Studie: Vier von fünf Lehrern beklagen Lerndefizite durch die Corona-Krise

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DORTMUND.  „Normal“ läuft für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern seit März nichts mehr: Zunächst wurden die Schulen komplett geschlossen, seit rund einem Monat werden sie sukzessive, aber nur eingeschränkt, geöffnet. Die ersten Ergebnisse einer bundesweiten Lehrkräftebefragung am Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund sind ernüchternd. Die Lehrkräfte warnen: Die sozial bedingten Ungleichheiten im Bildungssystem haben zugenommen, und es wird weniger gelernt.

Schülerinnen und Schüler aus sozial schwachen Familien könnten Probleme bekommen, Anschluss zu finden (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

Die Schulschließungen im März kamen für viele Lehrkräfte, aber auch für Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern, überraschend: Innerhalb kürzester Zeit musste Unterricht, der vor Ort im direkten Austausch zwischen Lehrkräften mit den Schülerinnen und Schülern stattgefunden hätte, auf zu Hause verlegt werden, häufig mit den Eltern als unterstützenden Ersatzlehrkräften. Die ersten Ergebnisse der bundesweiten Umfrage, die das Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund von Mitte April bis Ende Mai mit insgesamt rund 3.600 Lehrkräften aller allgemeinbildenden Schulformen durchführte, beschreiben, wie das Lehren und Lernen in dieser Zeit ablief und mit welchen Herausforderungen alle Beteiligten konfrontiert waren. Daraus ergeben sich wichtige Implikationen für das nächste Schuljahr.

Lehrkräfte sehen Abnahme des Lernerfolges

Die Gestaltung der Lernprozesse durch die Lehrkräfte ist während der Corona-Pandemie völlig anders als im Regelunterricht. Gleichzeitig sind Kinder und Jugendliche zu Hause mit sehr unterschiedlichen Lernumgebungen und -voraussetzungen konfrontiert. Die Mehrheit der Lehrkräfte ist sich einig: Die Corona-Zeit wirkt sich negativ auf den Lernzuwachs aus und verstärkt die sozialen Ungleichheiten.

  • In der bundesweiten Umfrage gaben 79 Prozent der Lehrkräfte aller Schulformen an, dass die Schülerinnen und Schülern in vielen Fächern weniger gelernt haben als während des Regelunterrichts in der Schule.
  • Rund 90 Prozent der Lehrkräfte stimmten der Aussage teils bzw. komplett zu, dass sich die sozial bedingten Ungleichheiten aufgrund der Corona-Pandemie verstärkt haben.

Professorin Nele McElvany, Geschäftsführende Direktorin am IFS und eine der zwei Studienleiterinnen, ist alarmiert: „Das ist ein erschreckendes Ergebnis und bestätigt die Befürchtungen vieler Bildungsexperten.“

In der Studie können weitere konkrete Problemfelder identifiziert werden, unter anderem:

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  1. Das Vorhandensein der technischen Ausstattung. „Zu Hause lernen bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler über das notwendige Equipment verfügen müssen, doch in der Umfrage hat die Mehrheit der Lehrkräfte angegeben, dass es bereits daran häufig scheitere. Erschwerend kommt hinzu, dass es bei Bedarf häufig kaum Hilfsangebote in Form von Ausleihmöglichkeiten für die betroffenen Schülerinnen und Schüler gebe. Die Ausstattung der Schülerinnen und Schüler auch für das Lernen außerhalb des Unterrichts ist demnach zukünftig zur Unterstützung des Lernens strukturell mitzudenken und zu verbessern“, mahnt PD Dr. Ramona Lorenz, die zweite Studienleiterin am IFS.
  2. Die Lehrkräfte zeichneten ein eher kritisches Bild in Bezug auf die Medienkompetenz der Schülerinnen und Schüler, die nötig wäre, um den Unterricht digital unterstützt fortzuführen. Dabei müssen substanzielle Unterschiede zwischen den einzelnen Schulformen festgehalten werden: So verfügen Kinder in der Grundschule eher nicht über eine ausreichende Medienkompetenz, Schülerinnen und Schüler an Gymnasien hingegen schon.

