Studie: Pädagogische Nähe ist wichtig, braucht aber Prämissen und Normen

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FRANKFURT/KASSEL. Nähe und Intimität sind stets heikle Themen in der pädagogischen Arbeit. Wissenschaftler aus Frankfurt und Kassel haben nun im Auftrag des BMBF untersucht, welche Faktoren „gute Nähe“ ermöglichen.

Wie viel Nähe ist im Schüler-Lehrer-Verhältnis angebracht? Foto: Shutterstock

Intimität bildet einen elementaren Bestandteil von pädagogischen und sozialen Beziehungen in Schule und Sozialer Arbeit. Das Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz in der professionellen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bedeutet für Fachkräfte wie Lehrerinnen und Lehrer einen täglichen Balanceakt: Sie müssen sich in ihrer Arbeit idealerweise im Mittelfeld zwischen Zuwendung zu ihren Klientinnen und Klienten und deutlicher Abgrenzung bewegen – stets verbunden mit der Gefahr einer (bewussten oder unbewussten) Grenzverletzung. Wie kann und sollte professionelles Handeln in der pädagogischen Arbeit in diesem Spannungsfeld aussehen?

In einem gemeinsamen Forschungsprojekt haben nun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Frankfurt und Kassel die Gestaltung von und Umgangsweisen mit Intimität in ausgewählten pädagogischen Handlungsfeldern und in Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche untersucht. Das PISUM betitelte Projekt („Pädagogische Intimität – Studie zur Untersuchung von Mustern der Gestaltung pädagogischer Beziehungen in unterschiedlichen Handlungsfeldern“) wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert, im Förderschwerpunkt „Forschung zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten“.

„In PISUM wird Intimität als Gestaltung von Nähe verstanden“, erläutert Michael Behnisch, Professor für Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und einer der Projektleiter, den Forschungsansatz. „Intimität ist ein wichtiger Bestandteil von pädagogischen Beziehungen zu Kindern und Jugendlichen. In der Studie wurden Handlungsformen und Bedingungen guter Nähe‘ erforscht, um mit diesem Wissen zur Verhinderung von Grenzverletzungen beitragen zu können.“

Das Forschungsvorhaben ging davon aus, dass pädagogische Nähebeziehungen und die Herstellung von Intimität kein größeres Risiko für sexualisierte Grenzüberschreitungen bergen – im Gegenteil: Die Gestaltung von ,guter Nähe‘ ermöglicht Vertrauen, Offenbarungsprozesse und Enttabuisierungen in Bezug auf Sexualität und emotionale Verwundungen (“Vulnerabilität“). „Das Erleben von Intimität in sozialen und pädagogischen Räumen stützt und fördert die Entfaltung kindlicher Subjektivität, stellt einen Schutzfaktor vor sexualisierter Gewalt dar und schafft erst die Bedingungen, die unter anderem auch ermöglichen, Formen sexualisierter Gewalt zu offenbaren“, so Behnisch.

Behnischs Projektschwerpunkt lag auf der Heimerziehung. Mit seinem Team wissenschaftlicher und studentischer Mitarbeiter nahm er in sechs Einrichtungen der stationären Jugendhilfe eine Zeit lang am pädagogischen Alltag teil und führte neben diesen ethnografischen Beobachtungen 21 Interviews mit Fachkräften, Kindern und Jugendlichen.

Wie wird Nähe in den Wohngruppen der Heimerziehung zwischen den Beteiligten hergestellt? Welche Praktiken und Dimensionen erzeugen Nähe? Unter welchen Bedingungen entwickeln sich gute, schützende und fördernde Nähebeziehungen? Welche Formen pädagogischer Intimität gibt es, die deutlich abzugrenzen sind von Formen der Sexualisierung? Anhand dieser und weiterer Fragestellungen ermittelten die Forscher zunächst, wie sich pädagogische Beziehungen im Hinblick auf das Spannungsfeld von Nähe und Distanz in der Realität darstellen. Aus den dabei erkennbaren systematisierten Mustern definierten Behnisch und sein Team anschließend Prämissen und Normen, um Risiko- und Schutzfaktoren bezüglich sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Beziehungen nicht nur beschreibbar zu machen, sondern auch das Risiko sexualisierter Gewalt in Einrichtungen der Jugendhilfe zu reduzieren.

Gute Intimität in der Heimerziehung umfasst Behnisch zufolge zunächst zwei Strukturmerkmale: Intimität sei stets ein ‚hybrides Geschehen‘ innerhalb einer Heimwohngruppe, in der private, intime Momente des Alltagslebens parallel neben den institutionellen Strukturen öffentlicher Erziehung existieren. Zweitens wirkten in der Intimität immer verschiedene Dimensionen zusammen, etwa Körper, Sprache, Dinge, Zeiten, Geschlecht und Räume, oftmals mit einem symbolisch-nonverbalen Gehalt.

Zu den zentralen Prämissen eines gelingenden Umgangs mit Intimität zählt Michael Behnisch im Wesentlichen Partizipation, Transparenz, Generalisierbarkeit und Subjektorientierung. Flankiert werden müssten diese Prämissen durch Handlungsnormen, die in die Verantwortung des pädagogischen Handelns fallen: Die Gestaltung pädagogischer Nähe müsse berufliche Rollen und Machtstrukturen in pädagogischen Beziehungen reflektieren, aufgaben- und bildungsorientiert ausgerichtet sein und gerahmt werden durch institutionelle Verantwortung. Das Zusammenspiel dieser Prämissen und Normen könne dazu beitragen, so ein wesentliches Ergebnis der PISUM-Studie, dass das Risiko sexualisierter Übergriffe in der Heimerziehung reduziert wird. (zab, pm)

„Die Kinder brauchen jetzt menschliche Kontakte. Und was bekommen sie? Lernstress!“

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