Ist zusammen lernen doch das bessere pädagogische Konzept? Erste Gemeinschaftsschule in Sachsen

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DRESDEN. Viele Jahre wurde erbittert um Gemeinschaftsschulen im Freistaat Sachsen gestritten – zum neuen Schuljahr werden nun die ersten Modelle umgesetzt. Für Eltern und Kinder entfällt damit die oft quälende Frage, wie es nach der vierten Klasse weitergeht.

Nach der Grundschule gemeinsam unterrichten – oder trennen? Diese Frage spaltet die Pädagogik in Deutschland seit gut 50 Jahren. Foto: Shutterstock

Ein bunt angemalter Container auf der grünen Wiese: Im Leipziger Stadtteil Grünau geht im neuen Schuljahr Sachsens erste Gemeinschaftsschule an den Start – die Leipziger Modellschule. Der bunte Container ist Anlaufstelle und Ort für Projekte, später soll auf dem Gelände der Bildungscampus der Gemeinschaftsschule entstehen. Ab September lernen zunächst in angemieteten Räumen 50 Mädchen und Jungen klassenübergreifend von der ersten bis zur dritten und von der vierten bis zur sechsten Klasse. «Damit entfällt in der vierten Klasse die Entscheidung, welche weiterführende Schule das Kind besucht», sagt Schulleiterin Birgit Kilian.

In der neunten Klasse wird dann gemeinsam mit den Eltern beraten, welcher Abschluss zum Kind passt

Vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur – sämtliche Abschlüsse können künftig an der Modellschule abgelegt werden. Je nach Potenzial und Leistungsstand lernen die Kinder zwar gemeinsam, aber mit verschiedenen Aufgaben. «Das kann auch von Fach zu Fach unterschiedlich sein», erklärt Kilian. So könnten die Kinder beispielsweise im Fach Deutsch auf Gymnasialniveau lernen, Mathematik auf dem Niveau der Oberschule. In der neunten Klasse werde dann gemeinsam mit den Eltern beraten, welcher Abschluss zum Kind passt.

Das hauseigene Motto «Gute Bildung für alle» lasse sich als Gemeinschaftsschule viel besser umsetzen, betonte Initiatorin und Vereinsvorsitzende Gerlind Große. «Deshalb freuen wir uns unheimlich, dass wir diesen Weg gehen können.» Dieser sei lang und herausfordernd gewesen. Der freie Träger hatte Ende Juli nach Angaben des Kultusministeriums die Genehmigung für das neue Schuljahr bekommen. Zudem wird die freie Oberschule in Großnaundorf (Landkreis Bautzen) zu einer «Oberschule Plus», die künftig in Kooperation mit einer Grundschule längeres gemeinsames Lernen von der ersten bis zur zehnten Klasse erlaubt. Auch die Kurfürst-Moritz-Schule in Boxberg sowie die Dresdner Universitätsschule haben bereits Interesse bekundet. Die inklusiv und digital arbeitende Modellschule der Uni Dresden ist die wohl spannendste Schulneugründung in den vergangenen Jahren in Deutschland, wie News4teachers berichtet.

Vor gut einem Jahr hatte der Sächsische Landtag für ein neues Schulgesetz und damit die Gemeinschaftsschule gestimmt – unter Auflagen. Der Einigung ging ein jahrelanger erbitterter Streit voraus: Grüne, SPD und Linke befürworteten die Gemeinschaftsschule, die CDU lehnte sie ab. Die Kenia-Koalition verständigte sich schließlich auf eine Einführung. Vorangegangen war ein Volksantrag, den mehr als 50.000 Menschen unterschrieben. Auf Druck der CDU wurden allerdings für die Umsetzung Hürden eingebaut, die nach Expertenansicht längeres gemeinsames Lernen erschweren. So muss es an den Schulen etwa eine Mindestanzahl von Schülern geben.

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Aus Sicht der Linken im Landtag ist es kein Zufall, dass bisher nur zwei freie Schulen nach den neuen Modellen arbeiten. Es gebe zuviel Bürokratie, als dass sich die neue Schulart gleichberechtigt und vor allem zügig entwickeln könne, kritisierte die Abgeordnete Luise Neuhaus-Wartenberg. Nur «extrem wenige Eltern und Schulkinder» könnten sich aktuell für längeres gemeinsames Lernen entscheiden.

