Sachsen setzt auf milden Corona-Verlauf in den Sommermonaten – und öffnet Kitas und Grundschulen jetzt schon weit für alle

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DRESDEN. Sachsen macht auf. Nach rund zwei Monaten zu Hause sollen ab dem kommenden Montag alle Mädchen und Jungen an die Grundschulen und in die Kitas gehen können. Auch Kinder an weiterführenden Schulen sollen zumindest teilweise wieder unterrichtet werden. Der Freistaat geht dabei weiter als alle anderen Bundesländer. „Wir können von den Vorgaben, Abstand zu halten und Kleingruppen zu bilden, abrücken, wenn wir die Klassen und Gruppen strikt trennen“, meint Kultusminister Piwarz. Dabei spielt auch das Kalkül eine Rolle, dass in den Sommermonaten das Infektionsgeschehen abflaut. Sicher ist das keineswegs.

«Jetzt ist also die Zeit, einen solchen Schritt zu gehen‎»: Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU) macht Druck bei den Schul- und Kitaöffnungen. Illustration: Shutterstock

Sachsens Lehrer sehen der Wiedereröffnung der Grundschulen am nächsten Montag mit gemischten Gefühlen entgegen. Die Reaktionen an den Schulen reichten von „absoluter Fassungslosigkeit bis hin zur Freude über die Rückkehr“, sagt der Vorsitzende des Sächsischen Lehrerverbandes (SLV), Jens Weichelt. „Insgesamt herrscht aber eine große Verunsicherung.“ Der Verband warnt vor einer Mehrbelastung für die Lehrer. Zudem dürfte es gerade an Grundschulen schwer werden, das Konzept der strikten Trennung zwischen den Klassen umzusetzen.

GEW fordert Lehrer und Erzieher zur Protestaktion auf

Die GEW wird deutlicher. „Wer mit einer Vorlauffrist von einer Woche ankündigt, dass Kindertageseinrichtungen und Schulen wieder vollständig geöffnet werden, hat entweder keine Ahnung von der Situation vor Ort oder ignoriert sie mutwillig zugunsten eines Siegertreppchens beim Öffnungswettlauf. Bildungseinrichtungen müssen sich Kinder zuwenden können, Verlässlichkeit für die Eltern bieten und den Schutz aller Beteiligten sichern, vor allem auch der Beschäftigten. Wer eines davon aufgibt, sorgt dafür, dass das Gesamtsystem nicht mehr funktionieren kann“, meint Landesvorsitzende Uschi Kruse.

Die Gewerkschaft hat eine Aktion gestartet – und Lehrkräfte sowie Erzieherinnen und Erzieher im Freistaat aufgefordert, Kultusminister Christian Piwarz (CDU) zu schreiben oder eine Sprachnachricht zu schicken, was diese Ankündigung konkret für ihre Einrichtung bedeutet (hier geht es zum Aufruf).

Wie das Kultusministerium in der vergangenen Woche verkündete, will Sachsen anstatt auf die bundesweit geltenden Abstandsregeln und kleine Gruppen an Kitas, Horten und Grundschulen auf ein Konzept der voneinander getrennten Gruppen setzen – sowohl in den Gebäuden als auf dem Pausenhof und Außenbereichen. Dazu mehren sich kritische Stimmen: So warnte GEW davor, eine andere Strategie als alle anderen Bundesländer zu fahren. Die Linke im Landtag sprach von einer «gefährlichen Illusion». Speiseräume, Toiletten und die Schulhöfe seien eben nicht strikt für einzelne ‎Klassengruppen zu trennen‎, hieß es.

Kultusminister Christian Piwarz (CDU) verteidigt die Öffnung: «Es gibt viele Gründe, die für die Öffnung von Schulen und Kitas sprechen. Der wohl wichtigste ‎Grund ist das Recht der Kinder auf Bildung‎», sagte der Minister. Durch die Schließung verstärkten sich Bildungsdefizite, soziale Ungleichheiten verschärften sich. Zudem zeigten Studien, dass Kinder seltener als Erwachsene am Coronavirus erkrankten und seltener Überträger seien – dass es auch Studien mit anderslautenden Ergebnissen gibt, unterschlägt der Minister (News4teachers berichtete mehrfach ausführlich über den Stand der Forschung – etwa hier). «Jetzt ist also die Zeit, einen solchen Schritt zu gehen‎», meint Piwarz trotzdem. Gleichwohl betonte der Minister, dass sich das Konzept erst in der Praxis bewähren müsse.

