Bildungsintegration geflüchteter Jugendlicher: Es kommt darauf an, wo man wohnt

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MANNHEIM. Wie geflüchtete Jugendliche im deutschen Bildungssystem ankommen, hängt stark davon ab, in welchem Bundesland sie leben, zeigt eine neue Studie. Die untersuchten Geflüchteten warteten demnach oftmals lange auf den Schulstart, wurden zunächst häufig in Willkommensklassen eingeschult und besuchten vergleichsweise häufig niedrigere Schulformen.

Schnelle Einschulung oder eine längere Wartezeit, gemeinsamer Schulbesuch mit einheimischen Jugendlichen oder gesonderte Willkommensklassen – je nach Bundesland gibt es für Jugendliche, die nach ihrer Flucht in Deutschland ankommen, ganz unterschiedliche Varianten zur Integration ins Bildungssystem. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (LIfBi) und der Universität Halle-Wittenberg (MLU) haben untersucht, wie sich die unterschiedlichen Bildungspolitiken in fünf Bundesländern (Bayern, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen) auf den Schulstart von 2.415 geflüchteten 14- bis 16-jährigen Jugendlichen ausgewirkt haben, die zwischen 2014 und 2018 in Deutschland angekommen sind.

Jugendliche in einem Klassenraum, Blick von hinten auf einen Lehrer.
Für geflüchtete Jugendliche kann es lange dauern, in der Schule anzukommen. Foto: Taylor Wilcox / Unsplash.com (U. l.)

Lange Wartezeit

Für die Untersuchung nutzten Gisela Will und Regina Becker vom LIfBi und Oliver Winkler, Soziologe an der MLU, Daten der Geflüchtetenstudie ReGES (Refugees in the German Educational System). Demnach mussten die geflüchteten Jugendlichen nach ihrer Ankunft im Durchschnitt sieben Monate warten, bis für sie die Schule begann. Kamen die Jugendlichen mit ihren Familien in Bundesländern an, die eine zeitliche Begrenzung bis zum Einsetzen der Schulpflicht vorschreiben, wurden sie bis zu zwei Monate schneller eingeschult als in Bundesländern, in denen Geflüchtete solange auf die Einschulung warten müssen, bis sie einer Kommune zugewiesen werden. „Die ReGES-Daten zeigen unter anderem, dass die Schullaufbahn der befragten Jugendlichen aufgrund der Flucht und im Zuge des Ankommens in Deutschland insgesamt durchschnittlich länger als ein Jahr unterbrochen war“, resümmiert LIfBi-Pädagogin Gisela Will. Sie betont, dass man mögliche Häufungen der Risiken in den Bildungswegen geflüchteter Jugendlicher im Blick behalten müsse.

Verbleib an der Hauptschule

Vielfach sollte den Jugendlichen der Einstieg in die Schule mit eigens eingerichteten Willkommensklassen erleichtert werden. Allerdings wurden diese Klassen in einzelnen Bundesländern vornehmlich an Hauptschulen oder niedrigeren Schulformen eingerichtet. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie legen nahe, dass in diesen Bundesländern die geflüchteten Schülerinnen und Schüler beim Wechsel in eine Regelklasse ihre Schullaufbahn oftmals in der gleichen Schulform fortsetzen und seltener Regelklassen höherer Schulformen besuchen. „Geflüchteten Jugendlichen scheint der Wechsel in eine höhere Schulform in diesen Bundesländern nur schwer zu gelingen“, stellt Oliver Winkler von der MLU zusammenfassend fest.

Unter Jüngeren

Aus den ReGES-Daten gehe außerdem hervor, dass Geflüchtete häufig nicht altersgerecht eingeschult wurden. Oftmals lernten sie zusammen mit deutlich jüngeren Mitschülerinnen und -schülern. Die aktuelle Analyse zeige, dass dies meist in jenen Bundesländern der Fall war, in denen die Geflüchteten nicht möglichst schnell in eine konkrete Klassenstufe eingeschult werden sollen, sondern dies zu einem späteren Zeitpunkt geschieht, wenn etwa detaillierte Messungen der Leistungsstände der Jugendlichen vorliegen. Neben den Auswirkungen auf das Klassengefüge, in dem durch diese Praxis Jugendliche verschiedener Altersgruppen aufeinandertreffen, habe dies auch für die Geflüchteten selbst Vor- und Nachteile, so die Forscher. Auf der einen Seite hätten ältere Geflüchtete mehr Zeit, um Deutsch zu lernen, bevor die Schulzeit für sie formal endet. Auf der anderen Seite fühlten sich ältere Geflüchtete möglicherweise weniger mit der Schule verbunden, weil sie sich schon viel stärker in Richtung Beruf orientierten. Das wiederum könne sich ungünstig auf das Lernen auswirken.

