Thema Unterrichtsausfall wächst sich aus: Muss Weil um seine Wiederwahl fürchten?

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HANNOVER. Angesichts der schlechtesten Unterrichtsversorgung seit 19 Jahren plant Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne kurz vor der Wahl eine Lehreroffensive. Kritik daran gibt es nicht nur aus der Opposition. Auch Lehrerverbände warnen vor den absehbaren Folgen. Eine Elterninitiative, die sich formiert hat, könnte Ministerpräsident Stephan Weil gefährlich werden: Er wäre nicht der erste SPD-Regierungschef, der am Unterrichtsaufall scheitert.

Kommt die Initiative seines Kultusministers zu spät? Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) Foto: Niedersächsische Staatskanzlei / Holger Hollemann

Niedersachsen will mit einem Maßnahmenpaket Hunderte dringend benötigte neue Lehrerinnen und Lehrer anwerben. So wird die Zahl der zum neuen Schuljahr zu besetzenden Stellen um weitere 730 auf rund 2300 Vollzeiteinheiten angehoben. Damit sei das Land «erstmal vollumfänglich handlungsfähig», sagte Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) am Montag in Hannover. Insbesondere die nicht-gymnasialen Schulformen sollen in den Blick genommen werden.

Die Bewerber in der aktuellen Einstellungsrunde werden dabei mit einer Prämie von 150 bis 400 Euro monatlich angelockt, die zwei Jahre lang gezahlt werden soll. Die Höhe der Lehrerprämie ist abhängig von der Schulform und der Fächerkombination. Außerdem sollen deutlich mehr Quereinsteiger in den Unterricht eingebunden werden.

Das Land wies die Schulleitungen auch auf weitere Möglichkeiten hin, um zusätzliches Personal zu gewinnen. Dazu zählen die Einstellung von Studierenden und Pensionären, die Unterrichtserteilung auf freiwilliger Basis und das Hinausschieben des Ruhestands gegen Zahlung eines Zuschlags. Sowohl im Landtag als auch von Schulvertretern wurde das Paket jedoch kritisch aufgenommen.

„Wir warnen davor, Lehrpersonal ohne Masterabschluss oder Staatsexamen in den Schuldienst einzustellen“

Hintergrund ist, dass die Unterrichtsversorgung an Niedersachsens Schulen in diesem Schuljahr so niedrig ist wie zuletzt vor 19 Jahren. Gleichzeitig werden im kommenden Schuljahr rund 32.000 Schülerinnen und Schüler zusätzlich erwartet. Grund dafür seien die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs, nachgeholte Einschulungen sowie weiter steigende Geburtenzahlen, erklärte Kultusminister Tonne. Er räumte ein, dass die Zahl der Lehrkräfte im Land trotz eines Höchststands (83.000) langsamer gewachsen sei als die Bedarfe und Herausforderungen.

Der Koalitionspartner CDU wertete das Paket als Schritt in die richtige Richtung. Allerdings löse es «ein gewisses Befremden» aus, dass der Kultusminister erst kurz vor der Wahl auf den häufigen Unterrichtsausfall reagiere, sagte CDU-Bildungspolitiker Christian Fühner.

Der FDP-Abgeordnete Björn Försterling warf Tonne Aktionismus vor und prognostizierte, dass die Unterrichtsversorgung durch die Maßnahmen nicht deutlich besser werde. Zwar sei insbesondere die Beschleunigung des Quereinstiegs überfällig, allerdings werde beispielsweise der Vorbereitungsdienst durch eine Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung für Referendare unattraktiver. Grünen-Fraktionschefin Julia Willie Hamburg sagte, bei dem Maßnahmenpaket handele es sich um «ein paar Pflaster, die die sich zuspitzende Problemlage an unseren Schulen leider nicht beheben werden».

Der Verband Niedersächsischer Lehrkräfte (VNL) geht ebenfalls davon aus, dass «der Lehrkräftemangel an vielen unserer Schulen auch im neuen Schuljahr ein großes Problem bleiben wird», wie der Vorsitzende Torsten Neumann sagte. Er verwies unter anderem darauf, dass es besonders im nicht-gymnasialen Bereich schwierig sei, die ausgeschriebenen Stellen auch tatsächlich zu besetzen.

Neumann kritisierte zudem die geplante Ausweitung des Quereinstiegs und mahnte an, die Einstellungsvoraussetzungen nicht aufzuweichen. «Wir warnen davor, Lehrpersonal ohne Masterabschluss oder Staatsexamen in den Schuldienst einzustellen, wenn auch zurzeit nur zeitlich begrenzt», sagte er. Die Bildungsgewerkschaft GEW rief dazu auf, die Einstellungszahlen dauerhaft zu erhöhen.