«Gemeinschaftsschule zu werden, ist kein einfacher Namenswechsel», betonte Sabine Friedel von der SPD-Fraktion. Die Schulen müssten ein neues pädagogisches Konzept entwickeln, verschiedene Gremien müssten zustimmen. Das brauche Zeit. Auch einige staatliche Schulen stünden in den Startlöchern, so Friedel. «Wenn es gelingt, innerhalb der Legislaturperiode eine zweistellige Anzahl Gemeinschaftsschulen zu errichten, ist viel geschafft.»

«Ich halte es für ein gutes Zeichen, dass wir nicht hauruckmäßig zahlreiche Schulen haben»

Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU) geht davon aus, dass es im Schuljahr 2022/23 die ersten öffentlichen Gemeinschaftsschulen im Freistaat gibt. «Wir haben durchaus die ein oder andere Anfrage, die sich mit dem Gedanken tragen und wissen wollen, worauf sie achten müssen.» Mittlerweile wurde eine entsprechende Schulordnung erarbeitet und veröffentlicht. Damit hätten diejenigen, die sich auf den Weg zur Gemeinschaftsschule oder Oberschule Plus machen, auch einen Fahrplan. «Ich halte es für ein gutes Zeichen, dass wir nicht hauruckmäßig zahlreiche Schulen haben», betonte Piwarz. Das zeige, dass die Gemeinschaftsschule auf «pädagogisch hohem Niveau» und mit fundierten Konzepten vorbereitet werde.

Der Verein «Gemeinsam länger lernen» berät Schulen, die zur Gemeinschaftsschule werden wollen. «Das Interesse ist da», so Vorsitzender Florian Berndt. Das Problem seien die aus Sicht des Vereins zu hohen Hürden wie die Vierzügigkeit. «Viele Schulen haben nicht so viele Klassen.» Gerade im ländlichen Raum sei längeres gemeinsames Lernen damit schwierig.

Auch vom am 1. August 2021 veröffentlichten Schulgesetz zeigte sich der Verein enttäuscht. Dieses sieht vor, dass ab der siebten Klasse etwa in den Fächern Deutsch, Mathe und Physik je nach Leistung und Abschluss unterrichtet wird – wenn auch gemeinsam in einer Klasse. Für die Schulen sei es eine Herausforderung, für jedes Fach nach Unterricht und Klassenstufe verschiedene Aufgaben zu stellen, so Berndt. Der Verein hatte sich für eine Differenzierung je nach Abschluss erst ab der neunten Klasse eingesetzt. «Damit wirklich länger gemeinsames Lernen möglich ist.» Von Christiane Raatz, dpa

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Georg
2 Jahre zuvor

Der Erfolg dieser Schule steht und fällt mit dem Anteil guter Gymnasiasten. Nach den Erfahrungen aus zumindest NRW und Baden Württemberg bin ich erst einmal skeptisch.

Honigkuchenpferd
2 Jahre zuvor
Antwortet  Georg

Das sehe ich auch so, Georg: Wenn nebenher (gute) Gymnasien bestehen, hat jede andere Schulart mit Abiturstufe keine Chance. Daran scheiterten alle diese Versuche bisher immer.

Carsten60
2 Jahre zuvor
Antwortet  Honigkuchenpferd

Wie viele „gute“ Gymnasiasten gibt’s denn überhaupt? An den Gymnasien sind auch nur schätzungsweise 10 % als „gut“ zu bezeichnen, mehr wird’s vielleicht an privilegierten Orten oder in speziellen Klassen geben. Wenn also insgesamt 40 % aller auf Gymnasien gehen, dann haben wir vielleicht 4-6 % „gute“ SuS von allen zu erwarten. Wenn man sich die gleichmäßig verteilt denkt, dann sind in einer Schulklasse mit 30 Schülern nur 1-2 in diesem Sinne „gut“, denn 3 Schüler wären ja bereits 10 %. Das ist natürlich grob vereinfacht, deutet aber das Problem an.
Ganz schlaue Politiker wollten ja schon den Migrantenanteil in Schulklassen auf 35 % begrenzen. Sie haben nicht bedacht, dass der im bundesweiten Durchschnitt bereits knapp unter 40 % liegt und weit von einer Gleichverteilung über Stadt und Land entfernt ist. Prozentrechnng müsste man können!, bei Politikern leider eine Seltenheit.

