Nachholbedarf: Nach dem Lockdown kommt für viele Kinder jetzt der Freizeitstress

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NÜRNBERG. War was? Kaum ist die Normalität zurück, steckt man wieder im Termin-Hamsterrad – als hätte es Corona nie gegeben. Es muss ja so viel nachgeholt werden. Oder nicht?

Erst war lange nix – jetzt drängt die Zeit. Foto: Shutterstock

Endlich ist es wieder wie früher: Die Kinder gehen täglich zur Schule und in die Kita, nachmittags geht es zum Turnen, zum Fußball oder zum Musikunterricht. Doch auf einmal ist auch der Stress wieder da, neben Arbeit, Haushalt und eigenen Terminen auch noch die der Kinder unter einen Hut zu bringen.

Während sich die Kinder während des Lockdowns einfach spontan auf dem Spielplatz oder dem Hinterhof trafen, müssen die Verabredungen jetzt wieder von langer Hand geplant werden. Denn die Nachmittage vieler Familien sind voll gepackt. «Wir schaffen es heute leider nicht», lautet inzwischen die Standard-Antwort vieler Eltern, gefolgt von einer langen Liste mit To-Dos wie Kieferorthopäde, Schuhe kaufen, Musikunterricht mit dem einen Kind, weiter zum Schwimmkurs mit dem anderen, danach Hausaufgaben.

«Es ist die Hölle», sagt eine Nürnberger Mutter, die zwei Kinder im Grundschulalter hat. Um alles zu schaffen, hat sie sich erstmal ein paar Tage Urlaub genommen. Von null auf tausend, von jetzt auf gleich – so erlebt gerade die Bloggerin Lisa Harmann die wiedererlangte Normalität nach dem Lockdown. «Unfassbar, was da grad plötzlich wieder alles los ist!», schreibt sie in ihrem Blog «Stadt Land Mama» und fragt sich, ob vorher auch schon so viel war. Folgt nach dem monatelangen Nicht-Können jetzt das Alles-Auf-Einmal-Wollen?

Der Post SV in Nürnberg, einer der größten Sportvereine in Bayern, spricht jedenfalls von einem Ansturm auf die Kindersportkurse. Auch der Deutsche Schwimmlehrerverband sieht sich vor einer Flut von Anfragen: Bis zu 500 gingen täglich bei den Schwimmschulen ein, sagt Präsident Alexander Gallitz.

Die Anfragen seien auch flehender, hat Friederike van der Laan vom Eimsbüttler Turnverband in Hamburg festgestellt. Viele Eltern schrieben, dass ihr Kind den Platz im Sport- oder Schwimmkurs dringend benötige.

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Dass viele Kinder und Jugendliche jetzt wieder große Lust auf Vereinssport haben, freut Alexandra Langmeyer vom Deutschen Jugendinstitut in München. «Über das letzte Jahr hat man gesehen, dass die Kinder unter Folgen wie Bewegungseinschränkungen und Gewichtszunahme litten.» 70 000 Kinder haben nach Einschätzung der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft im vergangenen Jahr nicht Schwimmen gelernt.

«Ich befürchte, dass jetzt nicht nur in der Schule Vollgas gegeben wird, sondern auch in der Freizeit.»

Natürlich wollen Eltern, dass ihre Kinder all das Verpasste nun möglichst schnell nachholen können – auch mit Blick auf eine mögliche vierte Welle im Herbst. Und das macht Fachleuten wie Langmeyer auch Sorgen. «Ich befürchte, dass jetzt nicht nur in der Schule Vollgas gegeben wird, sondern auch in der Freizeit.» Doch das schade eher, weil Kinder auch Freiräume und Erholung bräuchten.

Eltern sollten sich nach Ansicht von Heidemarie Arnhold vom Arbeitskreis Neue Erziehung in Berlin von der Idee verabschieden, nun all das zu machen, was in den vergangenen Monaten nicht ging. «Das ist nicht aufzuholen. Das ist schon allein von der Aufnahmekapazität nicht möglich.» Eltern sollten stattdessen ihre Kinder dabei unterstützen, sich wieder an den neuen Alltag zu gewöhnen.

Das fällt auch vielen Erwachsenen schwer – vor allem, wenn nach der Zwangspause im Lockdown das volle Leben ungebremst wieder auf einen zukommt. «Die Eltern machen sich selbst totalen Stress. Sie sind oftmals ausgebucht und fahren die Kinder noch von A nach B», meint die Familientherapeutin Ursula Eberle von der Stadtmission Nürnberg und rät: «Man muss sich den Druck nehmen.» Also auch mal bewusst auf etwas verzichten und statt vielen nur noch ein bis zwei Hobbys die Woche einplanen.