Nach Angaben des Kultusministeriums sind von rund 1630 Stellen, die bereits zu Beginn des Einstellungsverfahrens ausgegeben wurden, bisher knapp 80 Prozent besetzt. Seither wurden bereits mehrere Hundert weitere Stellen für das neue Schuljahr ausgeschrieben.

„100 Prozent Versorgung – das würde im Fußball bedeuten, dass Hansi Flick mit 11 Spielern zur WM fährt“

Die Unterrichtsversorgung war laut Kultusministerium zu Beginn des laufenden Schulhalbjahres bereits auf einen landesweiten schulformübergreifenden Durchschnittswert von 97,4 Prozent gefallen. (Schuljahr 2020/2021: 99,0 Prozent). Dagegen hat sich nun eine Elterninitiative formiert. «Das ist der schlechteste Wert seit 20 Jahren und ein Mahnmal für das Versagen der Schulpolitik in den letzten Jahren. Denn das heißt, dass selbst bei voller Besetzung und einem Krankenstand von 0 Prozent der Lehrkräfte noch nicht einmal der komplette Unterricht stattfinden kann», so schreiben die Initiatoren auf der Projekthomepage www.initiative-unterrichtsversorgung.de.

«Um die Dramatik dieser auf den ersten Blick nicht so dramatisch wirkenden Zahlen aufzuzeigen, hier eine kleine Analogie: 100 Prozent Versorgung – das würde im Fußball bedeuten, dass Hansi Flick mit 11 Spielern zur WM fährt. Dabei ist noch nicht einmal sichergestellt, dass er für jede Position den richtigen Spieler dabei hat. Wäre Herr Tonne Bundestrainer, würde er mit 10 Spielern nach Katar fahren und sich wundern, dass er bereits in der Vorrunde scheitert.» Die Initiative fordert eine Stellenreserve von mindestens zehn Prozent für die Schulen.

Das Thema könnte für Ministerpräsident Weil gefährlich werden. Schon einmal verlor ein sozialdemokratischer Ministerpräsident wegen hohen Unterrichtsausfalls sein Amt: Peer Steinbrück, der 2005 von dem ursprünglich als chancenlos geltenden Jürgen Rüttgers (CDU) mit dem Versprechen einer Unterrichtsgarantie besiegt worden war. News4teachers / mit Material der dpa

Lehrermangel: Verband warnt Kultusmininister „zu tricksen“ (meint: Klassen vergrößern)

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12 Kommentare
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Aleidis, von edlem Wesen
1 Jahr zuvor

Schulen und Bildung spielt bei Wahlen eigentlich nie eine entscheidende Rolle. Niemand wählt eine Partei NUR und ausschließlich wegen ihrer Schul- oder Bildungspolitik. Da sind immer andere Themen (noch) wichtig und meistens wichtiger.

Und Lehrer-Wählerstimmen fallen kaum ins Gewicht, zumal die auch alle andere Interessen in Wirtschaft, Kultur, Klima, Verkehr, Finanzen etc. haben.

Besorgter Bürger
1 Jahr zuvor

Ich würde das Thema nicht unterschätzen.
Man kann mit Bildungspolitik vielleicht keine Wahlen gewinnen. Ganz sicher kann man sie aber damit verlieren.
Beispiele?
Hier:
FDP in NRW, Gebauer die totale Katastrophe.
CDU in BW, Eisenmann für BW eine totale Katastrophe – unterboten nur von ihrer Nachfolgerin Schopper (Grüne)… mal schauen, wie sich das bei der nächsten Landtagswahl auswirkt 😉

Palim
1 Jahr zuvor

Miserabel. Stimmt.
Aber die Schuld allein dem KM zuzuschieben, während Herr Hilbers (CDU) in der derzeitigen GroKo auf den Finanzen sitzt und auch als Verhandlungsführer der Länder die Vergütung im öffentlichen Dienst ausgehandelt hat und seit Jahren bei A13 bremst.
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/oeffentlicher-dienst-tarifeinigung-laender-101.html

https://www.news4teachers.de/2021/06/niedersachsens-finanzminister-will-sparen-und-betreuungsprojekte-auf-eis-legen/

https://www.news4teachers.de/2021/05/finanzminister-will-sparen-bei-lehrerstellen-gewerkschaften-warnen/

Schon im November waren die Steuereinnahmen höher als gedacht, jetzt sind sie es wieder.
https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Steuerschaetzung-Milliarden-Mehreinnahmen-fuer-Niedersachsen-,steuerschaetzung218.html

Aber es findet sich schon noch ein Grund, warum das Geld ganz bestimmt woanders eingesetzt werden muss.

