„Unmöglich umzusetzen“: Schulleiter kritisieren Piazolos Vorgaben als weltfremd

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MÜNCHEN. Am Montag öffnet für viele Kinder wieder die Schule. Direktoren ärgern sich allerdings über unrealistische Vorgaben des Kultusministers und «Beispiele der Unmöglichkeit». Jetzt machen sie ihrem Unmut Luft.

Unter Druck: Bayerns Bildungsministerer Michael Piazolo. Foto: Andreas Gebert / StMUK

Die Grundschulen öffnen ab Montag wieder für viele Kinder – doch die Schulleitungen verzweifeln oft an «unrealistischen» Corona-Vorgaben des Kultusministeriums. Die immer neuen Hygienepläne in kürzester Zeit und ohne Vorlauf umzusetzen, sei nahezu unmöglich, schrieb der bayerische Schulleitungsverband für Grund-, Mittel- und Förderschulen in einem «Brandbrief» an Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) am Wochenende.

«In Woche 14 des Lockdowns ist die Grenze der Belastbarkeit und vor allem auch der Realisierbarkeit bei den Schulleitungen erreicht», heißt es darin. Schulleitungen seien «einmal mehr an vorderster Front ins Dauerfeuer geschickt worden». «Das verfügbare Löschwasser geht zuneige.»

„Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Piazolo, haben Sie schon einmal eine Mensa für zehn bis zwanzig Schülerinnen und Schüler betrieben“

Ein «Beispiel der Unmöglichkeit der Umsetzung» sei an Grundschulen die Notbetreuung im Wechselunterricht. So schlage Piazolo vor, kurzfristig schulfremdes Personals einzustellen. «Natürlich vergessen Sie hier den Hinweis nicht, dass doch bitte der Masernschutz und vor allem ein polizeiliches Führungszeugnis vor dem Einsatz vorliegen muss», heißt es in dem Brief. «Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Piazolo, mit Verlaub, haben Sie schon einmal innerhalb von drei Tagen passendes Personal gesucht, Vorstellungsgespräche geführt, die Personalentscheidung getroffen, Formalitäten geklärt und zuletzt einen Vertrag geschlossen?» Alleine die Beantragung des Führungszeugnisses dauere mindestens zwei Wochen.

Weiter kritisierten die Direktoren die Organisation der Mittagsbetreuung in Mittelschulen. So würden Eltern der Abschlussschüler neben dem Unterrichtsbetrieb auch Ganztagsbetreuung oder Mittagsbetreuung versprochen. «Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Piazolo, haben Sie schon einmal eine Mensa für zehn bis zwanzig Schülerinnen und Schüler betrieben? Haben Sie schon einmal einen Caterer gefunden, der täglich diese geringe Anzahl an Schüleressen zubereitet und liefert?»

Die Landesvorsitzende Cäcilia Mischko sagte am Sonntag, die Schulen bräuchten generell mehr Autonomie, damit sie schneller und besser planen könnten. Es sei an der Zeit gewesen, dem Ärger einmal «Luft zu machen».

Ein Sprecher des Kultusministerium erklärte, der Brief sei eingegangen und werde «zeitnah beantwortet». Piazolo stehe in regelmäßigen Austausch mit Vertretern der Schulleitungen. «Wichtig ist es, den Herausforderungen der Pandemie flexibel und pragmatisch zu begegnen und gemeinsam bestmögliche Lösungen zu finden.»

„Seit einem Jahr fungieren Schulleiterinnen und Schulleiter als Feuerwehrleute eines Dauerfeuers“

Seit dem 1. Februar sind Abiturklassen von Gymnasien, Fachoberschulen (FOS) und Berufsoberschulen (BOS) sowie Abschlussklassen beruflicher Schulen, die bald ihre Abschlussprüfungen schreiben, zurück an den Schulen. Am Montag folgen Grundschüler sowie die Abschlussjahrgänge aller anderen allgemeinbildenden Schulen wie Real-, Mittel- und Wirtschaftsschulen. Gleiches gilt für Kinder und Jugendliche, die entsprechende Stufen an Förderschulen besuchen. In Corona-Hotspots müssen die Schüler allerdings weiter von zu Hause aus lernen. dpa

Im 'Wortlaut

Sehr geehrter Herr Staatsminister Dr. Michael Piazolo,

die Corona-Pandemie stellt Sie als Entscheidungsträger und nahezu alle Menschen seit einem Jahr vor immens große Herausforderungen und verlangt den unterschiedlichsten Berufsgruppen ein hohes Maß an Engagement, Flexibilität und zusätzlichem Einsatz ab. Die Schulen und das gesamte Schulpersonal sind davon nicht ausgenommen. Sich diesen Herausforderungen zu stellen, ist gerade für die Verantwortlichen vor Ort, die RektorInnen und KonrektorInnen der Grund- und Mittelschulen, eine Selbstverständlichkeit.

