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Immer mehr Länder streichen die 1,50-Meter-Abstandsregel in Grundschulen – Spahn: Sichere wissenschaftliche Grundlage fehlt

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BERLIN. Bis gestern hatten vier Bundesländer angekündigt, sich von der Abstandsregel in Grundschulen zu verabschieden, um wieder weitgehend in den Regelbetrieb zu kommen – heute ist ein fünftes hinzugekommen: Baden-Württenberg wird bis Ende Juni die Kitas und Grundschulen öffnen, ohne dass dort der bislang geltende Abstand von 1,50 Metern eingehalten werden muss. Der Bundesgesundheitsminister stellt allerdings klar: Eine sichere wissenschaftliche Grundlage dafür gibt es bislang nicht. Auch der Deutsche Lehrerverband, der Philologenverband und der Bundeselternrat zeigen sich skeptisch.

Die Abstandsregel in Schulen ist keine deutsche Erfindung – auf dem Foto tragen Grundschüler in der chinesischen Stadt Hangzhou selbstgebastelte Hüte, die sie an den notwendigen Abstand erinnern sollen. Screenshot aus einem Video von „The Paper 澎湃新闻“ – hier anzusehen.

Kinder spielen als Überträger des Corona-Virus nur eine untergeordnete Rolle – meinen jedenfalls Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) unter Verweis auf eine noch unveröffentlichte Studie baden-württembergischer Kinderkliniken (News4teachers berichtete ausführlich darüber – hier geht’s hin). Die beiden Politiker kündigten gestern eine vollständige Öffnung der Kitas und Grundschulen bis Ende Juni an – wie das konkret vonstatten gehen soll, dazu müssten jetzt Konzepte erarbeitet werden. Ein wesentliches Detail wurde allerdings schon heute bekannt: Ein Regelbetrieb könne nur ohne Abstandsgebote funktionieren, stellte eine Sprecherin des Kultusministeriums klar. Die bislang geltende 1,50-Meter-Regel, die Infektionen verhindern soll, werde also aufgehoben.

Klassen sollen untereinander bleiben – auch in den Pausen

Stattdessen schwenkt Baden-Württemberg auf die Linie ein, die der Freistaat Sachsen bereits seit Anfang vergangener Woche in den Grundschulen verfolgt: Bei Kindern bis zehn Jahren wird auf jegliche Abstandsgebote verzichtet. «Entscheidend wird jedoch sein, dass die jeweiligen Gruppen oder Klassen untereinander bleiben und sich nicht vermischen, auch nicht in den Pausen», so erklärte dazu die Sprecherin des Kultusministeriums in Stuttgart.   Dazu solle mit den Kommunen und Trägern zügig ein Rechtsrahmen erarbeitet werden. Auch Thüringen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein hatten zuvor angekündigt, in den nächsten Wochen das sächsische Modell einzuführen – und Kitas und Grundschulen wieder weitgehend zu öffnen.

In Brandenburgs Schulen hingegen, so machte Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) heute deutlich, werde es frühestens zu Beginn des neuen Schuljahres Anfang August wieder einen Regelbetrieb geben. «Wir werden alles dafür tun, dass dann alle Kinder wieder regelmäßig in die Schule gehen können», sagte er am Donnerstagmorgen im Inforadio des RBB. Wenn das derzeit noch nicht möglich sei, liege es an den einzuhaltenden Abständen sowie an der Zahl der Klassenräume und der zur Verfügung stehenden Lehrer, erläuterte Woidke. Es müssten zuvor auch noch Hygienekonzepte umgesetzt und Gespräche mit den Schulträgern geführt werden. «Wir sind da auf einem sehr, sehr guten Weg.» Selbst im Regelbetrieb werde aber noch nicht alles wieder komplett normal sein können, betonte der Regierungschef.

„Eine Studienlage, die keine keine echten Schlüsse zulässt“

Woidke bekräftigte noch einmal seinen vorsichtigen Kurs in der Corona-Krise. So habe das Land bei den Eindämmungsverordnungen ganz bewusst einen Zwei-Wochen-Rhythmus gewählt, um die Menschen sich daran gewöhnen zu lassen und der Verwaltung genügend Zeit zur Umsetzung zu geben. «Deshalb sind wir nicht so sprunghaft vorgegangen wie andere Bundesländer.»

