„Keine Veranlassung für Anpassung unserer Strategie“: Kultusminister verwirft Empfehlungen der Leopoldina – ohne Begründung

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HANNOVER. Rund drei Wochen vor dem Start des Schuljahres 2020/2021 in Niedersachsen hat Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) einen aktualisierten „Rahmen-Hygieneplan Corona Schule“ herausgeben. Die am vergangenen Mittwoch veröffentlichten Empfehlungen der Nationalakademie Leopoldina, an denen unter anderem RKI-Präsident Wieler und Charité-Virologe Drosten beteiligt waren, bleiben darin unberücksichtigt. Es sei nicht nötig, die Strategie anzupassen, heißt es lapidar. Eine Begründung dafür gibt es nicht.

Das Coronavirus ist längst nicht aus der Welt. Illustration: Shutterstock

„Wir beobachten mit Sorgfalt und Vorsicht die steigenden Infektionszahlen, sehen aber aktuell keine Veranlassung für eine Anpassung unserer angekündigten Strategie des eingeschränkten Regelbetriebs zum Start des neuen Schuljahres. Wir behalten das Infektionsgeschehen aber weiterhin stetig im Blick und werden die Lage – wie geplant – zwei Wochen vor Ferienende erneut neu bewerten“, so die Staatssekretärin im Niedersächsischen Kultusministerium, Gaby Willamowius, in einer am Freitag veröffentlichten Pressemitteilung. „Mit dem jetzt veröffentlichten aktualisierten Rahmen-Hygieneplan geben wir den Schulleitungen und Lehrkräften rechtzeitig für alle Szenarien eine wirksame Ergänzung zum schuleigenen Hygieneplan an die Hand, um zur Gesundheit der Schülerinnen und Schüler und aller an Schule Beteiligten beizutragen.“

„Kohorten“ statt kleiner fester Lerngruppen

Vorgesehen ist: „Um den eingeschränkten Regelbetrieb zu gewährleisten, wird das Abstandsgebot unter den Schülerinnen und Schülern zugunsten eines Kohorten-Prinzips aufgehoben. Unter Kohorten werden festgelegte Gruppen bzw. Jahrgänge verstanden, die aus mehreren Lerngruppen bestehen können und in ihrer Personenzusammensetzung möglichst unverändert bleiben. Dadurch lassen sich im Infektionsfall die Kontakte und Infektionswege wirksam nachverfolgen. Durch den Wegfall des Abstandsgebots zwischen den Schülerinnen und Schülern bekommt die konsequente Umsetzung der Lüftung von Räumen eine besondere Bedeutung. Zudem wird im Szenario A das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung außerhalb des Unterrichts in bestimmten Situationen verpflichtend vorgegeben. Im Unterricht und innerhalb einer Kohorte muss kein Mund-Nasen-Schutz (MNS) getragen werden. Außerhalb von Unterrichts- und Arbeitsräumen ist eine Mund-Nasen-Bedeckung in von der Schule besonders gekennzeichneten Bereichen zu tragen, in denen aufgrund der örtlichen Gegebenheiten (Enge) ein Abstand von mindestens 1,5 m zu Personen anderer Kohorten nicht gewährleistet werden kann. Das betrifft in der Regel Gänge, Flure, Versammlungsräume etc. sowie gegebenenfalls auch das Außengelände. Bei versetzten Pausenzeiten oder kohortenspezifischen Pausen kann das Tragen der MNS entfallen.“

Im „Szenario B“ würden die Abstandsregeln wieder gelten

Wenn es regional wieder zu deutlich erhöhten Infektionszahlen kommen sollte und das örtliche Gesundheitsamt feststellt, dass das regionale Infektionsgeschehen einen eingeschränkten Regelbetrieb (Szenario A) nicht mehr zulässt, werde in Abstimmung mit dem örtlichen Gesundheitsamt in Szenario B (Schule im Wechselmodell) gewechselt, welches eine Kombination aus Präsenzunterricht und Lernen zu Hause vorsieht. „Im Szenario B bleibt die bisherige Empfehlung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung bestehen, darüber hinaus sind die vorgesehenen Hygiene- und Abstandsregeln wieder anzuwenden.“ Was „deutlich erhöhte Infektionszahlen“ sind, führt das Ministerium nicht weiter aus.

