Als Lehrerin im SOS-Kinderdorf arbeiten: „Schule stand im Leben dieser Kinder bisher nicht im Fokus“

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BERLIN. Schwänzen, schlechte Noten und Lernfrust: Kinder und Jugendliche, die in stationären Einrichtungen aufwachsen, haben es in der Schule oft deutlich schwerer als ihre Altersgenossen. Denn das deutsche Bildungssystem ist auf ihre besonderen Bedürfnisse oft nicht eingestellt. Das weiß auch Kathrin Roth (Name wurde zum Schutz der Privatssphäre geändert), die bei SOS-Kinderdorf im Bereich Lernförderung arbeitet. Dabei könnte schon mit kleinen Verbesserungen und viel Verständnis einiges für die Kinder im Schulalltag erreicht werden.

In SOS-Kinderdörfern werden Kinder besonders gefördert. Foto: SOS-Kinderdorf e. V. / Sebastiatn Pfütze

Alle 13 Minuten muss in Deutschland ein Kind zu seinem eigenen Schutz aus seiner Familie genommen werden. Die Kinder haben oft Schlimmes erlebt und können auch langfristig nicht mehr zu ihren Familien zurück. Die sogenannte Fremdunterbringung in stationären Einrichtungen bietet ihnen zwar die Chance auf einen Neuanfang, die gleichen Voraussetzungen wie Gleichaltrige haben sie trotzdem nicht. Deutlich wird das auch beim Thema Bildung.

Katrin Roth kann das nur bestätigen. Die Politik- und Geografie-Lehrerin ist in einem Schulersatzprojekt für schuldistante Jugendliche tätig und übernimmt die Lernförderung für Kinder aus SOS-Kinderdorffamilien, um sie in ihrem schulischen Alltag bestmöglich zu unterstützen. Sie weiß aus Erfahrung: Schulschwierigkeiten aller Art gibt es bei sehr vielen Kindern aus stationären Einrichtungen. Es fange damit an, dass die wenigsten Kinder, bevor sie fremduntergebracht wurden, von ihrer Familie Unterstützung oder gar Förderung in der Schule erfahren haben, was im deutschen Bildungssystem aber entscheidend sei.

Schulangebote von SOS-Kinderdorf Campus

Digital, analog, kostenfrei: SOS-Kinderdorf Campus unterstützt Lehrkräfte bei ihren Herausforderungen im Schulalltag – mit lehrplanrelevanten Bildungsangeboten für den digitalen Unterricht und den Präsenzunterricht vor Ort. SOS-Kinderdorf Campus stellt zu den Themen Familie, Kinderarmut und Vernachlässigung, soziales Miteinander, Kinderrechte sowie Agenda 2030 vielfältige Module und Materialien für sie bereit. In manchen Bundesländern gestalten Campus-DozentInnen auch Unterrichtsstunden zu sozialen Themen an ihrer Schule.

Hier lassen sich die kostenfreien SOS-Kinderdorf Campus-Module finden: https://www.sos-kinderdorf-campus.de/kostenfreie-schulangebote

Mit den Materialien können Lehrkräfte nicht nur eigene Unterrichtsstunden zu Themen von SOS-Kinderdorf Campus gestalten. Unterstützt werden sie auch mit Checklisten und Equipment für ihre Aktionen vor Ort: https://www.sos-kinderdorf-campus.de/kostenfreies-material

Vor allem aber werde unterschätzt und vergessen, welch große „Päckchen“ diese Kinder zu tragen haben. „Schule stand im Leben dieser Kinder bisher nicht im Fokus, weil sie Dinge erlebt haben, die Schule einfach in den Hintergrund rückt. Sie sind ja nicht umsonst fremduntergebracht“, mahnt Roth und erinnert daran, dass diese Kinder Vernachlässigung oder auch Gewalt erfahren haben. Nun in eine stationäre Einrichtung zu ziehen, sei für viele ein großer Bruch in der Biografie. Bildung verliere damit zunächst noch mehr an Bedeutung. Doch ausgerechnet in diesem Moment werde plötzlich Wert daraufgelegt, dass sie immer in der Schule anwesend sind, ihre Hausaufgaben erledigen, pünktlich aufstehen und in der Schule ankommen und sie sich konzentrieren. „Es ist so viel, was sie dann auf einmal müssen müssen“, fasst Roth das Problem zusammen.

Auf diese Situation müsste Schule sehr viel flexibler reagieren, als es an den meisten Schulen der Fall sei. „Man muss den Kindern Zeit geben, sie müssten häufiger freigestellt werden für Gespräche mit Therapeuten und ähnliches. Und auch für den großen Aufholbedarf, den viele haben, müsste mehr Zeit, Raum und Personal zur Verfügung stehen“, nennt Roth Lösungsvorschläge. Dass dies an vielen Schulen kaum möglich ist, weil die Lehrkräfte aufgrund des Lehrermangels und der Belastung durch die Pandemie am Anschlag arbeiten, wissen sie und ihre Kollegen in den stationären Einrichtungen sehr genau. Daher fordern auch sie von der Politik, endlich aktiv das Problem „Lehrkräftemangel“ anzugehen.

