didacta: „Berufsbildende Schulen müssen endlich raus aus dem Schattendasein“

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STUTTGART. Bis morgen noch läuft Europas größte Bildungsmesse didacta – erstmals (coronabedingt) als reine Online-Veranstaltung. Ein Thema dabei: moderne Unterrichtskonzepte an berufsbildendenden Schulen. Am Rande der Messe sprachen wir mit Joachim Maiß, dem Vorsitzenden des Bundesverbands der Lehrkräfte für Berufsbildung (BvLB). Er meint: Die Corona-Pandemie hat berufsbildende Schulen rund fünf Jahre digitaler Unterrichtsentwicklung aufholen lassen. Dennoch fehle es weiterhin an notwendiger Infrastruktur wie Gigabit-Anschlüssen, ausreichend Lehrkräften und finanziellen Mitteln.

Leiter der Multi Media BbS Hannover – und Vorsitzender des BvLB: Joachim Maiß. Foto: didacta

Herr Maiß, der Monitor Digitale Bildung der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2016 hat laut den Autoren der Studie gezeigt, dass digitale Bildung im dualen Ausbildungssystem in Deutschland noch am Anfang steht. Was hat sich hier seit 2016 getan?

Maiß: Die Grundvoraussetzungen für eine digitale Schule sind ein Gigabit-Breitbandanschluss, entsprechende Endgeräte für alle und vor allem eine Plattform, auf der ich kommunizieren kann. Bis zum Beginn der Corona-Pandemie ist das für die breite Masse der berufsbildenden Schulen schlichtweg nicht gegeben gewesen. Die größte berufsbildende Schule in Niedersachsen beispielsweise wird erst im Jahr 2023 eine Gigabit-Anbindung erhalten. Die Situation ist deutlich besser geworden, weil Corona der Digitalisierung einen Push gegeben hat. Ich behaupte, wir haben dadurch fünf Jahre gewonnen.

Kostenlose Teilnahme

Erfolgreich ist Europas größtes Bildungsevent, die Bildungsmesse didacta, gestartet. Sie findet aufgrund der Corona-Pandemie bis Mittwoch, 12. Mai, erstmals als rein digitale Veranstaltung statt.

Die didacta sollte eigentlich in Stuttgart stattfinden – jetzt digital. Foto: Koelnmesse

Das Interesse des Fachpublikums ist hoch, „bislang haben sich mehr als 25.000 Gäste für das Vortragsprogramm mit rund 200 Veranstaltungen in den verschiedenen Internet-Foren registriert“, freute sich Stefan Lohnert, Geschäftsführer der Messe Stuttgart.

Auf sechs Aussteller- und Partnerbühnen präsentieren BranchenvertreterInnen informative Vorträge, inspirierende Live-Talks und Diskussionsrunden zu den Themen „Frühe Bildung“, „Schule und Hochschule“, „Berufliche Bildung“ und „Weiterbildung“ sowie „digitales Lernen“. Die Teilnahme ist kostenlos.

Eigentlich sollte der Digitalpakt Schule hier Abhilfe schaffen: Welche Auswirkungen hatte er auf die berufsbildenden Schulen? Immerhin läuft der Digitalpakt ja nun seit knapp zwei Jahren.

Maiß: Das Geld aus dem Digitalpakt ist da. Die rein organisatorischen Umsetzungen bei den Schulträgern sind in weiten Bereichen getroffen worden, die Wirtschaftsförderungen sind auch aktiv. Wir haben aber ein ganz banales Problem: Es fehlen die Leute mit dem Bagger und der Schaufel, die den Breitbandanschluss an die Schulen bringen. Alternativ setzen die Telekommunikationsanbieter in der aktuellen Situation auf den Ausbau von 5G, um wenigstens in dieser Übergangszeit eine Lösung zur Verfügung zu stellen. Es ist also schon einiges passiert, aber letztlich brauchen wir nicht nur Lösungen für die Schulen, sondern auch für die Auszubildenden, die zu Hause auf Distanz lernen. Ich schätze, dass auch nach Corona um die 20 Prozent der Auszubildenden in dieser Form unterrichtet werden, weil das im Rahmen der Entwicklung der Medienkompetenz ganz entscheidende Vorteile hat.

