„Zu voll, zu laut, zu hektisch“: Kostenloses Schulessen bleibt ein Aufreger

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BERLIN. Jedes Kind soll mindestens eine warme Mahlzeit täglich haben – kostenlos in der Schule. Was als großes Sozialprojekt in Berlin gedacht war, bereitet Schulen und Eltern weiter Kopfschmerzen. Die GEW bringt die Kritik so auf den Punkt: „Zu voll, zu laut, zu hektisch“.

Offenbar muss das Schulessen mancherorts mit Plastikbesteck gegessen werden – nachhaltig geht anders. (Symbolbild) Foto: pxhere / CC0

Lauwarmes Mittagessen aus Asia-Pappboxen und Plastikbesteck dazu. Das ist seit Monaten Alltag für Schüler der fünften und sechsten Klassen des Eckener-Gymnasiums in Berlin-Mariendorf. «Gegessen wird in der Cafeteria im Foyer der Schule, immerhin können die Kinder sitzen», erzählt eine Mutter. Das Essen werde immer in die Boxen gestopft. Für die Kinder unappetitlich. Und Müllberge würden obendrein verursacht. Eine Mensa hat die Schule nicht, und Besserung sei trotz verschiedener Beschwerden von Eltern nicht in Sicht.

Auch wenn das Negativbeispiel womöglich nicht repräsentativ ist, so zeigt es doch: Fünf Monate nach dem Start des kostenlosen Mittagessens für bis zu 200.000 Berliner Grundschüler läuft an vielen Schulen bei weitem nicht alles rund.

Schulen hatten zu wenig Zeit für die Vorbereitung

Rot-Rot-Grün – und hier vor allem die SPD – feierten das mit dem neuen Schuljahr einführte Angebot als soziale Errungenschaft und weiteren Schritt auf dem Weg zur kostenlosen Bildung von der Kita bis zur Uni. Was sie nicht bedacht hatten: Schulen hatten oft viel zu wenig Zeit, die Umsetzung richtig vorzubereiten.

Und so sind dort bis heute Ideenreichtum und Improvisationstalent gefragt, um das Versprechen der Politik auf eine warme Mahlzeit für jeden Erst- bis Sechstklässler, der das wünscht, auch einzulösen. Denn nun nehmen 20 bis 50 Prozent mehr Schüler am Mittag teil als früher, wie die Bezirke berichten. Das sei schon räumlich eine Herausforderung.

«An einigen Schulen waren Umbauarbeiten nötig, zum Beispiel für zusätzliche Essensausgabestellen oder Stromanschlüsse», schildert Mittes Baustadtrat Carsten Spallek (CDU). Einige Bauprojekte seien noch im Gang. «Hinzu kam die Beschaffung zusätzlichen Inventars, von Tischen, Stühlen, Geschirr, Besteck oder Geschirrspülern.»

Schüler essen im Schichtbetrieb – weil Platz fehlt

In Spandau, Pankow, Steglitz-Zehlendorf oder Reinickendorf wurden Unterrichts-, Hort- und Projekträume oder zuvor anderweitig genutzte Zimmer zu Essensräumen, Ausgabestellen oder Spülküchen umgewidmet. Manche Schulen haben keine Mensa, hier sind im Zuge eines vom Land finanzierten «Notprogramms» An- oder Neubauten geplant, aber auch die Anmietung zusätzlicher Räumlichkeiten in Schulnähe. An der Astrid- Lindgren-Grundschule in Spandau essen Schüler vorerst in einem Zelt.

Was etlichen Eltern neben solchen Provisorien zusätzlich Sorgen macht, ist der Schichtbetrieb beim Mittag. Eine Hetzerei nennen das manche Eltern; Wilfried Nünthel (CDU), zuständiger Bezirksstadtrat in Lichtenberg, spricht von «Rhythmisierung der Essensausgabe». Weil Platz fehlt, müssen die Klassen in einem bestimmten Zeitfenster essen gehen und dann mehr oder weniger schnell Platz machen für den nächsten Durchgang.

Bleibt da genug Zeit zum Abholen und Verspeisen der Mahlzeit? Werden die Kinder satt? «Die Zeit, die einem Kind zur Verfügung steht, hat sich nicht verändert, lediglich die Dauer der Essenausgabe», erläutert Neuköllns Bildungsstadträtin Karin Korte (SPD). In Pankow steht nach Einschätzung von Bezirksstadtrat Torsten Kühne dem «überwiegenden Teil der Schüler ein angemessenes Zeitfenster zur Verfügung» – aber nicht immer die 60 Minuten, die die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt. An der Essensqualität und -menge habe sich im Übrigen nichts geändert, versichern die Bezirke.

Das Berliner Bündnis Qualität im Ganztag, dem unter anderem die Bildungsgewerkschaft GEW und der Paritätische Wohlfahrtsverband angehören, zeichnet ein etwas anderes Bild. «Zu voll, zu laut, zu hektisch», lautet sein Urteil zum Ablauf des kostenlosen Schulessens.

Konflikte und Aggressivität unter den Schülern nehmen zu

Vielfach entsprächen allein schon die Räume nicht «den Ansprüchen einer pädagogisch wertvollen Essenssituation», fand das Bündnis auf Basis einer – nicht repräsentativen – Umfrage unter Lehrern und Eltern mit 532 Teilnehmern heraus. Dadurch nähmen Konflikte und Aggressivität zu. Drei Viertel der Befragten bezifferten die Essenszeiten auf 5 bis 25 Minuten, was viel zu wenig wäre. «Es muss ganz schnell etwas passieren, der Ganztag braucht mehr Platz und mehr Personal», fordert GEW-Landeschefin Doreen Siebernik.

