Warum Lesen so wichtig ist – ein Plädoyer der Kinderbuchautorin Kirsten Boie

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DÜSSELDORF. Lesen ist in vielerlei Hinsicht eine entscheidende Kulturtechnik. Doch in Deutschland haben laut IGLU-Studie zu viele Kinder Schwierigkeiten, Texte so zu lesen, dass sie auch den Inhalt verstehen (wir berichteten). Gegen solche Missstände engagiert sich Kinderbuchautorin Kirsten Boie schon seit Jahren und setzt sich für mehr Leseförderung ein. 2018 trat sie in diesem Zusammenhang auch auf politischer Bühne in Erscheinung: Mit der von ihr initiierten Hamburger Erklärung „Jedes Kind muss lesen lernen“ sammelte sie Unterschriften, um das Lesenlernen verstärkt in den Fokus der Bildungspolitik zu rücken (wir berichteten). Zu ihrem 70. Geburtstag am 19. März 2020 erschien nun ihre Streitschrift „Das Lesen und ich“. Darin gibt Kirsten Boie einen privaten Einblick, was das Lesen ihr bedeutet und wie sie – als Kind in einem eher bildungsfernen Haushalt – zum Lesen gekommen ist. Sie verharrt jedoch nicht auf dieser persönlichen Ebene, sondern nutzt diese als Ausgangspunkt für eine allgemeinere Betrachtung, warum es so immens wichtig ist, Lesen zu lernen und Lesen zu können – für jedes einzelne Kind, aber auch für die Gesellschaft.

Kinderbuchautorin Kirsten Boie Foto: ©Indra Ohlemutz
Kirsten Boie ist eine der bekanntesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Foto: ©Indra Ohlemutz

Der folgende Auszug ist dem Buch „Das Lesen und ich“ von Kirsten Boie (Verlag Friedrich Oetinger) entnommen. Hier lässt sich das Buch bestellen (kostenpflichtig).

Kirsten Boie, Das Lesen und ich. Cover: Verlag Friedrich Oetinger
Kirsten Boie: Das Lesen und ich. Verlag Friedrich Oetinger, 96 Seiten, ISBN 978-3-7891-1515-8, EUR 9,00. Foto: Verlag Friedrich Oetinger

Bücher machen schlauer

Aber das sind für mich bei Weitem noch längst nicht alle Gründe, weshalb ich Kinder auch heute für Bücher begeistern möchte. Da gibt es noch sehr viel mehr, und ich hoffe, Sie haben noch ein wenig Geduld. Zum Beispiel scheint erwiesen, dass Lesen schlauer macht: Lesen zum Vergnügen steigert die Intelligenz von Kindern. Doch, das ist eine Tatsache! Und eigentlich auch gar nicht so überraschend.

Beim Lesen von Büchern sammeln wir nicht nur neues Wissen, wir bilden auch ständig neue Synapsen in unserem Gehirn und verknüpfen sie auf neue Weise. Wir vernetzen also unser Gehirn immer besser, sodass es immer leichter in der Lage ist, Zusammenhänge (auch außerhalb von Texten) zu verstehen und bei der Beschäftigung mit der Fragestellung aus einem Bereich, oft ganz unbewusst, auch auf das Wissen aus anderen Bereichen zuzugreifen. Lehrer berichten von Kindern, die ganz plötzlich in allen Fächern interessierter waren, sogar ihre Leistungen steigern konnten, nachdem sie auf eine Serie gestoßen waren, deren Bände sie einen nach dem anderen und immer schneller verschlungen hätten.

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Wenn so etwas passieren kann, ist es dann nicht ganz egal, ob der Inhalt dieser Geschichten vielleicht nur wenig mit der Realität zu tun hat und darum das Wissen über die Welt gar nicht unbedingt befördert? Oder ob sie unseren literarischen Maßstäben kein bisschen genügen? Es geht hier nicht um Inhalt oder literarische Qualität. Es geht um die wachsende Fähigkeit eines Kindes, Zusammenhänge zu verstehen, in Büchern wie im Leben.

Die ersten Bücher meiner Kindheit

Für mich war Lesen wie Magie. Bücher kauften meine Eltern natürlich nicht in einer Buchhandlung. Vielleicht wussten sie damals nicht mal, wo es in ihrer Nähe eine Buchhandlung gab? Aber der Tabakhändler nur einen Eingang weiter im selben Häuserblock verkaufte zum Glück auch Kinderbücher, für 95 Pfennige die dünnen oder für eine Mark 95 die dickeren. Comics verkaufte er auch, »Fix und Foxi«, die gab es aber nur, wenn ich krank im Bett lag. Sonst nicht.