Mit Abstand in den Klassenräumen ist kein Regelbetrieb möglich

Tatsächlich begibt sich die sächsische Landesregierung aus CDU, Grünen und SPD auf dünnes Eis. Mit kleinen Gruppen und Abstandsregeln wie in den anderen Bundesländern ist nach Einschätzung des Kultusministeriums über Monate hinweg kein Regelbetrieb möglich. Deshalb hat das Land unter anderem mit Medizinern nach einem anderen Konzept gesucht.

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Beteiligt war auch der Dresdner Infektiologe Prof. Reinhard Berner. Seiner Ansicht nach braucht es langfristige Modelle, die Kindern Zugang zu Gleichaltrigen ermöglichen. Die nächsten Sommermonate mit voraussichtlich geringen Infektionszahlen können genutzt werden, um Konzepte zu testen – und notfalls zu korrigieren. „Diese Zeit werden wir im Herbst oder Winter nicht mehr haben. Wir stehen vor einer zweiten oder dritten Welle“, meint Berner. Größere, aber dafür feste und voneinander getrennte Gruppen haben ihm zufolge den Vorteil, dass Infektionen schnell nachverfolgt werden können.

„Dass der Freistaat sich Unterstützung bei einem Mediziner holt, der noch vor zwei Wochen für eine ‚Durchseuchung‘ in der Population der Kinder plädiert hat, sorgt weder bei Eltern noch bei Beschäftigten für Vertrauen“, so meint hingegen Astrid Axmann, stellvertretende GEW-Landesvorsitzende.

An den weiterführenden Schulen gibt es auch weiter Fernunterricht

An den weiterführenden Schulen – also ab der 5. Klasse – sollen sich Unterricht in der Schule und Lernzeiten zu Hause künftig abwechseln. Der Landesschülerrat begrüßt einerseits die Öffnung, weil der Online-Unterricht zu Hause trotz aller Bemühungen Schwächen habe. Auf der anderen Seite müssten trotz steigender Schülerzahlen die Hygiene- und Abstandsregeln eingehalten werden. «Keine Schule darf ihre Schultore öffnen, wenn sie nicht für alle anwesenden Schülerinnen und ‎Schüler Hygienemaßnahmen gewährleisten kann‎», sagt die Vorsitzende Joanna Kesicka. Zudem sollten die Schulen Spielräume bei der Notenvergabe ausnutzen und weniger Tests schreiben. Es sei niemandem geholfen, wenn in der wertvollen Präsenzzeit in der Schule den ‎ganzen Tag Klassenarbeiten und Tests geschrieben würden.

Nach Einschätzung des Lehrerverbandes stellt die Wiedereröffnung die Schulen vor enorme Herausforderungen – allein schon die Ankunft im Schulbus am Morgen, so Vorsitzender Jens Weichelt. Auch in Pausenzeiten, in der Schulspeisung oder beim Gang auf die Toilette sei es sehr schwierig, Kontakt zu anderen Schülern zu verhindern.

«Eine Möglichkeit sind etwa gestaffelte Pausen», schlug Weichelt vor. Auch das Konzept der Einbahnstraßen im Schulhaus hätte sich im vergangenen Monat mit der Rückkehr der Abschlussklassen bewährt. Letztlich hätten die Schulen aber weitgehend freie Hand bei der Wiederaufnahme des Unterrichts – je nach Raumgröße, Personal und Klassengrößen. Oberste Priorität müsse der Gesundheitsschutz haben, mahnt Weichelt. Nächste Woche werde sich zeigen, ob es genügend Mund-Nasen-Bedeckungen für die Lehrer sowie Desinfektionsmittel gebe.

Bisher waren die Schulen lediglich für Abschlussklassen und Vorabschlussklassen geöffnet. «Das ließ sich bisher recht gut realisieren», sagt Weichelt.