Bei lokalen oder landesweiten Schulschließungen bzw. Quarantänemaßnahmen tritt das Szenario C in Kraft. Neben regionalen Schließungen ganzer Schulen könnten dann auch einzelne Jahrgänge, Klassen oder Gebäudenutzende durch das Gesundheitsamt in Quarantäne versetzt werden. Die Schülerinnen und Schüler würden dann ausschließlich zu Hause lernen „und die Lehrkräfte leiten an und kommunizieren regelmäßig mit den Schülerinnen und Schülern“.

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Weiter heißt es: „In Zeiten der Corona-Pandemie ist es ganz besonders wichtig, die allgemein gültige Regel zu beachten: Personen, die Fieber haben oder eindeutig krank sind, dürfen unabhängig von der Ursache die Schule nicht besuchen oder dort tätig sein. In Abstimmung mit dem Niedersächsischen Landesgesundheitsamt wurde diesbezüglich klargestellt, dass bei einem banalen Infekt ohne deutliche Beeinträchtigung des Wohlbefindens (z. B. nur Schnupfen, leichter Husten) die Schule besucht werden kann. Dies gilt auch bei Vorerkrankungen (z. B. Heuschnupfen, Pollenallergie).“

Leopoldina: Organisatorische Anpassungen des Schulbetriebs sind notwendig

Der Nationale Wissenschaftsrat Leopoldina hatte mit einer Stellungnahme in dieser Woche den Planungen der Kultusminister widersprochen, an den weiterführenden Schulen Unterricht nach dem „Kohortenprinzip“ stattfinden zu lassen. Statt die Schüler in voller Jahrgangsstärke zusammenzubringen, müssten kleine feste Lerngruppen gebildet werden, um dem Infektionsrisiko Rechnung zu tragen. (News4teachers berichtet ausführlich über die Stellungnahme – hier geht es zum Beitrag.)

In dem Papier, an dem unter anderem der Charité-Virologe Prof. Christian Drosten und Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts mitgearbeitet haben, heißt es: „Zur Einrichtung der empfohlenen kleinen festen Gruppen (epidemiologische Gruppenverbände) sind strukturelle und organisatorische Anpassungen in den Bildungseinrichtungen notwendig. Dabei sollte ein Wechsel von Räumen vermieden werden, möglichst wenig Wechsel von Fachkräften stattfinden und auch während der Zeiten im Außengelände die Kontakte zwischen Gruppen reduziert werden. Die Erschließung und Anmietung zusätzlicher Lernorte kann zu einer räumlichen Entzerrung beitragen. Weitere Freiräume für Kitas und ggf. Grundschulen könnten gewonnen werden, indem beispielsweise Bildungs- und Lernaktivitäten im Freien systematisch in den Alltag integriert werden. Neben der räumlichen ist auch eine zeitliche Entzerrung möglich, indem die Nachmittage und ggf. auch die Samstage für Lernangebote genutzt werden.“

Auf die Möglichkeit von Ausbrüchen in Bildungseinrichtungen müsse sich Deutschland vorbereiten. „Gerade mit Blick auf die wieder zunehmende nationale wie internationale Mobilität, die Verlagerung von Aktivitäten in Innenräume im Herbst und Winter sowie den Beginn der Grippe- und Erkältungssaison erscheint dies umso dringender.“ Die Leopoldina empfiehlt deshalb in weiterführenden Schulen auch eine Maskenpflicht im Unterricht. Nordrhein-Westfalen hat als bislang einziges Bundesland reagiert und eine entsprechende Regelung erlassen. Die Stellungnahme der Nationalakademie muss den Landesregiierungen auch schon vorab übermittelt worden sein: NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) verkündete ihren Schwenk – sie hatte eine Maskenpflicht im Unterricht bis dato abgelehnt – bereits am Montag.