Last edited 1 Jahr zuvor by Palim
Realist
1 Jahr zuvor
Antwortet  Palim

„Aber es findet sich schon noch ein Grund, warum das Geld ganz bestimmt woanders eingesetzt werden muss.“

Der neueste Dreh ist doch:
„Die Löhne im öffentlichen Dienst dürfen trotz fast zweistelliger Inflationsrate nicht steigen, da sonst eine Lohn-Preis-Spirale wie in den 70er-Jahren droht.“

Die IG Metall lässt sich im Gegensatz zu Verdi aber nicht von dieser Preis-Lohn-Spirale einschüchtern, wie wir demnächst sehen werden. Nur die Deppen vom ÖD sind wie die gelackmeierten… Dass dadurch erst Recht keiner mehr Lehrer werden will, kapieren die Politiker nicht. Oder vielleicht kapieren die es schon und es ist aller des große Plan, um das Bildungssystem so richtig gegen die Wand zu fahren. Nur was kommt danach? Privatisierung? Das wäre dann die Strategie der Republikaner in „Gods own country“. Vielleicht stecken also Baerbock und Habeck hinter dem Ganzen?

Anne
1 Jahr zuvor
Antwortet  Realist

Jepp, der ÖD bekommt im Dezember(!) grandiose 1,x %(!) mehr. Ich höre es quasi schon in NRW, jetzt, wo alle LK A13 bekommen sollen (irgendwann in 5 Jahren), kann man leider gar keine Gehaltserhöhung mehr zahlen. Muss schließlich jemand Corona, Flut, Ukraine, …. finanzieren. Das sollen mal schön die faulen Lehrer tun, die haben ja laut Stamp eh alle einen schönen Garten, können sich also selbst versorgen. Wenns dann noch zur Bezahlung ab und zu ein Huhn und ein paar Stücke Kohle oder Kaminholz gibt, muss das ja wohl reichen.

Rotstiftprofi
1 Jahr zuvor
Antwortet  Palim
Realist
1 Jahr zuvor
Antwortet  Rotstiftprofi

Grundvergütung und „Aufwandspauschale“ zusammen dann bei ca. 9000€ im Monat. Man gönnt sich ja sonst nichts. Sind halt echte „Leistungsträger“. Ist ja auch hart, zwischen den vielen Plexisglasscheiben und Luftfilter ungestört im Einzelbüro zu arbeiten (wenn man nicht gerade wieder Videokonferenz aus dem Homeoffice hat)…

Ale
1 Jahr zuvor

Eine kleine Anpassung:
Herr Flick würde mit 10 Spielern hinreisen, die WM Gewinnen, weil sich die Fußballer verausgaben. Aus diesem Grund würden zur EM nur noch 9 Spieler geschickt, es hat ja mit 10 auch geklappt.

Semmi
1 Jahr zuvor
Antwortet  Ale

Oder er versucht, sonst jemanden aus der BL mitzunehmen. Wenn die 1. leer ist vermutlich jemanden aus der 2. Liga. Oder bei ganz großer Not aus der 3.
Aber: Die restlichen Spieler gehen auf die Barrikaden (nicht voll als Nationalspieler ausgebildet, keine Erfahrung, da könnte doch jeder kommen, im Sturm ungeeignet,…), das Team kackt ab und in der Presse ist zu lesen: „Spielermangel. Profisklagen: In ganz Deutschland sind keine Fussballer zu finden“

Hornisse
1 Jahr zuvor
Antwortet  Semmi

Kreative Lehrer, sehr schön.
Wenn Hansi Flick das Kultus-problem erklären würde, würden sicherlich viel mehr Leute zuhören
und mitziehen
( Die beiden sind natürlich keine Wespen, haben eher Hornissenqualitäten)

Palim
1 Jahr zuvor
Antwortet  Semmi

Es reicht doch aus, 5 Fußballspieler mitzunehmen, die das schon seit ein paar Jahren machen. Die kommen mit der Vergütung der 2. Liga auch prima aus.

Die restlichen 3 Spieler nimmt man von der Straße aus mit, bestimmt hat jemand Lust, für 450€ oder ein unbezahltes Praktikum mitzumachen.
Fußball ist schließlich unser Leben und es hat jeder schon mal bei einem Spiel zugesehen oder einen Ball gekickt.
Hauptsache der Ball rollt.

hking
1 Jahr zuvor

Als hätten wir in der Schule nicht gelebt. Und gelernt haben wir auch. Beides wird heute mit Füßen getreten. Pfui Teufel! Eingeschult Ostern 1957