In dieser Hinsicht hat die Corona-Krise vielleicht auch etwas Gutes gehabt. «Viele Familien haben im Lockdown gelernt, die Zeit miteinander zu genießen und auch das Kleine zu schätzen», meint Langmeyer. Eine Entschleunigung, die nach Ansicht von Familientherapeutin Eberle ruhig noch weiter anhalten kann. Irena Güttel, dpa

Macht diese Gesellschaft ihre Kinder kaputt? Immer mehr Schüler klagen über zu hohen Leistungsdruck in der Schule

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Dil Uhlenspiegel
2 Jahre zuvor

Ich fürchte, die psycho-sozial stabilisierende Wirkung des Präsenzunterrichts ist schon dahin … können wir heut nicht 5 min. früher Schluss machen, weil die 6. fällt aus und nachmittags auch, voll genial!

Rosa
2 Jahre zuvor

Die G8 Schüler brauchen nicht noch bei einem verkürzten Schuljahr noch Zusatzstunden. Es braucht eine wohlwollende persönliche Entwicklungszeit und persönliche Entfaltungsmöglichkeiten. Der Bildungsverlust braucht eine angemessene Aufholzeit für G8 Schüler in BW. Die heranwachsende Generation waren sehr lange ausgebremst und benötigen
Zeit sich in der neu aufgestellten Schulgemeinschaft und in der Freizeit zurecht zu finden. Der Ausnahmezustand hat jegliche Lebensfreude lahm gelegt und Jugendlichen keine Möglichkeit sich mit gleichaltrigen zu erfahren. Dies muss alles neu erlernt werden und die Lernrückstände brauchen ein tragendes Konzept. Der weitere Entwicklungsweg und Lebensabschnitt braucht wohlwollende Entscheidungen um der Bildungsschere gerecht zu werden. Herr Kretschmann und Frau Schopper müssen einen neiuen Bildungsweg einschlagen um dieser außergewöhnlichen Lebensphase der Schülergeneration und deren Eltern gerecht werden. Abschied nehmen vom gut verkauften Flickenteppich, von nur sozial schwachen zu sprechen und die anderen Schüler leer ausgehen zu lassen, die Zusatzstunden in ein verkürztes Schuljahr nicht hinein passen und jegliches Freizeitleben erstickt. Frau Eisenmann hat kein respektvolle Zusammenarbeit auf Augenhöhe angestrebt und der personelle Wechsel sollte zu einer Verbesserung beitragen, die mit großer Sehnsucht von Schulen erwartet wird. Fairer Kampfgeist ist für eine Schülergeneration gefragt um stabile Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen.

Rosa
2 Jahre zuvor

Wie wollen wir Lernzeitverluste in BW aufarbeiten und welche Möglichkeiten werden den Schulen und Schülern von Herrn Kretschmann und eine zurückhaltende Frau Schopper angeboten nach dieser langen außergewöhnlichen Lebensphase. Einsatzbereitschaft wird wenig gezeigt und es gibt nur ein Trostpflaster und dies reicht nicht aus um die tiefe Bildungsschere aufzuarbeiten. Welche Gegenlegenheit hat Frau Schopper ergriffen? Lehramtstudenten werden nur in sozial schwachen gebieten eingesetzt. Blindheit Frau Schopper bringt uns nicht weiterund es hat alle sozialen Schichten getroffen. Dies muss von der KM Frau Schopper mit aller Ehrlichkeit anerkannt werden. Die Fußstapfen von Frau Eisenmann müssen nicht weiter verfolgt werden und haben keinen Beitrag geleistet zur Verbesserung. Der Flickenteppich ist schon veraltert und G8 hat ausgedient und darf entsorgt werden. Frau Schopper treten Sie hervor und zeigen einer vergessenen Generation und allen sozialen Schichten einen fairen Weg. Sie sind auch Mutter und können sich vorstellen wie es uns ausgelaugten Müttern geht.
https://www.phv-bw.de/phv-vorschlaege-zur-bewaeltigung-der-corona-lernzeitverluste/