KnechtRuprecht
2 Jahre zuvor

[Vgl. BW:]
>>Die Landesregierung baut mit den GMS-Oberstufen eine unnötige und extrem teure Doppelstruktur auf“, kritisiert der PhV-Landesvorsitzende Ralf Scholl. […]

Die bisherigen Oberstufen an Gemeinschaftsschulen seien ausnahmslos auf der Grundlage geschönter Zahlen eingerichtet worden […]

Es muss endlich für alle Gymnasien die Möglichkeit geben, sich frei entscheiden zu können, ob sie ihre Schüler in acht oder in neun Jahren zum Abitur führen wollen – oder ob sie beide Züge parallel anbieten wollen, so Ralf Scholl.

Bezüglich der Gemeinschaftsschulen kritisiert der Philologenverband weiterhin das Fehlen einer wissenschaftlichen Evaluation, die die Bildungsleistungen und Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler an dieser Schulart anhand von objektiven, nachvollziehbaren Kriterien analysiert.<<

(https://www.phv-bw.de/phv-bw-zu-ersten-abiturpruefungen-an-gemeinschaftsschulen-gms/)

Carsten60
2 Jahre zuvor

Wenn das „längere gemeinsame Lernen“ das bessere Konzept ist, dann sollte das nicht nur — je nach politischer Ausrichtung — immer wieder behauptet, sondern eben auch mal empirisch nachgewiesen werden. Kern der Behauptung ist, dass eben die Starken die Schwachen mitziehen. Es gibt aber deutliche Anzeichen dafür, dass das vom zahlenmäßigen Verhältnis zwischen den Starken und den Schwachen sehr wohl abhängt. Und eigentlich müsste das in den traditionellen Schulformen auch gelten, z.B. am Gymnasium. Wenn es also genügend viele gute Schüler in einer Klasse gibt, dann ziehen die die Schwachen mit? Wie sind die Erfahrungen? Ich glaube, das ist höchst ambivalent. Und hätten wir denn landesweit genügend viele gute Schüler, um jede Schulklasse damit „auszustatten“? Das könnte schon theoretisch unmöglich sein.

dickebank
2 Jahre zuvor

Der Vorteil für SuS der SekI liegt in der wohnortnahen Beschulung. Es entfallen mehrstündige Landkreisrundfahrten in schwächer besiedelten Räumen, in denen Landkreise auch schon einmal die flächenmäßige Größe des Saarlandes haben. Was die SekII betrifft, so bin ich für reine SekII-Schulen, die lediglich SuS nach Jahrgang 10 sowohl in einem beruflichen als auch in einem allgemeinbildenden Zweig unterrichtlich versorgen.

Heute noch gelesen, der Anteil der Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 24 beträgt rund 10% der Gesamtbevölkerung, Tendenz eher fallend. Das bietet effektive Einsparpotentiale. Es wird keine Gemeinschaftsschule aus ideologischen Gründen gegründet. Der Ruf nach Gemeinschaftsschulen in NRW kam aus CDU-geführten Landkreisen im nördlichen Münsterland und aus einigen Teilen in Südwestfalen, in denen die Schülerzahlen weit von der Gründung einer mindestens vierzügigen Gesamtschule gewesen sind. Eltern und ausbildenden Betrieben ist eine schulische Versorgung auf Gemeindeebene bzw. auf lokaler Ebene wichtig, notfalls in interkommunaler Kooperation bei der Schulträgerschaft.

Carsten60
2 Jahre zuvor
Antwortet  dickebank

„Der Vorteil für SuS der Sek I liegt in der wohnortnahen Beschulung“
Und warum liegt die Schule, die oben im Artikel vorgestellt wird, in Leipzig, einer Großstadt ? Und warum sind SPD und Grüne gerade in Berlin so gemeinschaftsschulbegeistert? Ich denke, ideologische Gründe sind sehr wohl maßgeblich. Schauen Sie mal auf die Reklameseiten der Schulministerien. An Gemeinschaftsschulen ist angeblich all das gut, was an den anderen Schulformen nicht gut ist: da wird Demokratie und Toleranz gelehrt, da wird jeder individuell gefördert, da arbeiten die Lehrer im Team usw.