Aus diesem Tabakladen stammten also meine ersten eigenen Kinderbücher. Sie handelten von Bummi aus dem Sauerland und von Sonja, die eine Schildkröte besaß, und einen Literaturpreis hätten sie niemals bekommen. Aber sie machten mich endgültig süchtig nach Lesen, weil sie von einem Leben erzählten, das so viel aufregender und schöner war als mein eigenes und in das ich mich lesend hineinträumen konnte.

Und heute bin ich überzeugt, dass Bummi und Sonja und die durch sie ausgelöste Lesebegeisterung in der Grundschulzeit schuld daran sind, dass ich dann mit neun Jahren tatsächlich die Prüfung zum Gymnasium bestand – gemeinsam mit nur noch drei weiteren Mädchen aus Frau Riehls Klasse, deren Eltern hatten natürlich studiert. Und damit begann der Weg in ein Leben, den ich ohne Bummi und Sonja vielleicht nie hätte gehen können. Genau darum wünsche ich auch heute möglichst vielen Kindern diese Leseleidenschaft. Vor allem, aber das habe ich ja schon gesagt, Kindern wie mir, deren Eltern ihnen in der Schule nicht helfen und die auch keine Nachhilfe bezahlen können. Wer weiß denn, was sie dadurch noch alles erreichen könnten? Und was das möglicherweise für die Gesellschaft insgesamt bedeuten würde.

Über die Autorin:
Kirsten Boie ist eine der bekanntesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Sie wurde 1950 in Hamburg geboren, studierte dort Germanistik und Anglistik und arbeitete später zunächst als Lehrerin an einem Gymnasium, bevor sie an eine Gesamtschule wechselte. 1985 erschien ihr erstes Buch „Paule ist ein Glücksgriff“. 2007 erhielt sie für ihr Gesamtwerk den Sonderpreis des Deutschen Jungendliteraturpreises und 2008 den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur.

Jüngst beteiligte sich Kirsten Boie an der Aktion „Live gelesen mit …“ (wir berichteten). Mit dem Projekt wollen der NDR, SWR und die beteiligten Buchverlage Kindern während der durch die Corona-Pandemie bedingten Schulschließungen den Tag verschönern. Kirsten Boie las in diesem Zusammenhang aus ihrem Buch „Geburtstag im Möwenweg“ vor. Videos aller Lesungen der Aktion stehen über die Internetseite des NDR zur Verfügung.

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OlleSchachtel
3 Jahre zuvor

Das schlimme ist, dass bildungsferne Elternhäuser nicht mit den damaligen verglichen werden können. Aus Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass die Eltern aus „Arbeiterfamilien“ häufig auf Grund der eigenen Bildung nicht helfen konnten, aber trotzdem darauf geachtet haben , dass ihre Kinder Notwendiges, wie in diesem Fall : Bücher hatten. Außerdem war der Ranzen trotzdem gepackt und zu Hause wurde erzogen und miteinander geredet.
Heute heißt Bildungsfern:
Vater und/oder Mutter sind mit sich beschäftigt, hängen am Handy und schon der Spracherwerb der ersten Lebensjahre ist gefährdet. Lesen ist verpönt und ein Buch findet sich gar nicht in den Häusern. Statt dessen spielt Papa mit dem Kind Fortknight auf der Playstation. Der Schulranzen wird einmal zu Schulbeginn gepackt und dann obliegt es der Klassenlehrerin, ab und zu den Zieharmonika-Salat zu bergen aus den schimmeligen Broten.
Das Fernsehprogramm ist heute der Babysitter der Massen und Vorlesen gibt es nicht.
Diese Kinder haben keine Chance sich selbst einfache Texte zu erschließen, weil ihnen der Wortschatz fehlt.
In der Grundschule machen wir inzwischen mehr Wortschatzarbeit und bemerken, dass selbst die Kinder mit Migrationshintergrund mehr Deutsch können, als die aus prekären Haushalten.
Angebote von Vorlesezeiten in der Bibliothek für die ab 4 jährigen werden von diesen Familien nicht angenommen.
Lesen erschließt die Welt, dass habe ich an meinen eigenen Kindern gesehen. Doch Kinder müssen herangeführt werden, die Freude und der Genuss des Lesens muss ihnen nahe gebracht werden. In der 1. Klasse das erst Mal in Berührung mit einem Buch zu kommen ist spät. In der ersten Klasse vorgelesen zu bekommen ist wichtig, wird aber von diesen Kindern abgelehnt, da ihnen die Vorstellung fehlt, die das „Miterleben“ möglich macht.
Traurig ist eine Kindheit ohne Vorlesen!