Lehrerverband: Ist womöglich bald schon ein neuer Plan nötig?

„Wie viele Neufassungen wird es bis zum Beginn der Schule am 27. August 2020 noch geben müssen?“, fragt nun der Vorsitzende des Verbands Niedersächsischer Lehrkräfte VNL/VDR, Torsten Neumann. „Ob mit dem neugefassten ‚Rahmen-Hygieneplan Corona Schule‘ den Schulen zum jetzigen Zeitpunkt bei der Planung des neuen Schuljahres wirklich geholfen sein wird, wird sich erst herausstellen, wenn die Schule wieder begonnen hat.“ Ein Experiment, bei dem die Erkenntnisse der führenden Fachwissenschaftler in Deutschland unberücksichtigt bleiben. News4teachers

Eisenmann lehnt Leopoldina-Rat ab: Keine Maskenpflicht im Unterricht

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GriasDi
3 Jahre zuvor

Wie es halt immer so ist. Die Kultusminister sind heilig, unfehlbar. Alles was aus den Ministerien kommt ist heilig und nicht zu hinterfragen. Leider herrscht ein solches Verständnis scheinbar flächendeckend in Deutschland in den Ministerien.

Jerry F.
3 Jahre zuvor

An alle Betroffenen: Lassen Sie den Vorgang von Fachanwälten prüfen und gehen den gerichtlichen Weg.

Hf
3 Jahre zuvor
Antwortet  Jerry F.

Was sollen die Fachanwälte den prüfen und was soll das Ziel der Auseinandersetzung sein?

Jeder kann bzw. muss halt schauen, dass er das Beste aus der Situation macht.

Man muss bei jedem Schultyp hinschauen, was zu machen ist. Nur eins ist sicher, jede Maßnahme hat einen Einfluss auf die Inhalte. Mit Distanzunterricht und Halbierung der Klassen kann auch nicht mehr alles unterrichtet werden.
Während die Kollegen der Grundschule den größten Teil des Unterrichts selber abdecken, gibt es in den weiteren Schulen halt die spezialsierten Kräfte, die halt auch nicht immer alle Vollzeit sind. In der Bandbreite fest Lehrerteams und Klassengruppen zusammstellen ist bei bestmmten Schultypen gar nicht möglich.

Dieses allgemeinenen Statements helfen da gar nicht weiter. Und Corona wird uns nicht über das kommende Schuljahr, sondern vermutlich die nächsten Jahre beschäftigen. Trauig ist doch, dass wir im Vergleich zum Frühjahr anscheinend keinen Schritt weiter sind.

xy
3 Jahre zuvor
Antwortet  Hf

Das ist traurig, wie wahr.
5 Monate Zeit zur sicheren Neugestaltung. Die gab es nicht. Aber es gab Lehrerbashing, Verleugnung der Realität und in allen Bundesländern die Entscheidung, Wissenschaft und Virologen zu ignorieren, um den alten Stiefel Präsenzunterricht zu fahren. Kollateralschäden einkalkuliert.

Jerry F.
3 Jahre zuvor
Antwortet  Hf

Wenn die Erkenntnisse der Wissenschaft gegen den regulären Schulbetrieb sprechen, weil Menschenleben eben zu kostbar ist, um es so unnötig und verantwortungslos aufs Spiel zu setzen, muss die Exekutive durch die Judikative eben korrigiert werden. Und die Schulpräsenzpflicht muss in Zeiten der Pandemie ausgesetzt werden.

Klaus
3 Jahre zuvor

Was sind denn das für verwirrende Maskenpflicht-Aussagen.