Die Bildungspolitik bestimmt den Weg

Insgesamt zeigen die ReGES-Daten der aktuellen Auswertung zufolge deutlich, dass die Bildungsverläufe der geflüchteten Jugendlichen in Deutschland stark mit den politischen Vorgaben in den Ankunftsbundesländern zusammenhängen. Familiäre und individuelle Merkmale der Jugendlichen, wie zum Beispiel der Bildungsstatus ihrer Eltern, bildeten hingegen kein echtes Gegengewicht zum Einfluss der gesetzlichen Vorgaben. Lediglich bei der besuchten Schulform spielten die Bildung der Eltern und die früheren Schulleistungen der Jugendlichen eine etwas bedeutsamere Rolle.

Wills LIfBi-Kollegin Regina Becker zieht ein skeptisches Fazit der Auswertung: „Geflüchtete Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern haben nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Bildungsbeteiligung. Die Zuweisung zu einem Bundesland entscheidet maßgeblich über die Wartezeit bis zur Einschulung, ob man altersgerecht eingestuft wird und ob man eine Willkommensklasse besucht. Die zum Teil eingeschränkte Durchlässigkeit im deutschen Bildungssystem kann die Chancen von Geflüchteten weiter mindern, eine höhere Schulform zu besuchen, an der direkt Bildungsabschlüsse wie das Abitur oder die Mittlere Reife erlangt werden können.“ (zab, pm)

Wohlfahrtsverband: Viele geflüchtete Kinder können nicht in Schule gehen

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Neugierig
1 Jahr zuvor

Grundsätzlich ist es schlimm, wenn Kinder über längere Zeit nicht die Schule besuchen (zeigen ja auch deutlich die Studien zu den coronabedingten Schulschließungen). VKL Klassen finde ich grundsätzlich zunächst gut, da es heute (Lehrermangel, volle Klassen, viele Verhaltensoriginelle Kinder) sehr schwierig ist, auch noch diese (sprachlosen) Kinder in den Unterricht zu integrieren. In Mathe kann man die Kinder soweit mitnehmen, wie sie nicht Texte lesen müssen. Danach kommt der Googelübersetzer zum Einsatz. Das kostet wertvolle Zeit, die uns sowieso schon bei den Kindern fehlt die es am nötigsten haben, nämlich den sozial benachteiligten. Die Schule wurde und wird mit diesem Problem alleine gelassen. Wenn dann noch Kinder ohne deutsche Sprache Traumata haben und verhaltensauffällig sind und jegliche Form von Unterricht torpedieren, hat man keinerlei Handlungsmöglichkeiten. Mit den Kindern aus der Ukraine ist das Fass übergelaufen. Es geht einfach nicht mehr. In der Grundschule (BW) wurden die letzten Jahre immer mehr Aufgaben wie selbstverständlich aufgeladen (Inklusion, Schulentwicklung, Digitalisierung, die erste Flüchtlingswelle und alle folgenden….) wie, sollen wir den Kindern noch einen Raum zum lernen bieten, wenn die Hälfte verwöhnt und überkonsumiert ist, ein weiterer Teil bereits im Leistungsverweigerungkonzert mitgeigen und ein Teil uns nicht mal ansatzweise versteht. Dreifach differenzieren ist ja schon selbstverständlich, doch was nutzt das, wenn die Kinder nichts arbeiten. Ich komme mir vor, als wolle ich Wasser mit einem Sieb schöpfen. Und die Bildungspolitik macht es wie seit 20 Jahren, Augen zu und durch und alles schönreden.

Georg
1 Jahr zuvor

An meiner Schule (Gymnasium) haben wir auch etliche ukrainische Schülerinnen und Schüler. Derzeit haben die viel Deutschunterricht, wir sollen sie aber auch in den normalen Unterricht so weit wie möglich einbinden, was sich aufgrund der Sprachkenntnisse sehr schwierig ist. Bewerten sollen wir sie derzeit nicht, zum Halbjahr oder zum Schuljahresende aber schauen, auf welche Schulform sie anschließend wechseln oder auch nicht. Bei gymnasialer Eignung werden sie bleiben können, andernfalls nicht.

Ich kann mir kaum vorstellen, dass das bei den Schülerinnen und Schülern aus der Studie anders gemacht wurde. Dennoch schwingt in dem Artikel wieder der Vorwurf mit, dass sich die Gymnasien raushalten.

Indra Rupp
1 Jahr zuvor
Antwortet  Georg

Sie sind doch nicht erst seit gestern Lehrer und müssten wissen, ob das vor sieben Jahren auch so war. Es könnte tatsächlich ein Unterschied gemacht worden sein, denn die Ukrainer sind uns kulturell näher… Vielleicht traut man ihnen mehr zu?

Ron
1 Jahr zuvor

Die Politik drückt sich derzeit vor einer Aussage, ob die ukrainischen Flüchtlinge nur kurzzeitig hier bleiben sollen oder ob es eine Option für eine dauerhafte Ansiedelung geben soll. Insofern ist auch die Frage der richtigen Beschulung nicht zu beantworten.

Georg
1 Jahr zuvor
Antwortet  Ron

Bei anderen Flüchtlingen wurde von vorne herein gehofft, dass sie bleiben. Sie taten es auch mit allen Konsequenzen…