Hintergrund

Welche Regeln gelten für die Wiederöffnung der Schulen und Kitas in Sachsen?

Wenn Kinder erkältet sind, dürfen sie die Einrichtung nicht betreten. Eltern müssen jeden Tag eine Bescheinigung ausfüllen, dass es in der Familie und beim Kind selbst keine Symptome gibt. Eltern sollten zudem beim Bringen und Abholen einen Mundschutz tragen, auch Erziehern und Lehrern wird das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung empfohlen, wenn es die Situation zulässt. Kinder müssen keine Maske tragen. Es gelten zudem verstärkte Hygiene-Regeln.

Wie soll die Wiedereröffnung in der Praxis aussehen?

Sachsen setzt in Kitas und Grundschulen auf eine strikte Trennung der Gruppen anstatt auf Abstandsregeln und kleine Gruppengrößen. Gerade kleinere Kinder könnten Abstände nur schwer einhalten, eine Betreuung im Schichtsystem sei zudem nur schwer zu realisieren, begründet Kultusminister Christian Piwarz (CDU) das Modell. Das heißt, dass es feste Gruppenräume und Erzieher, beziehungsweise Lehrer gibt. Sowohl im Gebäude als auch auf dem Schulhof oder im Kita-Garten dürfen sich die jeweiligen Gruppen nicht begegnen. ‎

Gibt es ab 18. Mai wieder ganz normalen Unterricht?

Nein. Der normale Lehrplan werde nicht mehr vermittelt werden können, auch nicht die vollständige Stundentafel, macht Kultusminister Piwarz deutlich. Vor allem an den Grundschulen sollen die Kernfächer – also Mathematik Deutsch und Sachkunde – im Vordergrund stehen. Sportunterricht etwa soll es vorerst nicht geben. In den höheren Stufen ab Klasse 5 greift ein «rollierendes System» – je nach räumlichen und personellen Voraussetzungen der Schulen. Klassen werden in kleine Gruppen eingeteilt. Ziel ist es, dass jeder Schüler mindestens einmal pro Woche in der Schule ist und sich mit dem Lehrer austauscht. Präsenzzeiten in der Schule und Lernzeiten zu Hause sollen sich abwechseln. Anders als in den Grundschulen gibt es hier keine festen Gruppen, weil das Ministerium davon ausgeht, dass größere Kinder Hygiene- und Abstandsregeln besser einhalten können.

Wenn eine Infektion an einer Kita oder Schule auftritt, wird dann die gesamte Einrichtung geschlossen?

Wenn es eine Corona-Infektion gibt, wird die Gruppe in Quarantäne geschickt. Das Kultusministerium erhofft sich von seinem Modell der streng getrennten Betreuungsgruppen aber, dass nur die jeweilige Grundschulklasse oder Kitagruppe in Quarantäne geht und nicht die gesamte Einrichtung. Letztlich entscheiden das aber die Gesundheitsämter.

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

VBE zieht bittere Bilanz nach einer Woche Unterricht: Von geregeltem Schulbetrieb kann keine Rede sein – das Schuljahr ist praktisch zu Ende

 

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3 Kommentare
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D. Orie
3 Jahre zuvor

Warum hört man in der ganzen Diskussion kein einziges Wort über die ansatzweise Öffnung von Unis und Hochschulen?????????????????????

Pälzer
3 Jahre zuvor
Antwortet  D. Orie

… weil die viel mehr Möglichkeiten zum online-Lernen und Selbststudium haben. Ein Student muss kaum überhaupt zur Uni hin, auch wenn diese „offen“ ist.

Kritische
3 Jahre zuvor

Und wer denkt an die Kinder? Sollen die doch alle zu Hause am PC vergammeln, „beschult werden“ sagt doch alles, Kinder werden zu Objekten. Kindheit lässt sich nicht aufschieben. Ein Erwachsener kann das kompensieren oder Bedürfnisse aufschieben. Ein Kind kann das nicht. Wenn ich immer höre, wogegen die Lehrer alles protestieren. Von anderen Berufsgruppen, die auch mit Menschen zu tun haben, hört man das nicht in dem Maße.