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Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, hatten alle Bundesländer Mitte März Schulen und Kitas geschlossen. Um die Wiederöffnung allerdings wird heftig gestritten. Einige Bundesländer wie Bayern oder eben Brandenburg bleiben vorsichtig. Andere planen inzwischen eine schnelle Rückkehr zum weitgehenden Regelbetrieb – obwohl es nach wie vor keine gesicherten Erkenntnisse über die Ansteckungsgefahr gibt, die von Kindern ausgeht, wie der Bundesgesundheitsminister aktuell unterstreicht.
«Die Wahrheit ist, dass wir aktuell eine Studienlage haben, die keine echten Schlüsse zulässt, inwieweit Kinder zur Verbreitung des Virus beitragen», sagte Jens Spahn (CDU) der «Augsburger Allgemeinen». «Da gibt es sehr unterschiedliche Bewertungen – und das macht es besonders schwer, politische Entscheidungen zu treffen.» Spahn wies darauf hin, dass es fast täglich neue wissenschaftliche Erkenntnisse über das Virus gebe. Das zwinge auch die Politik, Einschätzungen zu verändern und Maßnahmen anzupassen. «Besonders schwierig sind die Bereiche Kindergarten und Schule», sagte er.

„Verzicht auf Abstandsregeln kommt nur zu unvorbereitet“

Auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, warnte davor, den Schulbetrieb bereits jetzt wieder voll aufzunehmen. «Die Ankündigung in Thüringen und Sachsen, an den Schulen bald auf Abstandsregeln zu verzichten und wieder alle Schüler in den Präsenzunterricht zu holen, kommt mir zu schnell und zu unvorbereitet», sagte Meidinger gestern der «Passauer Neuen Presse» (Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg kamen am gestrigen Nachmittag erst hinzu). «Das setzt nämlich ein völlig neues Hygiene- und Gesundheitsschutzkonzept voraus, das man nicht so einfach aus dem Hut zaubern kann.»

Unklare Datenlage: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Foto: Bundesgesundheitsministerium

Wenn man auf Abstandsregeln verzichten und alle Schüler in den Präsenzunterricht zurückholen wolle, würden Atemschutzmasken im Unterricht, umfassende Testungen, kleine Lerngruppen während des gesamten Schultags und regelmäßige Lüftungen notwendig. «Das derzeit geltende Hygienekonzept der Kultusministerkonferenz müsste komplett überarbeitet werden», so Meidinger. Eine wissenschaftliche Grundlage dafür gibt es, siehe oben, allerdings noch nicht.

Philologen: Lehrer und Schüler müssen getestet werden

Auch Bundeselternrat und Deutscher Philologenverband zeigen sich skeptisch. «Vor jedem nächsten Schritt und bevor wieder mehr Unterricht stattfinden kann, müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden», sagte die Verbandsvorsitzende Susanne Lin-Klitzing. Dazu gehörten auch verfügbare Corona-Tests für Lehrer und Schüler, wenn die 1,50-Abstandsregel in den Klassenzimmern nicht mehr eingehalten werden kann. Sie warnte vor «übereilten Schritten bei weiteren Schulöffnungen», wenn der Hygiene- und Gesundheitsschutz nicht gewährleistet werden könne.

Der Bundeselternrat sieht aufgrund der Platzverhältnisse mittelfristig keine Möglichkeit für eine Rückkehr von allen Schülern in voller Klassenstärke, wie der Bundesvorsitzende Stephan Wassmuth am Donnerstag sagte. Er sprach sich im Gegensatz zu den Philologen jedoch gegen regelmäßige Tests von Schülern aus. Diese böten nur eine Scheinsicherheit, griffen zu stark in die Persönlichkeitsrechte der Schülerinnen und Schüler ein und machten diese «erneut zu Versuchskaninchen». News4teachers / mit Material der dpa

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

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