Unterricht in Zeiten von Corona

Neben der Umstellung auf digitales Lernen sind Lehrkräfte zudem mit der Herausforderung konfrontiert, den Unterricht den gegebenen Umständen gemäß umzudenken und anzupassen, sodass das Lernen von Schülerinnen und Schülern auch außerhalb der Schule stattfinden kann. Damit verändern sich beispielsweise die Aufgaben und Lernformate, welche möglichst selbsterklärend und von Lernenden eigenständig zu bearbeiten sein sollten. Ein großer Teil der Lehrkräfte (rund 90 Prozent) stellte demnach digital zu bearbeitende Aufgaben und Materialien zur Verfügung. Ein Anteil von 75 Prozent berichtete zudem, dass sie individuelle Lernstände von Schülerinnen und Schülern bei der Auswahl und der Erstellung von Aufgaben eher berücksichtigten und 84 Prozent gaben an, dass sie regelmäßig Feedback gäben.

„Vergleicht man dies mit anderen Studien, die die Sicht der Eltern fokussieren, so fällt das Ergebnis sicherlich etwas optimistisch aus, mindert die Leistungen der Lehrkräfte aber keineswegs, sondern kann vielmehr aufzeigen, was alles möglich ist“, erläutert Nele McElvany. Auffällig in der Kommunikation ist jedoch, dass Lernplattformen und Softwares für virtuelle Treffen derzeit (noch) nicht in der Breite genutzt werden – lediglich rund 56 bzw. 31 Prozent der befragten Lehrkräfte gaben an, diese Tools für alle oder die Mehrheit ihrer Schülerinnen und Schüler zu verwenden. Gleichzeitig schilderten sie aber auch, dass sich ihr Wissen über digitale Medien in Lernsituationen gesteigert habe und dass sie, basierend auf ihren Erfahrungen, nach Corona verstärkt digitale Medien für schulische Zwecke einsetzen wollen.

Fazit: Es mangelt an Medienkompetenz – es mangelt an Ausstattung

Fazit der Forscher: „Vor dem Hintergrund, dass Unterricht voraussichtlich noch längere Zeit nicht nur, aber auch Zuhause stattfinden wird, sind die ersten Ergebnisse der Lehrkräftebefragung ernüchternd. Die Konsequenzen daraus, dass Deutschland im Bereich Digitalisierung in der Schule lange nicht ausreichend aktiv geworden ist, müssen nun Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler und Eltern gleichermaßen tragen. Es mangelt nicht nur an Medienkompetenzen, sondern auch an der Ausstattung. Dies ist ein Missstand, der zeitnah behoben werden sollte, denn schließlich haben alle Schülerinnen und Schüler das Recht auf guten Unterricht, egal, wo dieser stattfindet.“ News4teachers

Hier geht es zu einem ausführlichen Bericht über die Studienergebnisse.

Hintergrund
Professorin Nele McElvany, Geschäftsführende Direktorin am IFS. Foto: IFS

Das interdisziplinäre Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund ist als Forschungseinrichtung an der Schnittstelle von Wissenschaft, schulischer Praxis und Politik angesiedelt.

Die durch fünf Professuren und rund 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gestalteten Forschungsbereiche des Instituts arbeiten zu aktuellen Themen im Bereich der Empirischen Bildungsforschung mit dem Ziel, schulische Lern- und Entwicklungsprozesse, Schulentwicklung und Bildungsergebnisse im Kontext ihrer individuellen, sozialen und institutionellen Bedingungen zu erfassen, zu erklären und zu optimieren. Das IFS trägt mit seiner Arbeit wesentlich den Profilbereich Bildung, Schule und Inklusion der TU Dortmund mit.

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Wird ein Drittel der Schüler durch Fernunterricht abgehängt? Eltern fürchten grobe Ungleichbehandlung – Studie bestätigt das

 

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9 Kommentare
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Küstenfuchs
3 Jahre zuvor

„In der bundesweiten Umfrage gaben 79 Prozent der Lehrkräfte aller Schulformen an, dass die Schülerinnen und Schülern in vielen Fächern weniger gelernt haben als während des Regelunterrichts in der Schule.“

Echt? Nur 79%? Bringen die restlichen 21% ihren Schülern nicht bei, was dann bei Corona-„Unterricht“ dann nicht zu unterbieten wäre?

Palim
3 Jahre zuvor
Antwortet  Küstenfuchs

Die restlichen 21% schätzen, dass die gute Versorgung mit Materialien für das „Lernen zu Hause“ zu gleich guten oder sogar besseren Lernergebnisse führte, was an den hervorragenden Arbeitsergebnisse aus dieser Zeit ersichtlich war.

Küstenfuchs
3 Jahre zuvor
Antwortet  Palim

Aber das ist doch vollkommen unrealistisch.

Palim
3 Jahre zuvor
Antwortet  Küstenfuchs

@küstenfuchs
Ist es? Warum?

