„Die Überforderung, die Eltern mit ihren Kindern zu Hause erleben, wird den Lehrkräften angelastet“: GEW-Chefin Tepe zeigt sich besorgt

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DÜSSELDORF. Lehrkräfte stehen zurzeit vor der Herausforderung, einen guten Mix aus Präsenz- und Fernunterricht zu gestalten. Hinzukommen die neuen Hygiene- und Abstandsregelungen sowie die Sorge um Risikogruppen im Kollegium. Die GEW-Chefin Marlis Tepe wünscht sich in dieser Situation vor allem Verständnis und Unterstützung für die Lehrerinnen und Lehrer, die derzeit mit allen Kräften daran arbeiten, eine neue Normalität an den Schulen zu gestalten.

Sieht immer noch gravierende Probleme bei der Beschulung der Flüchtlingskinder: GEW-Bundesvorsitzende Marlies Tepe. Foto: GEW
GEW-Chefin Marlis Tepe hofft auf einen Schub für die Digitalisierung. Foto: GEW

News4teachers: Seit dem 4. Mai öffnen die Schulen Schritt für Schritt. Halten Sie das für den richtigen Weg, es allen Schülerinnen und Schülern noch einmal zu ermöglichen, noch einmal zurück an die Schule zu kommen?

Marlis Tepe: Es ist absolut nötig, dass es Kontakt zwischen Lehrkräften und den Schülerinnen und Schülern gibt. Natürlich mag es Klassen geben, in denen der regelmäßige Kontakt auch über Videokonferenzen gut funktioniert, das ist aber nicht überall der Fall. Deshalb ist eine Rückkehr in die Schule sinnvoll, damit sich Lehrkräfte ein Bild von der Entwicklung der Klasse machen können. Wichtig ist allerdings, dass die Schulöffnung nur unter sehr strengen Bedingungen geschieht, damit der Gesundheits- und Infektionsschutz gewährleistet werden kann.

News4teachers: An welche Bedingungen denken Sie dabei?

Tepe: Vor allem müssen in der Schule das Abstandsgebot gewahrt und die Hygienevorschriften eingehalten werden. Für den zweiten Punkt braucht man eine ausreichende Zahl Waschbecken und Toiletten, Reinigungsmittel, Flüssigseife und Einmalhandtücher – etwas, das vor Corona definitiv nicht überall vorgehalten war. Deswegen benötigen Schulen hier unbedingt mehr Unterstützung durch die Kommunen. In den Hygieneplänen der Länder muss ganz klar festgelegt werden, wer wofür verantwortlich ist: Was macht die Schulleitung und was der Schulträger? Wir haben teilweise die Rückmeldung von Schulen bekommen, dass die Lehrkräfte selber Flüssigseife und Einmalhandtücher besorgen mussten. Das ist natürlich ein dramatisch schlechter Zustand. Das geht nicht!

News4teachers: Und wie sieht es mit den Abstandsregelungen an den Schulen aus? Wenn ich an so manchen kleinen Klassenraum denke, scheint mir diese Bedingung nicht gerade einfach umzusetzen zu sein.

Tepe: Keine Frage, wenn die Abstandsregelungen in den Schulen eingehalten werden sollen, können noch für eine lange Zeit nicht alle Klassen gleichzeitig in die Schulen kommen – wahrscheinlich gilt dies auch noch nach den Sommerferien. Das heißt: Für den regulären Unterricht braucht man mehr Räume und mehr Personal.

News4teachers: Bei all diesen Diskussionen darf natürlich der Schutz von Risikogruppen nicht vernachlässigt werden. Welche Regelungen wünschen Sie sich für Lehrerinnen und Lehrer, die besonders gefährdet sind?

Tepe: Die Kolleginnen und Kollegen, die zu Risikogruppen gehören, müssen so eingeteilt werden, dass sie im Home-Office bleiben können. Das bedeutet, dass die Stundenpläne entsprechend umgestellt werden müssen, was wiederum enge Absprachen voraussetzt. Die GEW hat zum Umgang mit Risikogruppen ein Gutachten veröffentlicht. Wichtig ist, dass ein hausärztliches Attest ausreicht, um zu Hause bleiben zu können. Das sieht die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Stefanie Hubig, genauso.