Was müsste sich an beruflichen Schulen neben der technischen Anbindung noch ändern, um die Schülerinnen und Schüler auf die Arbeitswelt 4.0 vorzubereiten?

Maiß: Corona bietet uns die einmalige Möglichkeit, grundsätzlich Schule neu zu denken. Ein Professor hat es mal so plastisch beschrieben: Was wir in Schulen und in berufsbildenden Schulen machen, ist wie Postpferde dressieren. Es sitzen 24 Schülerinnen und Schüler in einer Klasse und wir versuchen, alle möglichst gleich zu beschulen. Der große Vorteil, den wir jetzt unter Corona auch gespiegelt bekommen, ist, dass wir viel mehr individuelles Lernen ermöglichen, einfach durch die entsprechende Digitalisierung. Wir können besser auf die Besonderheiten der einzelnen Schülerinnen und Schüler und auf die Besonderheiten der Ausbildungsberufe und Betriebe eingehen. Hier ist ein ganz großes Handlungsfeld gegeben. Wir sollten auch stärker auf offene Unterrichtsformen setzen, die allerdings ganz andere Schulgebäude brauchen, also Open Learning Center. Das werden alles Dinge sein, die wir in nächster Zeit brauchen, um die Future Skills zu vermitteln, die von der Wirtschaft mehr und mehr gefordert werden.

Welche Skills sind das?

Maiß: Hierbei geht es um übergreifendes Wissen, problemlösendes Handeln, kreatives Handeln, aber auch um Resilienz und die Frage, wie gehe ich mit Konfliktsituationen um. All das werden Themen sein, für die wir keine Postpferde brauchen sondern die Lippizaner. Und dafür brauchen wir Lehrkräfte, die auf der Klaviatur des Digitalen perfekt spielen können, die im pädagogischen Prozess, der in Schule immer noch zwingend notwendig ist, die richtigen Methoden anwenden können.

In diesem Jahr steht die Bundestagswahl an. Was erwarten Sie von der Politik in Richtung berufsbildende Schulen?

Maiß: Die berufsbildenden Schulen müssen endlich raus aus dem Schattendasein. Die berufliche Bildung ist in den Köpfen der Politik noch nicht so verankert, als dass die Bedarfe   automatisch mitgedacht werden und die vielfältigen Möglichkeiten und Chancen für die jungen Menschen gesehen werden.

Den Sonntagsreden müssen Taten folgen. Die daraus abzuleitenden Handlungsnotwendigkeiten liegen klar auf dem Tisch: Wir haben in vielen Bundesländern eine Unterrichtsversorgung, die deutlich unter 100 Prozent liegt. In Niedersachsen beispielsweise fehlen 1.000 Berufsschullehrkräfte, die Unterrichtsversorgung liegt hier bei 90 Prozent. In den Gymnasien diskutieren wir – in Anführungszeichen – über 99,5 Prozent oder 101 Prozent. Die berufsbildenden Schulen sind in weiten Bereichen deutlich unterfinanziert.

Das betrifft einerseits Personalschlüssel, aber auch die finanzielle Ausstattung. Die Lehrerausbildung muss auf andere Füße gestellt werden, gerade auch in puncto Digitalisierung und E-Didaktik. Digitale Ausbildung an der Hochschule besteht häufig noch aus dem Word- und Excel-Kurs, ist aber längst nicht das, was ich als Schulleiter einer Berufsbildenden Schule von den Absolventinnen und Absolventen erwarte, wenn es darum geht, digitale Möglichkeiten in den Unterricht zu integrieren. News4teachers

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2 Kommentare
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Rapunzel
2 Jahre zuvor

Manchmal muss man auch ein Lob auszusprechen: Am Studienseminar Göttingen für das Lehramt an berufsbildenden Schulen wird digitale Lehrerbildung wirklich gelebt. Ich wurde hier ausgebildet und habe zum Mai mein Ref. beendet. Da können sich andere eine Scheibe abschneiden.

Dil Uhlenspiegel
2 Jahre zuvor
Antwortet  Rapunzel

… oder wiederbelebt?