MeinSenf
2 Jahre zuvor

Dieses Durchplanen des Alltags, auch schon der Kleinsten habe ich noch nie verstanden. Ich bin der Meinung, dass Kinder auch echte FREIzeit brauchen und nicht an jedem Nachmittag volles Programm, wie ich das heute bei vielen miterleben darf.
Kinder brauchen Zeit für Spontaneität, für Kreativität und ja, auch für Langeweile, aus der doch oft die tollsten Ideen und schönsten Erlebnisse entstehen. Auch dann lernen Kinder! Sie sollten doch auch Zeit haben, die Welt ganz allein zu erforschen, so können sie vielleicht auch bisher verborgene Talente und Interessen entdecken.
Hobbys sind etwas Tolles, ob im Verein oder einfach mit Freunden. Aber ich frage mich, ob wirklich jeder Nachmittag verplant sein muss (natürlich ist das nicht bei jedem Kind so). Wie oft habe Schüler, die, ganz verzweifelt sind, weil sie in Stresszeiten keinen Platz mehr in ihrem Zeitplan haben, um zur Not doch etwas mehr für die Schule zu tun (ich rede von G9, bei G8 bleibt ja so schon kaum Zeit übrig). Dann müssen sie sich quasi ‚freischaufeln, was sie auf der anderen Seite dann noch mehr unter Strom setzt, denn oft mögen sie ihre vielen Hobbys ja und haben dort dann ein schlechtes Gewissen, weil sie das dann vernachlässigen müssen.
Klar gibt es Kinder und Jugendliche , die es genau so wollen und auch gut damit klar kommen, aber bei vielen habe ich eher den Eindruck, dass sie jeden Nachmittag einen anderen Termin haben, vom Sport über Musikschule, weil viele Eltern nicht möchten, dass ihr Nachwuchs etwas verpasst und dadurch eventuell Nachteile haben könnte. Die Kids kennen es dann gar nicht anders.
Ich denke, diese Kinder verpassen ein Stück Kindsein, einfach Fahrradfahren bis es dunkel wird, durch die Natur streifen, ohne Ziel und spannende Stauexperiment am Bachlauf machen (ja, ich wohne seeehr ländlich) mit Freunden auf die dümmsten Ideen kommen oder gemeinsam Hütten und Zelte bauen, sich bei schlechtem Wetter langweilen und dann doch zum Buch greifen oder ein tolles Bild malen und vieles mehr.

Meine Kindheit war so, trotz Verein und Musikschule und so versuche ich sie auch meinem Kind zu gönnen.

MeinSenf
2 Jahre zuvor

Nachtrag:
Es wird jetzt fast so getan als ob alle Kinder während Corona im künstlichen Koma gelegen hätten und in keinem Bereich mehr Erfahrungen hätten sammeln können, als ob sie nichts dazugelernt, nichts erlebt hätten. Klar war vieles anders, klar musste auf viel verzichtet werden, natürlich konnten viele Dinge nicht gemacht werden, aber deshalb haben die Kinder sich doch trotzdem weiterentwickelt. Sie haben doch nicht plötzlich aufgehört Erfahrungen zu machen, nur weil Corona uns alle eingeschränkt hat.
Vielleicht waren die Erfahrungen nur anders als erwartet, anders als geplant, aber nichtsdestotrotz waren es Erfahrungen und daran sind viele von uns doch auch gewachsen, die Kinder doch ebenso!
Warum wird häufig so getan als hätten wir während der ganzen Zeit quasi im Stilltand verbracht? Manches muss und sollte sicher nachgeholt und aufgearbeitet werden, aber bei vielem geht das doch gar nicht. Vielleicht muss es das auch gar nicht, denn gelebt haben wir alle ďoch trotzdem, auch die Kinder haben das und viele unerwartete und ungeplante Dinge erlebt und erfahren.

jedimeisterin
2 Jahre zuvor

<<<Das fällt auch vielen Erwachsenen schwer – vor allem, wenn nach der Zwangspause im Lockdown das volle Leben ungebremst wieder auf einen zukommt. «Die Eltern machen sich selbst totalen Stress. Sie sind oftmals ausgebucht und fahren die Kinder noch von A nach B», meint die Familientherapeutin Ursula Eberle von der Stadtmission Nürnberg und rät: «Man muss sich den Druck nehmen.» Also auch mal bewusst auf etwas verzichten und statt vielen nur noch ein bis zwei Hobbys die Woche einplanen.<<<

Wenn Kinder älter sind, so ab Ende Grundschulalter, können die selber von A nach B fahren, um zu einer Verabredung oder zum Sportverein zu kommen. Hobbies so wählen, dass Kinder später alleine dorthin kommen. Das sollte vor und nach Corona weiterhin so sein. Diesen Stress hatte ich mir vor Jahren auch nicht angetan. Nur in Ausnahmefällen wurde Kind zum
Sport gefahren, wenn mal die Busse nicht fuhren oder es aus allen Kannen geregnet hatte.
Aktuell habe ich für meine Jüngsten (mehrfachbehindert durch Autismus) einen Betreuer, der ihn zum Sport begleitet und betreut. Das war schon vor Corona so. Ich fahre nur in Ausnahmefällen (wenn der Betreuer mal nicht da ist). Ich habe weder die Zeit noch die Energie dafür. Da für fahre ich meine Jüngsten zu seiner Therapie, wo ich fast drei Stunden unterwegs bin mit allem drum und dran, 1x die Woche. Das langt mir.