„Ich glaube nicht, dass die meisten Menschen wahrnehmen, dass die Lehrerinnen und Lehrer am Limit sind und die große Mehrzahl der Kolleginnen und Kollegen alles tut, um ihre Schülerinnen und Schüler zu erreichen.“

Marlis Tepe

News4teachers: In Nordrhein-Westfalen gilt beispielsweise, dass ab dem 3. Juni auch Lehrkräfte zum Dienst verpflichtet sind, wenn ein Familienmitglied zu Hause zur Corona-Risikogruppe zählt. Wie schätzen Sie diese Regelung ein?

Tepe: Diese Regelung wird kontrovers diskutiert. Aus dem Arbeitsschutzgesetz lässt sich die Freistellung vom Dienst nicht ableiten. Aber es gibt das Rücksichtsgebot. Insbesondere bei behinderten Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen im Haushalt sollte nach Lösungen gesucht werden. Der Schutzbedarf sollte attestiert werden, notfalls Sonderurlaub in Anspruch genommen werden. In jedem Fall kann der Einsatz von Kolleginnen und Kollegen, die sich vor dieser Herausforderung sehen, so gestalten werden, dass sie nicht dem vollen Risiko ausgesetzt werden.

News4teachers: Man kann trotz der strengeren Regeln für Risikogruppen dennoch davon ausgehen, dass ein relativ hoher Anteil an Lehrkräften zunächst nicht an die Schulen zurückkehren kann. Was heißt das für den schulischen Betrieb?

Tepe: Die Schulen sind durch Risikogruppen sehr unterschiedlich betroffen. Der Einsatz erfordert deshalb umsichtige Planung: ein mehr an Unterrichtsstunden durch kleinere Gruppen und gleichzeitig weniger pädagogisches Personal ist die Herausforderung. All diese Maßnahmen bedeuten natürlich, dass die Arbeitslast der Lehrerinnen und Lehrer gerade enorm steigt. Sie müssen sowohl den Präsenzunterricht als auch den Fernunterricht stemmen und übernehmen eventuell noch die Vertretung von Kolleginnen und Kollegen, die zur Risikogruppe gehören. Das heißt, wenn wir vermeiden wollen, dass Lehrkräfte vollständig in die Arbeitsüberlastung abgleiten, muss das Lehrangebot deutlich abgespeckt werden.

News4teachers: Haben Sie das Gefühl, dieser Einsatz der Lehrkräfte wird von der Öffentlichkeit wahrgenommen und wertgeschätzt?

Tepe: Ich glaube nicht, dass die meisten Menschen wahrnehmen, dass die Lehrerinnen und Lehrer am Limit sind und die große Mehrzahl der Kolleginnen und Kollegen alles tut, um ihre Schülerinnen und Schüler zu erreichen. Natürlich muss man auch sehen, dass es für die Eltern gerade ebenfalls eine herausfordernde Situation ist. Wenn man vielleicht drei Kinder verschiedener Altersgruppen zu Hause hat, aber nur einen Laptop besitzt, ist es schwer, damit zurecht zu kommen und dann auch noch zu verstehen, dass Lehrkräfte auf unterschiedlichen Wegen Material schicken, prüfen und so weiter. Das ist eine hoch komplexe Situation, mit der keiner gerechnet hat. Aber ich nehme auch wahr, dass die Überforderung, die die Eltern mit ihren Kindern zu Hause erleben, den Lehrkräften angelastet wird und nicht der Situation. Und das ist falsch.

News4teachers: Die Schülerinnen und Schüler werden jetzt schon seit über zwei Monaten vor allem im Fernunterricht beschult – und ein Ende ist noch nicht absehbar. Wo sehen Sie dabei die größten Schwierigkeiten?