Jedoch ist nun in Woche 14 des Lockdowns die Grenze der Belastbarkeit und vor allem auch der Realisierbarkeit bei den Schulleitungen erreicht und wurde in den letzten Wochen und Monaten mehrfach weit überschritten. Es ist endgültig an der Zeit, dass Sie als Dienstherr die Situation für Schulleitungen verbessern und den Anforderungen entsprechend Entlastung schaffen.

Wir Schulleitungen brauchen endlich Verlässlichkeit und Planungssicherheit, aber vor allem auch autonomen und flexiblen Entscheidungsspielraum für die eigene Schule.

Seit einem Jahr fungieren Schulleiterinnen und Schulleiter als Feuerwehrleute eines Dauerfeuers. Sie erstellen in Rekordgeschwindigkeit ständig neue Stundenpläne, Hygienekonzepte, Raumkonzepte, Unterrichtskonzepte, Organisationsstrukturen, digitalisieren ihre Schulen, organisieren Fort- und Weiterbildung des Kollegiums, stellen wöchentliche Reihentestungen für das Schulpersonal auf die Beine, prüfen ärztliche Atteste zur Maskenpflicht, kontrollieren die Einhaltung von Einreiseverordnungen, integrieren Teamlehrer, verhandeln und kommunizieren mit Sachaufwandsträgern, Eltern, Schülern, Horten, Mittagsbetreuungen, externen Partnern.
Die Liste der zusätzlichen Aufgaben ließe sich problemlos fortsetzen. Das ist für alle Beteiligten sehr anstrengend, zermürbend und ein unhaltbarer Zustand.
Die Infektionszahlen sinken seit geraumer Zeit. Das Ziel, die Rückkehr der Schülerinnen und Schüler in den Präsenzunterricht, in welcher Form auch immer, ist nicht mehr neu.

Warum aber müssen die Schulleitungen der Grund- und Mittelschulen bis drei Werktage vor Wiederaufnahme des Schulbetriebs auf die dann noch immer unvollständigen Umsetzungsvorgaben warten?

In Ihrer Pressekonferenz am 4. Februar 2021 sagten Sie, die Pläne für jedes denkbare Szenario, lägen in Ihrer Schublade. Sie hielten es jedoch für falsch, dazu bereits Angaben zu machen. Gleichzeitig informierten Sie die Schulen schriftlich, dass ein detaillierter Plan für die Umsetzung erst am Freitag, den 12. Februar herausgegeben werden kann. Doch die OWA-Postfächer, die seit Monaten verpflichtend täglich zu checken sind, blieben leer!
Am Mittwoch, den 17. Februar 2021, erhielten die Schulen nun das lang ersehnte entsprechende Schreiben und Schulleiterinnen und Schulleiter in ganz Bayern waren entsetzt. Eine Umsetzbarkeit innerhalb von drei Tagen ist unmöglich und wenn es überhaupt gelingen sollte, dann nur mit einem extremen Aufwand an Mehrarbeit, unzähligen Nachtschichten und einer Durcharbeit über das Wochenende.

Um nur ein Beispiel der Unmöglichkeit der Umsetzung an den Grundschulen herauszugreifen: An den Grundschulen starten alle Jahrgangsstufen stundenplanmäßig im Wechselunterricht. Gleichzeitig wird das Angebot zur Notbetreuung in vollem Umfang beibehalten. Ihre Ideen, schon zur räumlichen Umsetzbarkeit, lesen sich bereits abenteuerlich. Die Anregungen zur personellen Umsetzbarkeit sind schlicht und ergreifend in der Kürze der Zeit keinesfalls realisierbar. Da wohl auch Ihnen bewusst ist, dass beim Wechselunterricht alle Lehrkräfte mit vollem Stundenumfang eingesetzt sind, schlagen Sie u.a. eine kurzfristige Neueinstellung schulfremden Personals vor. Natürlich vergessen Sie hier den Hinweis nicht, dass doch bitte der Masernschutz und vor allem ein polizeiliches Führungszeugnis vor dem Einsatz vorliegen muss.

