In der Krise blühen die Verschwörungstheorien – hilft Bildung dagegen? Das Problem ist wohl leider komplexer

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BERLIN. Verschwörungstheorien haben in Krisenzeiten immer wieder aufs Neue Hochkonjunktur – das zeigt die gegenwärtige Verbreitung solch konspirativer Fehlinformationen eindrücklich. Was geht da vor im Menschen, warum reagiert er so? Ein schnelle Antwort lautet meist: Es liegt an fehlender Bildung. Doch das Problem ist komplexer.

Schützt eine Kappe aus Aluminium, ein sogenannter Alu-Hut, vor gefährlichen Strahlen? Es gibt Menschen, die das glauben. Foto: Shutterstock

Eines der Youtube-Videos, das in Deutschland in der Corona-Krise am bekanntesten geworden ist, dauert 30 Minuten und 29 Sekunden. Es trägt den Titel «Gates kapert Deutschland» und handelt davon, wie der US-Multimilliardär Bill Gates angeblich, nun ja, Deutschland kapert. Genauer gesagt: Der einst nach Antisemitismusvorwürfen vom RBB entlassene Journalist Ken Jebsen erklärt in dem Video, Gates habe die Weltgesundheitsorganisation «gekauft», bestimme dadurch maßgeblich die Gesundheitsmaßnahmen weltweit und denke darüber nach, Menschen im Rahmen von Impfungen gezielt zu sterilisieren. Faktenchecker haben viele von den Aussagen in Jebsens Beitrag, den bislang mehr als drei Millionen Menschen angeklickt haben, bereits komplett oder teilweise widerlegt.

Corona-Fake News geistern durchs Internet

Corona-Fehlinformationen sind in diesen Tagen ein globales Problem. Laut einer Studie eines Forscherteams um Heidi Oi-Yee Li von der kanadischen University of Ottawa enthalten mehr als Viertel der meistgeschauten englischsprachigen Covid-19-Videos auf Youtube irreführende Inhalte. Sie wurden demnach mehr als 62 Millionen Mal angeklickt, berichten die Forscher nach der Analyse von insgesamt 69 Videos im Fachmagazin «BMJ Global Health».

Krisen sind ein besonders guter Nährboden für Verschwörungstheorien, sagt Bernd Harder von der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP). Menschen suchten hinter großen Ereignissen gerne große Ursachen: «Selbiges erleben wir jetzt, wo ein winziges, unsichtbares und im wahrsten Sinne des Wortes „unfassbares“ Virus die Welt in Atem hält», erklärt er. «Das kann man sich kaum vorstellen, also muss etwas Greifbares dahinterstecken – etwa eine höhere Macht, die dieses Virus im Labor gezüchtet und losgelassen hat, um damit ganz bestimmte Ziele zu erreichen.»

Großartige Ansage im #ICE an all die Anhänger*innen von #Verschwoerungstheorien in Zeiten des #coronavirus 👇🏽👍🏼 Genau zuhören👂🏻#Bahn #DeutscheBahn pic.twitter.com/CRqnLbxZBh

— Sabine Leidig (@SabineLeidig) May 15, 2020

Menschen fühlten sich in Zeiten tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche mitunter unsicher und machtlos, sagt die Sozialpsychologin Pia Lamberty von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. «Verschwörungserzählungen sprechen genau diese Gefühle an: Die Verschwörungserzählung strukturiert die Welt. Es gibt die bösen Verschwörer und die, die scheinbar die Wahrheit sehen; die Welt wird begreifbarer.»

Bei genauerem Hinsehen ließen sich Verschwörungstheoretiker recht eindeutig von Menschen unterscheiden, die bestimmte Sachverhalte – etwa die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung – kritisch hinterfragten, sagt Harder: «Wenn im Grunde gar nicht mehr gefragt wird, sondern bereits feststeht, dass wir belogen werden, dass ein gigantisches Komplott umgesetzt wird, dass Bill Gates uns alle chippen will, dass eine Merkel-Diktatur errichtet werden soll, dass ein Impfzwang eingeführt werden soll – dann ist es keine Kritik mehr, sondern eine Verschwörungstheorie.»

