die Schulen. Wenn der Entwicklungsminister (ums mal an einem der oben genannten Beispiele festzumachen) Schulen ernsthaft dazu bringen möchte, Partnerschaften mit Schulen in Entwicklungsländern zu pflegen, dann sollte er für die Schaffung von zusätzlichen Lehrer- oder Sozialarbeiterstellen eintreten oder zumindest mit Mitteln aus seinem Etat Experten bereitstellen, die das Thema beispielsweise in Form von Projektunterricht in die Schulen tragen und als Ansprechpartner für Schüler und Lehrer bereitstehen und bei der Organisation helfen.

Weil aber Herr Müller die Ressourcenfrage ausklammert, wirkt das Ganze wie eine billige PR-Nummer. Schlimmer:  Der Entwicklungsminister missbraucht die Schulen für ein paar knallige Schlagzeilen. Denn die Initiative unterstellt implizit, dass Lehrkräfte unterbeschäftigt sind und die zusätzliche Aufgabe mal eben wuppen können. Man möchte fragen: Was sollen Deutschlands Super-Lehrer denn noch mal so eben nebenbei erledigen – die Kriege in der Welt befrieden? Das Verbrechen ausmerzen? Alle Krankheiten abschaffen? Dann müsste die Kultusministerkonferenz aber mal sagen, worum sich Lehrer an anderer Stelle dann nicht mehr zu kümmern brauchen (Lesen? Schreiben? Rechnen?).

Meidinger hat Recht. Die Schule wird mit Erwartungen überfrachtet – und kann daran nur scheitern. Aus dieser Erkenntnis sollten wir einen guten Vorsatz für 2020 ableiten: Wir lassen die Schulen in Ruhe das abarbeiten, wofür sie personell und materiell ausgestattet sind. Und weitergehende Forderungen richten wir dorthin, wohin sie gehören: an die Politik, genauer: die Kultusministerien, die für die personelle Ausstattung der Schulen verantwortlich sind.

Schulen brauchen mehr Unterstützung – meint der Missbrauchsbeauftragte

Der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, hat ein gutes Beispiel dafür gegeben, wie das aussehen kann. Noch im vergangenen Juli kritisierte er, dass in vielen deutschen Schulen zu wenig getan werde, um Opfern von Übergriffen zu helfen. Es mangele an Konzepten. Im September dann erneuerte er seine Kritik – forderte aber nun die Bundesländer auf, deutlich mehr in den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch zu investieren. Kitas und Schulen bräuchten dringend mehr Unterstützung für ihr Engagement gegen sexuelle Gewalt. „Von alleine und zum Minimaltarif werden maximaler Schutz von Jungen und Mädchen und optimale Hilfe nicht erreicht werden“, sagte er.

Damit wird er seinem berechtigten Anliegen – und der Situation der Schulen! – deutlich gerechter.

Agentur für Bildungsjournalismus

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Wann, wenn nicht jetzt? Gebt Lehrern endlich die Unterstützung, die sie brauchen!

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Katinka26
4 Jahre zuvor

WAS sollen Lehrer das im Berufsalltag noch alles so machen und WANN sollen Lehrer eigentlich ihrem Kerngeschäft, dem Unteren nachgehen, sowie dessen Vorbereitung und den Korrekturen? Das ist, was ich mich mittlerweile täglich frage…

Katinka26
4 Jahre zuvor

Der Artikel trifft den Nagel auf den Kopf…

Line
4 Jahre zuvor

…und dies alles unter den Bedingungen einer in den vergangenen Jahren stark veränderten „Klientel“!

Nicht die Kernaufgaben (Unterricht nämlich), sondern das anwachsende Volumen an „Nebentätigkeiten“ (einschließlich all der immer mehr Raum greifenden sozialen und „psychotherapeutischen“ Leistungen) brennt die Lehrer aus (….und macht den Beruf für den Nachwuchs immer weniger interessant)

Pälzer
4 Jahre zuvor
Antwortet  Line

Zitat aus einem Gespräch im Laden : „So, Sie sind Lehrer … das würd‘ ich nicht machen wollen …“