Ist es denn so schwer für die Bundesländer zu sagen: „Maske immer außer am Platz“.
Selbst dann sind es für Schüler nur wenige Minuten am Tag, an dem sie eine Maske aufziehen müssen. Für mich unverständlich, dass man dies den Schülern nicht zumuten kann und sie immer mehr in Watte packt, selbst in einer Pandemie.

A.H.
3 Jahre zuvor
Antwortet  Klaus

NRW hat Maskenpflicht auch im Klassenraum am Platz. Im G8 im Ganztag also von 7.55 bis 15.50 Uhr . Im Gang und in der Pause sowieso. Ist schon etwas mehr als ein paar Minuten. Dazu die heißen Temperaturen und ab der EF kein hitzefrei. Durchatmen nur noch auf den Toiletten? Die Kinder tun mir schon jetzt leid.

Gustav
3 Jahre zuvor
Antwortet  Klaus

„Ist es denn so schwer für die Bundesländer zu sagen: „Maske immer außer am Platz“.“

Dies entspricht ja nicht den AHA-Regeln des RKI. Wieso sollten die Schüler im Klassenraum keine Maske tragen? Heißt es doch: Wenn der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann, gilt die Maskenpflicht.

Korrekt wäre doch: Maskenpflicht für alle und zwar ganztägig. Alles andere ist scheinheilig.
Oder können Sie mir eine Begründung nennen, warum ich mich mit 30 SuS (15-18 Jahre) ganztägig ohne Schutzmaßnahmen in einen Raum aufhalten sollte? Ohne die schon nicht vorhandene Lüftungsmöglichkeit?

Stina
3 Jahre zuvor

Jerry F., meine Mutter ist Lehrerin und steht kurz vor der Pension. Natürlich hat sie aufgrund ihres Alters Angst vor einer Infektion. Sie ist aber nicht vorerkrankt. Sie möchte, dass ihre Schüler Abstand halten und Masken tragen, damit sich im Klassenraum niemand infiziert.
Wenn jetzt führende Virologen das auch empfehlen, könnten dann Lehrer über die Gerichte den Rat der Virologen einklagen? Zu welchem Fachanwalt müsste meine Mutter denn gehen? Nach meinem Rechtsempfinden können die Kultusminister den Expertenrat nicht einfach ignorieren.
Für die Hamburger möchte ich an dieser Stelle nochmal auf den offenen Brief der Hamburger Elterninitiative „Sichere Bildung Hamburg“ hinweisen:
https://sichere-bildung-hamburg.de/

Stefan2020
3 Jahre zuvor

Wahrscheinlich alles Panik?

Ähnliches habe ich auch in ausländischem Medien gelesen.. wir haben keine serösen Studien/ Erfahrungen zu Langzeitfolgen bei dieser Virusinfektion, aber die Hinweise über schwere Langzeitschäden häufen sich weltweit. Anfangs schaute man nur auf die Mortalität und beschrieb dann die Infektion als nicht sonderlich gefährlich. Was aber auf uns zurollt mit den Langzeitschäden könnte Gesellschaften zum Kollaps führen. Man stelle sich vor, dieser beschleunigte Alterungsschub würde sich auch bei Kindern zukünftig zeigen.

Wäre da nicht größte Vorsicht das Gebot der Stunde, bis man mehr an Erkenntnisgewinn hat?

Beschleunigt Covid-19 den Alterungsprozess?
Der leitende Forscher der Studie, Prof. Dr. Stefan Schreiber, geht davon aus, dass der SARS-CoV-2-Erreger infizierte Personen schneller altern lassen kann. Schreiber ist Internist am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel und forscht unter anderem zu chronischen Entzündungen und Alterungsprozessen.

https://www.t-online.de/gesundheit/krankheiten-symptome/id_88341832/tid_amp/covidom-studie-laesst-das-coronavirus-menschen-schneller-altern-.html