Menschen mit starker Verschwörungsmentalität machten in der Glaubwürdigkeitsbeurteilung keinen Unterschied zwischen Experten und Laien, ergänzt Lamberty. Außerdem tendierten sie dazu, Erzählungen dann Glauben zu schenken, wenn sie von einer kleinen Gruppe vorgetragen würden – und nicht von der Mehrheit.

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Hinzu kommt laut Harder, dass das Expertenwissen derzeit oft als «uneindeutig und widersprüchlich» wahrgenommen werde. «Dass es in so einer komplexen neuen Situation mit zahllosen Einzelinteressen und Abwägungen keine eindeutigen politischen und medizinischen Antworten geben kann, ist für viele schwer auszuhalten, weil alle natürlich wissen möchten, wo es langgeht.» Verschwörungstheoretiker seien da mit ihren falschen, aber oft eindeutigen und verständlichen Behauptungen klar im Vorteil.

Es gibt Zusammenhänge zur Bildung – aber nur schwache

Ist fehlende Bildung der Grund, warum sich jemand in krude Theorien verstrickt? „Es wurde wissenschaftlich untersucht, inwiefern Alter, Geschlecht, Einkommen und Bildung eine Rolle spielen bei der Neigung, an so etwas zu glauben“, so berichtet die Ökonomin und Bürgerrechtlerin Katharina Nocun, ehemalige Geschäftsführerin der Piratenpartei, im Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk. „Es gibt einige Zusammenhänge: Männer glauben eher dran als Frauen, und ein niedriger Bildungsgrad geht eher mit dem Glauben an Verschwörung einher.

Aber diese Zusammenhänge seien nicht wirklich stark. Nocun: Mehr Bildung kann das Problem eventuellen in einigen Fällen lösen, aber insgesamt ist es nicht das Patentrezept – so einfach können wir es uns leider nicht machen. Wir sehen auch, dass sehr gebildete Menschen, teilweise Professoren diesem Sog erliegen und jetzt merkwürdige Dinge von sich geben. Ich würde eher sagen, dass dieses Gefühl von Kontrollverlust der wichtigste Faktor ist.“

In mehreren deutschen Städten trafen sich in den vergangenen Tagen erneut Menschen zu sogenannten Hygiene-Demonstrationen. Diese Gruppen seien sehr heterogen, betont der Politologe Tom Mannewitz von der TU Chemnitz. Verschwörungstheoretiker seien zwar darunter, aber auch Rechtspopulisten, Antidemokraten – und Menschen der bürgerlichen Mitte. «Der kleinste gemeinsame Nenner ist wohl, dass sie gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung sind.»

Mannewitz betont, dass die Gruppe der Demonstranten zwar momentan sehr laut, aber auch verhältnismäßig klein sei. Er erwarte zwar, dass der Zuspruch zu den Regierungsmaßnahmen, der momentan sehr hoch sei, weiter abnehmen werde, sagt Mannewitz. «Aber momentan sind wir jenseits davon, dass wir sagen könnten, hier wäre eine massive gesellschaftliche Spaltung.» Von Hannah Wagner, dpa

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

„Über meinen Körper bestimme ich“: Impfgegner machen gegen mögliche Corona-Impfpflicht schon jetzt mobil – vorneweg: die AfD

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10 Kommentare
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AvL
3 Jahre zuvor

Fragen sollte sich doch jeder einmal selbst, ob man nicht gar zu schnell selbst auf Sensationsberichte positiv reagiert, wenn diese der eigenen Gefühlslage entsprechen und scheinbar die eigenen Argumentationsweise stützen.
Man wird derartige Fälle im Auge behalten und sehr genau auf mögliche andere Einflussfaktoren bei dieser sehr kleinen Fallzahl achten !
Denn je kleiner die Fallzahl ist, desto größer der Einfluss von anderen Einzelfaktoren auf das Ergebnis.
Und Anfeindungen und Angriffe im persönlichen Bereich bewirken genau das Gegenteil von einer sachlichen Auseinandersetzung.