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Piazolo, mit Verlaub, haben Sie schon einmal innerhalb von drei Tagen passendes Personal gesucht, Vorstellungsgespräche geführt, die Personalentscheidung getroffen, Formalitäten geklärt und zuletzt einen Vertrag geschlossen? Alleine die Beantragung eines polizeilichen Führungszeugnisses nimmt mindestens zwei Wochen in Anspruch!

Auch diese Liste „Beispielen der Unmöglichkeit“ ließe sich endlos fortsetzen.

Mit den angefügten Elternbriefen, die umgehend verpflichtend zu verteilen sind, gießen Sie zusätzlich noch Öl ins Dauerfeuer und nehmen den Schulen jegliche Autonomie und Flexibilität!

So unklar, vage und oft unrealistisch die Aussagen im Schul- KMS sind, so klar und deutlich schreiben Sie den Eltern, wie der Betrieb nun wieder startet.

Auch hier soll nur ein kurzes Beispiel herausgegriffen werden:
Sie versprechen den Eltern der Abschlussschüler an Mittelschulen neben dem geregelten Unterrichtsbetrieb auch das Stattfinden der Ganztagsbetreuung oder der Mittagsbetreuung.

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Piazolo, haben Sie schon einmal eine Mensa für zehn bis zwanzig Schülerinnen und Schüler betrieben? Haben Sie schon einmal einen Caterer gefunden, der täglich diese geringe Anzahl an Schüleressen zubereitet und liefert?
Außerdem schlagen Sie doch selbst vor, die personellen Ressourcen der Kooperationspartner von Ganztag und Nachmittagsbetreuung beispielsweise in der Notbetreuung einzusetzen, andererseits verplanen Sie mit Ihrer Ansage bereits das Personal an dieser Stelle. Den Schulleitungen ist damit schon wieder ein letzter personeller Handlungs- und Planungsspielraum genommen.

Ihre Entscheidungen wurden in diesen Wochen wieder einmal weit ab der Schulpraxis und -realität getroffen! Schulleitungen in ganz Bayern sind von Ihnen in dieser Woche einmal mehr an vorderster Front ins Dauerfeuer geschickt worden. Sehr geehrte Damen und Herren, das verfügbare Löschwasser geht zuneige.

In der gleichen Woche, in der Sie Schulleitungen erneut vor nahezu unlösbare Aufgaben stellen, drohen Sie denselben mit der Dienstaufsicht, wenn diese versuchen ihrer Fürsorgepflicht für Schüler*innen, Eltern und Lehrkräfte nachzukommen. Den Schulleiterinnen und Schulleitern, die auf Basis der täglichen Erlebnisse, unzähliger Gespräche und Erfahrungen versuchten, in Woche sechs des Distanzunterrichts, das Tempo kurzzeitig ein wenig zu drosseln, drohen Sie mit Überprüfung und Kontrolle.

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Piazolo, erneut mit Verlaub, das Drosseln des Tempos wäre Ihre Aufgabe gewesen, es wäre Ihre Fürsorgepflicht für die gesamte Schulfamilie gewesen! Dieser sind Sie nicht nachgekommen, leider war das Gegenteil der Fall!
Wertschätzung und Anerkennung für die bereits geleistete und aktuell zu leistende Arbeit sieht anders aus!

Der Bayerische Schulleitungsverband fordert Sie auf, der Schulrealität endlich ins Auge zu blicken und endlich zu handeln.

Wir fordern:

1. Freistellung der Schulleitungen von ihrer Unterrichtsverpflichtung, um Zeit für die Bewältigung aller anfallenden Aufgaben zu gewinnen.
2. Autonomen und flexiblen Handlungsspielraum für Schulleitungen, die eine Anpassung Ihrer Entscheidungen an die Gegebenheiten vor Ort an den Einzelschulen ermöglicht.
3. Eine verlässliche Kommunikation zwischen Ministerium und Schulen.
4. Eine realistische Planbarkeit Ihrer Maßnahmen mit entsprechendem zeitlichem Vorlauf.
5. Die Anerkennung, Wertschätzung und Rückendeckung, die Schulleitungen verdient haben.