Stefan
3 Jahre zuvor
Antwortet  Küstenfuchs

Küsten…

Unrealistisch ist was nun geschieht. Merken Sie sich ruhig meine Vorhersage: Im Spätherbst wird alles runtergefahren müssen, weil wir nicht lange genug durchgehalten haben. Die Folgen werden katastrophal sein und stehen in keiner Relation zu ein paar Monaten Schulschließung. In China beginnt es schon wieder:
16-Jun-2020 05:37:02 PM – BEIJING CITY GOVERNMENT RAISE COVID-19 EMERGENCY RESPONSE LEVEL TO II FROM III – STATE MEDIA
16-Jun-2020 05:46:13 PM – BEIJING CITY OFFICIAL SAYS ADVISES PEOPLE NOT TO LEAVE BEIJING UNLESS NECESSARY – STATE MEDIA
16-Jun-2020 05:46:37 PM – BEIJING CITY OFFICIAL SAYS PEOPLE LEAVING THE CAPITAL SHOULD HAVE NUCLEIC TESTING RESULT – STATE MEDIA
16-Jun-2020 05:48:58 PM – BEIJING CITY OFFICIALS SAYS WILL NOT ASK COMPANIES OR FACTORIES TO STOP WORK BUT WILL ENCOURAGE WORK FROM HOME – STATE MEDIA
16-Jun-2020 05:49:18 PM – BEIJING CITY OFFICIALS SAYS PEOPLE IN HIGH-RISK AREAS WILL NOT BE ALLOWED TO LEAVE THEIR RESIDENTIAL COMPOUND – STATE MEDIA
16-Jun-2020 05:54:46 PM – BEIJING CITY OFFICIALS SAYS KINDERGARTENS, PRIMARY AND HIGH SCHOOLS TO BE SHUT FROM WEDNESDAY – STATE MEDIA
16-Jun-2020 05:00:42 PM – UNIVERSITY STUDENTS WILL NOT BE ALLOWED TO RETURN TO THEIR SCHOOL IN BEIJING FROM JUNE 17 -STATE MEDIA

https://www.theguardian.com/world/2020/jun/16/beijing-coronavirus-outbreak-travel-restricted-china-severe-measures

Zweitens gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass wir eine Herdenimmunität oder einen lebensfähigen Vax erreichen können. Bis zu 40% der Menschen, die PCR-positiv waren, entwickelten niemals Antikörper. SARS-1-Antikörper sind nicht dauerhaft, nehmen ab und verschwinden nach etwa 2 Jahren.
https://www.statnews.com/2020/06/11/coronavirus-immunity-vaccine-development/

Studie mit 52 Patienten, die wegen COVID19 oder des damit verbundenen PIMS in das Great Ormond Street Hospital for Children in UK eingewiesen wurden.
46% hatten eine abnorme Nierenfunktion und 29% eine akute Nierenverletzung.
https://www.thelancet.com/journals/lanchi/article/PIIS2352-4642(20)30178-4/fulltext

„Die Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 kann offenbar auch einen Diabetes auslösen und eine schwere Stoffwechselentgleisung bis hin zur tödlichen Ketoazidose verursachen, warnt eine Gruppe von Endokrinologen.“
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113818/Studie-COVID-19-kann-einen-Diabetes-ausloesen?utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter

Wir haben viel zu früh gelockert und verabschieden uns nun auch noch von den Abstandsregeln, die nächste Welle ist programmiert und dies ohne Kenntnis der Langzeitfolgen des Virus.

Küstenfuchs
3 Jahre zuvor
Antwortet  Stefan

Bietet ihr Beitrag auch nur im Ansatz einen Anknüpfungspunkt zum Beitrag oder den Kommentaren?

Pälzer
3 Jahre zuvor
Antwortet  Stefan

Bleiben wir ehrlich:
Leben ist immer lebensgefährlich!
(E. Kästner)

Stefan
3 Jahre zuvor

Küstenfuchs 16. Juni 2020 At 23:09
Bietet ihr Beitrag auch nur im Ansatz einen Anknüpfungspunkt zum Beitrag oder den Kommentaren?

Dies überlasse ich Ihrer Fantasie…..

Küstenfuchs
3 Jahre zuvor
Antwortet  Stefan

Gibt es diesen Beitrag auch in „schlau“? Wenn ich eine Nachfrage zu einem Kommentar stelle, ist der Anknüpfungspunkt zu diesem doch offensichtlich.