Die Caterer haben eigenen Angaben zufolge dagegen keine Probleme mit der Umsetzung. Das halbe Jahr habe zur Vorbereitung gereicht. «Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht», sagt Rolf Hoppe, Vorsitzender des Verbands der Berliner und Brandenburger Schulcaterer. Die Mitgliedsunternehmen seien schließlich wirtschaftlich agierende Betriebe. Statt der bisher 120.000 Schulessen würden nun täglich 170.000 Essen vorbereitet, so Hoppe. Der Verband vertritt etwa ein Dutzend Unternehmen aus der Branche.

«Die Umsetzung des kostenlosen Mittagessens war für viele Schulen innerhalb der kurzen Zeit nicht einfach zu bewerkstelligen», räumt Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) ein. «Aber durch das besondere Engagement des gesamten pädagogischen Personals vor Ort ist es möglich geworden. Dafür bin ich Erzieherinnen und Erziehern sowie Lehrkräften außerordentlich dankbar.» Von Anja Sokolow und Stefan Kruse, dpa

Die Ergebnisse der Umfrage

Zum Schuljahresbeginn wurde in Berlin das kostenfreie Mittagessen für alle Schülerinnen und Schüler der Klassen eins bis sechs eingeführt. Vier Monate nach der Einführung wollte das Bündnis „Qualität im Ganztag“ die stadtweite Wirklichkeit zur Umsetzung des kostenfreien Mittagessens ergründen. Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher, Schulleitungen und Eltern waren aufgerufen, ihre Sicht der neuen Essenssituation darzustellen. An der – nicht repräsentativen – Umfrage haben sich insgesamt 532 Menschen beteiligt. In einer Pressemitteilung dazu heißt es:

„Die Auswertung der Umfrage ergab, dass die Zahl der Essensteilnehmer*innen deutlich angestiegen ist. Die ermittelte Steigerungsrate liegt bei 58 Prozent. Schulleitungen und Koordinierende Erzieher*innen geben die Steigerungen mit insgesamt 42 Prozent an. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie rechnete zu Beginn des Schuljahres mit einer Steigerungsrate von 11 Prozent. Die erhebliche Fehleinschätzung ist gleich an mehreren Stellen spürbar.

  • Fast 70 Prozent der Befragten stellen fest, dass die bereitgestellten Räume nicht den Ansprüchen einer pädagogisch wertvollen Essensituation entsprechen. Das hat eine Zunahme von Konflikten, Aggressivität, Anspannung bei den Kindern und eine Überlastung der Pädagog*innen zur Folge.
  • 75 Prozent der Befragten geben an, dass ihre Betreuungs- und Aufsichtszeiten ausgeweitet wurden. Hiervon sind Lehrkräfte und sozialpädagogische Fachkräfte betroffen. Die Ausweitung der Aufsichtszeiten geschieht jedoch größtenteils auf Kosten der Personalkontingente in der ergänzenden Förderung und Betreuung.
  • In der Folge spiegelt sich das auch in den Essenszeiten wider. 77 Prozent der Befragten geben eine Essenszeit für die Schüler*innen von 5 – 25 Minuten an, obwohl teilweise Hofpausen verkürzt wurden und das Essen verstärkt im Unterricht angeboten wird.

Elvira Kriebel vom Paritätischen Wohlfahrtsverband kommentiert: „Die Ganztagsschule ist ein Lern- und Lebensort an dem die Kinder die meiste Zeit ihres Alltags verbringen. Dafür muss es Räume geben, die den vielfältigen Ansprüchen der kindlichen Entwicklung gerecht werden. Ein Raum kann nicht gleichzeitig NAWI Raum, Mensa und Entspannungsraum zugleich sein. Das ist absurd“.

Doreen Siebernik, Vorsitzende der Berliner GEW meint: „Die Kolleg*innen müssen nach der Einführung des beitragsfreien Mittagessens noch mehr leisten als bisher. Zusätzliches Personal gibt es aber nicht. Die Arbeitsbedingungen sind damit noch schlechter geworden – das ist skandalös. Unsere Umfrage unter den Beschäftigten bestätigt: Es muss ganz schnell etwas passieren, der Ganztag braucht mehr Platz und mehr Personal!“

Die vollständige Auswertung der Umfrage lässt sich hier herunterladen.

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

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6 Kommentare
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xxx
4 Jahre zuvor

geliefert wie bestellt.

Wie so oft wird erst eingeführt und danach über die Umsetzung vor Ort nachgedacht. Bei G8 und Inklusion war das nicht anders.

AvL
4 Jahre zuvor

Selber in der schuleigenen Küche mit der Unterstützung von Schüler aus Hauswirtschaftskursen könnte man einen Anfang machen, schuleigenes Essen kochen und zu servieren.

xxx
4 Jahre zuvor
Antwortet  AvL

Das wird lebensmittelrechtlich nicht erlaubt und schulorganisatorisch (personell, materiell, räumlich, technisch) nicht leistbar sein.

Pälzer
4 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Wie weit ist man eigentlich mit den Plänen, das Kochen in Privathaushalten aus hygienischen Gründen zu verbieten? 😉

dickebank
4 Jahre zuvor
Antwortet  Pälzer

Das Risiko bei nicht eingehaltenen Hygenievorschriften in Großküchen ist halt größer als beim durchschnittlichen 4-Personen-Haushalt.

Carsten60
2 Jahre zuvor

Was spräche denn dagegen, in diesem Punkt mal (im Grundsatz, nicht in den einzelnen Speisen) die Sitten aus Japan zu übernehmen:
https://www.tagesschau.de/ausland/asien/japan-schulessen-101.html