Wie eingangs gesagt, ist es für uns Schulleitungen eine Selbstverständlichkeit, dass wir uns den Herausforderungen dieser Pandemie stellen und sie verlässlich meistern.
Das beweisen wir seit einem Jahr täglich!
Aber jetzt sind Sie dran!
Beweisen Sie Verlässlichkeit und kommen Ihrer Fürsorgepflicht nach!
Schützen Sie Ihre Feuerwehrleute der vordersten Front!

Mit freundlichen Grüßen
Cäcilia Mischko
Landesvorsitzende

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3 Kommentare
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GriasDi
3 Jahre zuvor

Nicht nur diese Vorgaben seitens des Kultusministeriums sind völlig utopisch. Aber das interessiert in den Ministerien ja niemanden.

dickebank
3 Jahre zuvor
Antwortet  GriasDi

Ja und, im real existierenden Sozialismus sind die Fünf-Jahres-Pläne auch immer übererfüllt worden. Im Schulsystem sind es eben die spiralförmigangelegten Kernlehrpläne. Und spiralförmig bedeutet halt, dass eine senkrecht zu den Radien auseinandergezogene Spirale zu einem Trichter wird. Der Nürnbergertrichter des intrinsisch geleiteten Kompetenzerwerbs ist der Kernlehrplan.

Um zu wissen, dass man nichts weiß, bedarf es einer langen und gut strukturierten Lernzeit.
Um nicht zu wissen, dass man eigentlich nichts weiß, bedarf es eines Schulsystems, welches in den 16 Bundesländern im starken föderalen Wettbewerb weitestgehend perfektioniert worden ist.
Nescio me nesscire – oder so.

Teacher Andi
3 Jahre zuvor

Endlich regt sich mal etwas Widerstand. Bislang waren die hohen Damen und Herren des Kultusministeriums doch eher unfehlbar und gefälligst nicht zu kritisieren. Es ist sicher nicht alles schlecht, was von da „oben“ kommt, aber dieser träge Bürokratie-Apparat war noch nie ein Segen für die Schulen und jetzt merkt man dies besonders deutlich. Schulen müssen deutlich mehr Eigenverantwortung zugestanden bekommen, gewisse Dinge muss man einfach vor Ort und schnell entscheiden. Aber erfahrungsgemäß werden selbst Einwände und alternative Vorschläge von Schulleitern abgewiegelt. Kritik seitens der Lehrer wird schon gar nicht ernst genommen und im schlimmsten Fall wirkt sich diese sogar negativ auf deren Karriere aus. Ich denke, diese Zeiten der Erhabenheit sollten vorbei sein. Die Lehrer und Schüler sind keine Marionetten, die man in alle Richtungen ziehen kann, so wie es gerade ins Budget und die Stimmungslage passt. Bildung sollte wieder mehr Proirität bekommen, immerhin war sie „unser höchstes Gut“ bei Amtsantritt unserer geschätzten Kanzlerin. Allerdings hat man danach von dieser Aussage nicht mehr viel gemerkt.
Herr Piazolo ist sicher ein heller Kopf und eine Kapazität in seinem Bereich, aber nicht im Kultusministerium. Hierher gehören Fachleute mit einschlägigen Kenntnissen und Erfahrungen im Bildungs- und Erziehungsbereich, keine Theoretiker. Schule sollte kein Versuchsobjekt für ministerielle Eitelkeiten sein. Es ist auch nicht angebracht, wenn man auf Druck der Eltern den Lehrern immer wieder neue Aufgabe zumutet. Irgendwann ist das Ende der Fahnenstange erreicht, und das wird jetzt in der Coronakrise sehr deutlich. Allein schon die Streichung der Faschingsferien (Druck seitens der Eltern?) zeugt von der mangelnden Wertschätzung der Arbeit der Lehrer. Auch hier hätte jede Schule individuell entscheiden können, je nach Voraussetzung, sofern vorhanden. Es kann nicht sein, dass die Schule nun auf die Aufgabe reduziert wird, die Kinder in Obhut zu nehmen, weil die Eltern z.B. arbeiten gehen müssen. Wir haben eine Pandemie, und es muss einfach bessere Lösungen geben. Herr Piazolo und seine Berater haben die Bandbreite der Situation nicht so ganz im Blick.