AvL
3 Jahre zuvor
Antwortet  AvL

Es gelingt allein mit einer wissenschaftlichen Aufklärung wieder Vertrauen in der Bevölkerung zu gewinnen, und es ist hilfreich, mit Hilfe von validen Statistiken Zusammenhänge zu erklären, Ursachenzusammenhänge zu erklären und immer wieder auch neue Sachverhalte zu erklären.
Diese offen aufklärende Vorgehensweise bildet den Gegenpol zu den Verschwörungstheorien der Gegener unseres demokratischen Staatswesens, die versuchen, Einfluss auf Teile der stark verunsicherten Bevölkerung zu gewinnen.
Unter der https:www.aerzteblatt.de/archiv/213617/Exit-Strategie-Debatte-um-die-Schrittfolge des Heft 16/2020 steht ein Übersichtsartikel zur Exitdiskussion und die beteiligte Gremien.

Peter Becker
3 Jahre zuvor
Antwortet  AvL

Leider ist Aufklärung allein kein Allheilmittel. Es gibt einfach auch Lowbrainer, die nicht verstehen KÖNNEN. Mit denen müssen wir leben. Wir können aber und nur die Zwischengruppe überzeugen, die nur verängstigt ist, aber noch denken kann.

AvL
3 Jahre zuvor
Antwortet  Peter Becker

Vier medizinische Fachgesellscfhaften haben heute eine gemeinsame Erklärung zur Öffnung der Kitas herausgegeben, weil an Hand der erdrückenden Daten eine weitere Schließung dieser Einrichtungen sachlich nicht mehr gerechtfertigt ist.
Es existiert keine wissenschaftliche Evidenz für den Ausschluss von Kindern unter 10 Jahren aus dem öffentlichen Leben.
Wer derartige Eingriffe in die Grundrechte dieser Minderjährigen, der muss sich rechtfertigen für diese Vorgehensweise.
Die Befürworter der Kita- und Grundschulöffnungen haben die Belege auch hier geliefert. Nicht wir müssen uns rechtfertigen.
Es sind die politisch Verantwortlichen, die sich rechtfertigen müssen.
Das Grundgesetz setzt hohe Hürden für die Beschneidung der Grundrechte.

dickebank
3 Jahre zuvor
Antwortet  AvL

… und in China ist ein Sack Reis geplatzt.

AvL
3 Jahre zuvor
Antwortet  Peter Becker

Und sie brauchen sich schon gar nicht mehr hier über die Beschneidung von Grundrechten erregen, oder sich über Benachteiligungen im Bildungssystems beschweren und sich schon gar nicht mehr über eine Ausgrenzung von Minderheiten echauffieren.
Alte abgedroschene Phrasen ohne Inhalt gehören wohl zum Standardrepertoire.

Georg
3 Jahre zuvor

Im Januar waren alle Warnungen vor Corona Verschwörungstheorien.
Im Mai sind alle Verharmlosungen von Corona Verschwörungstheorien.

Man könnte auch glatt sagen, dass diversen gesellschaftlichen Gruppen die Feindbilder ausgegangen und die jetzt auf Entzug sind.

Petra
3 Jahre zuvor

„Verschwörungstheorie“ scheint neuerdings das probateste Schimpfwort für alles zu sein, was nicht mit der eigenen Meinung übereinstimmt.

Bernd
3 Jahre zuvor
Antwortet  Petra

Klar – darum geht’s ja bei einer Verschwörung. Dass also Verschwörungstheorien Verschwörungstheorien genannt werden, ist der ultimative Beweis für die Existenz der Verschwörung.

Birgit Becker
3 Jahre zuvor

Wenn ich etwas als Verschwörungtheorie klassifiziere, muss ich mich selber damit nicht weiter kritisch auseinandersetzen. Das ist ungeheuer praktisch. Ich bitte zu beachten, wer diese Strategie in unserer Gesellschaft verfolgt. Mir fehlen derzeit kritische sachorientierte Dialoge, wobei ich auch weiß, dass man mit Fundamentalisten nicht diskutieren kann (und auch nicht sollte).