Darauf zu warten, könne aber auch keine Lösung sein. Und manchmal sei auch gar nicht viel nötig, um die Kinder besser zu unterstützen, sagt Roth und nennt ein Beispiel: Eines ihrer Förderkinder sollte die Hauptfigur einer Geschichte charakterisieren. „Sie hat das nicht hinbekommen – weil der Text für sie als Kind mit Deutsch als Zweitsprache zu schwierig war“, erzählt Roth. Wäre die Geschichte dagegen in einfacher Sprache geschrieben, hätte das Mädchen die Aufgabe problemlos lösen können – das wäre ein Erfolgserlebnis für alle gewesen.

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Was Lehrerinnen und Lehrer, die Kinder aus stationären Hilfen unterrichten, auch bedenken sollten: Diese Kinder benötigen mehr als reine Wissensvermittlung. „Der Aspekt des Beziehungsaufbaus spielt bei ihnen eine ganz wichtige Rolle – das habe ich selbst völlig unterschätzt, denn ich kannte das weder aus meiner eigenen Schullaufbahn noch habe ich das im Studium gelernt“, sagt Roth. Inzwischen weiß sie: Viele ihrer Schülerinnen und Schüler sind erst dazu bereit, mit ihr zu lernen, wenn sie eine gemeinsame Ebene gefunden und eine Beziehung zueinander aufgebaut haben. Dann aber werde vieles deutlich einfacher.

Hilfreich sei es auch, gemeinsam herauszufinden, warum etwas nicht funktioniert, und dann zusammen mit dem Kind einen Plan zu entwickeln, wie es weitergehen kann, sodass beide – Schüler und Lehrer – einen Erfolg haben. „Die meisten Kinder machen dann ein Angebot, denn sie wollen gar nicht ablehnend sein.“ Ihnen müsse aber vermittelt werden, dass ihre Bedürfnisse eine Rolle spielen, dass es um sie geht. „Ich erkläre deshalb auch immer, warum wir welche Aufgaben machen, was das Ziel dahinter ist“, sagt sie.

„Dann kann man als Lehrer ein Verhalten besser einordnen und die angebrachte Distanz finden“

Nicht minder wichtig sei es, dass die Lehrkräfte mit den Erziehern der stationären Einrichtung Kontakt aufnehmen und halten. „Wenn es zum Beispiel Themen gibt, über die das Kind aufgrund seiner Erlebnisse noch nicht reden kann oder will, dann sollten die Lehrer das wissen“, sagt Roth. Ebenso sollten die Lehrkräfte in einem Gespräch darüber informiert werden, wenn es bestimmte Verhaltensauffälligkeiten gebe. „Dann kann man als Lehrer ein Verhalten besser einordnen und die angebrachte Distanz finden, weil man weiß, dass dieses Verhalten nichts mit einem selbst zu tun hat.“ Und nicht zuletzt sollten Einrichtung und Schule miteinander kommunizieren, wenn beispielsweise ein Besuch bei Eltern des Kindes ansteht. „Denn das bewegt die Kinder natürlich und Schule rückt dann wieder in den Hintergrund“, erklärt Roth. Wenn die Lehrkräfte das wissen, dann können sie sich zum einen darauf einstellen und zum anderen das Kind dort abholen, wo es gerade sei.

Die ganze Lebensgeschichte müsse die Lehrkraft dagegen nicht zwingend kennen. „Viele Kinder erzählen von sich aus, wenn sie Vertrauen gefasst haben, und diese Chance sollte man ihnen nicht nehmen“, meint Roth. Wenn es dann so weit sei, heiße es aber unbedingt: Zeit nehmen und zuhören!

Ein weiterer Tipp der Lehrerin: Bei Gesprächen mit den Erziehern sollte das Kind durchaus dabei sein. „Mit einbezogen zu werden, das schafft Vertrauen“, weiß Roth. Sie wünscht sich darüber hinaus auch mehr Fortbildungen für Lehrkräfte zum Umgang mit Kindern und Jugendlichen aus stationären Einrichtungen – um ihnen zu vermitteln, warum es so wichtig ist, Beziehungen zu den Kindern aufzubauen, sie nicht nur den Stoff aufbereiten zu lassen und den Kontakt mit den Erziehern der Einrichtung zu suchen.

Manche der Einrichtungen bieten auch an, dass die Lehrkräfte zusammen mit der ganzen Klasse zu Besuch kommen, womit nicht zuletzt auch Vorurteile der Mitschüler gegenüber den Einrichtungen abgebaut werden sollen. Auch solche Angebote sollten genutzt werden – denn für die Kinder sei dies oft eine unschätzbare Hilfe. Aber auch für die Vernetzung und gute Kommunikation zwischen Schule und Einrichtung könne ein solcher Besuch ein guter Schritt sein, was wiederum den Kindern zugutekomme. Denn ohne eine engere Kooperation zwischen Schulen und stationärer Einrichtungen werden die Bildungschancen der dort lebenden Kinder und Jugendlichen weiterhin schlecht bleiben. Beate Berrischen, Agentur für Bildungsjournalismus

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