Tepe: Ich weiß, dass es extrem unterschiedlich läuft. Schulen, die vorher schon einen großen Teil ihres Angebots digitalisiert hatten, die mit individuellen Plänen, Lerntagebüchern, digitalen Arbeitsaufträgen und über Lernplattformen gearbeitet haben, da funktioniert es ganz gut. Überall dort jedoch, wo es keine regulären digitalen Kontakte zwischen Schülern und Lehrkräften gibt, ist es jetzt natürlich viel schwieriger. Und wenn die Klassenlehrerinnen und -lehrer es an diesen Schulen nicht schaffen, sich mit ihren Schülern in Videokonferenzen zusammenzuschalten, dann ist die Gefahr groß, dass uns die Kinder, die schlechten Zugang zu digitalen Lernmitteln haben, die in beengten und psychisch belastenden Wohn- oder Familienverhältnissen leben, entgleiten. Das bestätigt auch die Wissenschaft: Die soziale Herkunft hat große Auswirkungen auf den Erfolg des Fernunterrichts, dadurch verschärfen sich die Ungleichheiten.

News4teachers: Was können Schulen gegen diese wachsenden Ungleichheiten tun?

Tepe: Die Lehrkräfte müssen sich ihre Klassen ganz genau anschauen und mit der Schulleitung gemeinsam überlegen, wer es besonders nötig hat, zurück in den Präsenzunterricht zu kommen. Es wird sich aber nicht vermeiden lassen, dass sich die Unterschiede zunächst verschärfen und wir in den kommenden Jahren dann mehr dagegen tun müssen.

News4teachers: Zeigt die Corona-Krise derzeit nicht auch, dass das Thema Digitalisierung der Schulen in den vergangenen Jahren eklatant vernachlässigt wurde?

Tepe: Ja, die Corona-Krise ist wie ein Brennglas, das auf die Situation gerichtet wird. Wir merken jetzt, was alles fehlt: Vielfach brechen zum Beispiel Server zusammen, das WLAN funktioniert nicht und Systemadministratoren gibt es auch keine. Das wird nun alles deutlicher denn je und das erhöht den Druck auf die Politik, endlich zu handeln. Das Geld aus dem Digitalpakt ist zum größten Teil noch immer nicht an die Schulen gegangen. Zudem reichen die beschlossenen Mittel nicht aus, um alle Schulen auszustatten. Die GEW hat schon vor einiger Zeit berechnet, dass die 5,5 Milliarden Euro, die jetzt im Digitalpakt stecken, allein von den berufsbildenden Schulen gebraucht würden. Wir haben zu diesem Komplex gerade eine umfassende Studie veröffentlicht.

News4teachers: Bei all den Sorgen und der Kritik, sehen Sie vielleicht auch etwas Positives, das Schulen aus dieser Krise mitnehmen können?

Tepe: Ja, die Krise hat einen Schub gegeben. Mehr Kolleginnen und Kollegen beschäftigen sich jetzt mit den digitalen Möglichkeiten. Aber dieser Schub muss auch von der Politik unterstützt werden. Wir können im nächsten Jahr nicht einfach weitermachen wie vor Corona. Für uns ist außerdem wichtig, dass die Kollegien in diesen Prozess einbezogen werden und sie bei Änderungen mitbestimmen können. Es darf keine Top-Down-Entscheidungen der Politik oder der Schulleitungen geben. Die Krise muss als gemeinsame Aufgabe wahrgenommen werden, die gemeinsame Lösungen verlangt.

Interview: Laura Millmann, Agentur für Bildungsjournalismus

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Lehrer fühlen sich mit der Digitalisierung der Schulen alleingelassen – kein Wunder

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Grundschullehrer
3 Jahre zuvor

Die Missstände im Schulwesen, die schon seit Jahrzehnten existieren (Stichwort Lehrermangel und schlechte schulische Ausstattung) bleiben jetzt niemandem mehr verborgen. Es gibt Eltern, die das Problem lösungsorientiert und mit progressiven Forderungen angehen und versuchen, etwas zu verändern – wie z.B. das Sachsen-Anhaltische Bündnis „Den Mangel beenden – Unseren Kindern eine Zukunft geben“. Dann gibt es einige, wenige Eltern, die nicht nach Lösungen, sondern nach Schuldigen suchen, die Lehrer beleidigen, herabwürdigen, meckern. Konstruktiv versus destruktiv. Die Politik sollte die konstruktiven, lösungsorientierten Eltern mit ins Boot holen!