Carsten60
2 Jahre zuvor
Antwortet  dickebank

„… in denen die Schülerzahlen weit von der Gründung einer mindestens vierzügigen Gesamtschule gewesen sind.“
Also zu wenige Schüler? Aber oben im Artikel steht, dass diese Gemeinschaftsschulen auch mindestens vierzügig sein müssen. Also was soll das Argument besagen?

Alla
2 Jahre zuvor

Ich bin schon seit über 40 Jahren im Schuldienst, 37 Jahre in der GS, 4 Jahre in der HS.
Ich habe schon jede „Sau“ erlebt, die in der GS „durch’s Dorf getrieben“ wurde.
Angefangen mit der Mengenlehre, mit „Lesen durch Schreiben“, das ich ignoriert habe, Integration, Inklusion, Bis hin zu JÜL (jahrgangsübergreifende Klassen).

NICHTS davon hat zu besseren Ergebnissen geführt, wenn man den Kommentaren der SEK-Lehrer glauben darf.
Da sich diese mit meinen Beobachtungen decken, bin ich geneigt, diesen zu glauben.

Die GS sind ja Gemeinschaftsschulen, besonders seit die Förderschulen dicht sind.

Dass die Starken die Schwachen mitziehen, gehört ins Reich der Märchen!

Ob es daran liegt, dass die methodisch-didaktischen Fähigkeiten der „starken“ Grundschüler noch zu wünschen übrig lassen, oder ob die Geduld oft wenig ausgeprägt ist, oder ob das selbständige Arbeiten nur mit Materialien (wie Arbeitsblättern) für die meisten Grundschüler einfach schwierig und langweilig ist, JÜL hat nirgends geklappt und wurde an unserer Schule auch nach nur 4 Jahren auf Drängen der Eltern und der KuK wieder abgeschafft.

Seitdem ich 60 geworden bin, also seit 5 Jahren, habe ich die alleinige Verantwortung für den Unterricht wieder selbst übernommen, versorge die starken SuS mit herausfordernden Aufgaben und kümmere mich selbst um die Schwachen.
Und ich habe auch keine Angst mehr vor Frontalunterricht, da ich meine Begeisterung für verschiedene Themen so am besten auf die Schüler übertragen kann und ihrer Aufmerksamkeit gewiss sein kann. Es bleibt einfach viel mehr hängen!

Trotzdem wünsche ich Sachsen viel Erfolg mit dem Experiment und freue mich, dass ich es nicht mehr umsetzen muss!

potschemutschka
2 Jahre zuvor
Antwortet  Alla

@ Diese Beobachtungen decken sich mit den von mir gemachten.(Ich bin Sonderschullehrerin mit 40 Dienstjahren, davon 30 an einer Sonderschule, die letzten 10 Grundschule.)

Honigkuchenpferd
2 Jahre zuvor

Ich unterstütze das gemeinsame Lernen bis einschließlich Klasse 8. Danach müsste aber doch eine Differenzierung erfolgen, am besten aber an der gleichen Schule, also in unterschiedlichen Klassen, aber unter einem Dach.

dickebank
2 Jahre zuvor
Antwortet  Honigkuchenpferd

Im Regelfall erfolgt die Differenzierung innerhalb des Systems ab Klasse 7. Die Zahl der Fächer, die nicht fachleistungs- oder neigungsdifferenziert sind, nimmt stetig ab. Von den 32 bis 34 Wochenstunden inkl. Religions- und Förderunterricht an SekS oder GeS sind 12 WS fachleistungsdifferenziert und 3 bis 4 (Fremdsprache) weitere WS neigungsdifferenziert. Unterricht im Klassenverband erfolgt lediglich in weniger als der Hälfte der Wochenstunden in den Fächern der Fächergruppe II.

Pälzer
2 Jahre zuvor
Antwortet  Honigkuchenpferd

Beispiele machen es anschaulich. Beschreiben Sie doch mal kurz, wie Sie sich Englischstunden beim gemeinsamen Lernen aller Niveaus vorstellen!