Odenwaldschule Teil eines Netzwerks? Missbrauchsskandal erschüttert die Pädagogik

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BERLIN. Der Skandal um die Odenwaldschule, in der renommierte Pädagogen systematisch Schüler missbrauchten, schien in seiner Monströsität einmalig in der deutschen Geschichte zu sein. Jetzt zeichnet sich ab, dass daneben wohl ein ganzes Netzwerk stand – mit einem Organisator in Berlin, der Pflegekinder an Pädophile vermittelte. Forscher, die sich mit der Aufarbeitung des Geschehens in den 1960-er und 1970-er Jahren beschäftigen, sehen Verbindungen hin zu zahlreichen namhaften wissenschaftlichen pädagogischen Einrichtungen, in denen „pädophile Positionen akzeptiert, gestützt und verteidigt wurden.“

Der Missbrauchsfall von Berlin scheint Verbindungen zum Geschehen in der Odenwaldschule zu haben. News4teachers berichtete immer wieder über die Aufarbeitung des Skandals – hier zum Beispiel. Foto: Shutterstock

Die gezielte Vermittlung von Kindern und Jugendlichen zur Pflege bei Pädophilen ab Ende der 1960er Jahre hat offenbar eine deutlich größere Dimension als bisher bekannt. Neben zwei schon länger bekannten Fällen in Berlin habe sich auch ein Betroffener gemeldet, der in einer von Berlin geführten Pflegestelle in Westdeutschland untergebracht war, berichteten Wissenschaftler der Universität Hildesheim  in Berlin. Es gebe die begründete Annahme für weitere solche Pflegestellen oder Wohngemeinschaften in Westdeutschland, damals initiiert durch Berliner Behörden. Dahinter habe ein Netzwerk gestanden. Betroffene berichteten laut den Wissenschaftlern etwa von Grenzüberschreitungen, Gewalt und Missbrauchserfahrungen.

„Wissenschaftliches Experiment“

Die Forscher stellten ihren Abschlussbericht zum verstörenden Wirken des Berliner Sozialpädagogen Helmut Kentler (1928-2008) vor, der bis Mitte der 1970er Jahre in Berlin am Pädagogischen Zentrum als Abteilungsleiter tätig war, einer nachgeordneten Behörde des Senats. Die von Kentler als «wissenschaftliches Experiment» verbrämte Praxis, Pflegekinder und -jugendliche an vorbestrafte Pädophile zu vermitteln, begann in Berlin Ende der 1960er Jahre und wirkte sich laut Bericht bis Beginn der 2000er Jahre aus. Wie viele Opfer es überhaupt gibt, ist nach Aussage der Forscher unklar.

Aus Sicht der Aufarbeitung handle es sich um «Kindeswohlgefährdung in öffentlicher Verantwortung», sagte Mitautorin Julia Schröder. Im Bericht heißt es: «Die bisherigen Hinweise verdichten sich, dass es sich bei diesen Pflegestellen um allein lebende, mitunter mächtige Männer aus Wissenschaft, Forschungseinrichtungen und anderen pädagogischen Kontexten gehandelt hat, die pädophile Positionen akzeptiert, gestützt oder auch gelebt haben.»

Der damals hoch angesehene Kentler wird als einer der Hauptakteure des Netzwerks beschrieben, das laut Bericht quer durch die wissenschaftlichen pädagogischen Einrichtungen insbesondere der 1960er und 1970er und die Senatsverwaltung bis hinein in Bezirksjugendämter ging. Explizit genannt werden das Pädagogische Zentrum Berlin, das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, die Freie Universität und das Pädagogische Seminar Göttingen. Außerdem lassen sich Verbindungen nachweisen zwischen dem Pädagogischen Zentrum und der Odenwaldschule in Hessen, die nach Bekanntwerden des dortigen Missbrauchsskandals schließen musste. Übergriffe seien nicht nur geduldet, sondern gerechtfertigt worden.

Dabei habe es durchaus auch gegenteilige Positionen gegeben. Kentler habe maßgeblich Einfluss auf Entscheidungen Verantwortlicher ausgeübt. Die Verantwortung für Kentlers Aktivitäten liegen laut Schröder beim Berliner Senat als dessen Dienstherr.

Scheeres: Berlin übernimmt die Verantwortung

Berlins Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, Sandra Scheeres (SPD), kündigte Entschädigungszahlungen für die Betroffenen an. Eine Kanzlei sei beauftragt, die Gespräche zu führen. Scheeres sprach von Behördenversagen. «Wir haben ein Netzwerk aufgedeckt», betonte sie. Es sei deutlich geworden, dass Kentler Kindesmissbrauch angestrebt habe. Sie nannte das Vorgehen «menschenverachtend». Berlin übernehme die Verantwortung. Die Betroffenen bat Scheeres um Verzeihung.

Angesichts der Erkenntnisse sei es wichtig, dass die Aufarbeitung nun über Berlin hinausgehe, betonte Scheeres. Auch die Berliner Strukturen sollen noch einmal genauer unter die Lupe genommen werden, diesbezüglich sei eine Studie in Auftrag gegeben worden. Die Senatsverwaltung von Scheeres hatte die Hildesheimer Untersuchung und auch schon eine frühere Studie zum Thema gefördert. Die Wissenschaftler sprachen nun unter anderem mit drei Opfern, mit Zeitzeugen und analysierten Akten.

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs erklärte, sie unterstütze «nachdrücklich den Vorschlag, dass die Jugendministerkonferenz eine bundesweite Aufarbeitung zu Gewaltverhältnissen im Pflegekinderwesen und der Heimerziehung auf den Weg bringen muss, um die vorliegenden Hinweise auf ein weit verzweigtes Netzwerk weiter aufarbeiten zu können».

Kentler, der später als Professor für Sozialpädagogik an der TU Hannover lehrte, wurde für sein «Experiment» nie strafrechtlich verfolgt. Die Taten galten als verjährt. dpa

„Es gab keine Regeln“ – „Die Auserwählten“-Regisseur war selbst an der Odenwaldschule

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MichNervtDasAlles
2 Jahre zuvor

Hallo,
ich finde, solche Beiträge müssen viel mehr veröffentlicht werden.
Leider Gottes, kommen solche Themen immer noch kaum an Tageslicht.
Ich bin der Meinung, dass Kindesmissbrauchsfälle härter bestraft werden müssen und diese auch nicht verjährt werden sollten. Kinder sind leicht zu beeinflussen und mundtot zu machen. Auch hier müsste sich etwas ändern, damit Kinder lernen, sich Hilfe zu holen.
Ich glaube, die ungemeldeten Zahlen liegt in einer Dimension außerhalb unserer Vorstellungskraft wenn es um Kindesmisshandlungen geht.
Danke für diesen Beitrag.
Liebe Grüße