STUTTGART. Die Missbrauchskommission des Bundes hat auf der didacta die Aufarbeitung bekannt gewordener Fälle gefordert – und: eine offene Haltung von Schulen gegenüber Betroffenen sexualisierter Gewalt. Daran fehle es nicht selten.
Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs des Bundes veranstaltete ein Podiumsgespräch auf der Bildungsmesse didacta in Stuttgart. Kommissionsmitglied Prof. Julia Gebrande diskutierte mit Laura, einer Betroffenen, und Monika Becker, Vorstand der Landeskoordinierungsstelle für Kinderschutz Baden-Württemberg und Leiterin der thamar Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt im Landkreis Böblingen, über die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt an Schulen und deren Bedeutung für den Schutz von Kindern und Jugendlichen.
„Die Kommission beobachtet, dass sexualisierte Gewalt in der Schule häufig nicht thematisiert wird. Diese Kultur der Sprachlosigkeit trägt dazu bei, dass auch vergangene Fälle nicht aufgearbeitet werden“, stellte Gebrande fest.
Mehr als 180 Menschen haben sich bisher bei der Kommission gemeldet, die als Kinder und Jugendliche sexualisierte Gewalt in der Schule erfahren haben. Viele haben berichtet, dass die Signale, die sie ausgesendet haben, nicht ernst genommen wurden oder dass Versuche, über den sexuellen Missbrauch zu reden, fehlgeschlagen sind. Einige haben viele Jahre später ihre Schulen kontaktiert und ihre Erfahrungen wurden erneut heruntergespielt oder die Schulleitungen haben Verantwortung weggeschoben.
„Das ist bedenklich, denn nur wenn eine Schule eine offene Haltung gegenüber Betroffenen zeigt, sich ihrer Geschichte stellt und Fälle aufarbeitet, kann sie heute und in der Zukunft für eine Kultur des Hinschauens sorgen, damit Missbrauch aufgedeckt wird oder gar nicht erst geschieht. Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ist ein notwendiger Schritt, um wirksame Präventions- und Interventionskonzepte entwickeln zu können. Es braucht den Dreiklang: Prävention – Intervention – Aufarbeitung“, so Gebrande.
Laura sprach auf dem Podium über ihre individuellen Erfahrungen in ihrer Schulzeit und mit der Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs. Es hat ihr zufolge lange gedauert, bis sie die Erlebnisse mit ihrem Lehrer überhaupt als Übergriff und damit als Unrecht erkennen konnte. Hilfe habe sie damals nicht erfahren, sagte sie – im Gegenteil, sie fühlte sich allein gelassen und sei dadurch dem Täter regelrecht in die Arme getrieben worden. Ihre Geschichte der Aufarbeitungskommission zu berichten, habe ihr sehr geholfen. Sie wünscht sich für alle Betroffene eine Kultur des Hinschauens an Schulen.
Im Rückblick bedauert sie den mangelhaften Kinderschutz und die fehlende Aufmerksamkeit für ihre Not, was auch an fehlenden Unterstützungsangeboten in der Region lag, in der sie aufwuchs. Dass eine ausreichende Versorgungssituation auch heute oft noch nicht gegeben ist, bestätigte Monika Becker. Fachberatung könne eine Schule nicht nur bei der Prävention sexualisierter Gewalt unterstützen, sondern auch bei der Intervention und Aufarbeitung begleiten.
An einigen Schulen, auch in Baden-Württemberg, gebe es bereits Kooperationen mit Fachberatungsstellen. Deren Kapazitäten reichten jedoch bei weitem nicht aus, um den Bedarf an Beratung zu decken. Deutschlandweit brauche es mehr Unterstützung seitens der Politik, um gerade im ländlichen Raum die Versorgungssituation für Betroffene zu verbessern, aber auch für Institutionen, die sich für Prävention und Aufarbeitung einsetzen wollen. News4teachers
Ich bin vielfach gegen externe Aufträge, die der Schule von außen aufdoktruiert werden. Beim Thema sexuelle Gewalt sehe ich das etwas anders. Oft ist Kindern und Jugendlichen gar nicht richtig bewusst, was sexuelle Gewalt ist und wo sie anfängt. Kinder erleben zuhause und im Freundeskreis eine sehr unterschiedliche Art von angeblicher Normalität. Ohne Vergleichsmöglichkeiten fällt es schwer, Merkwürdigkeiten zu erkennen und sich vielleicht noch rechtzeitig Hilfe oder Schutz zu suchen. Das große Aufwachen kommt manchmal erst im Erwachsenenalter. Schule ist deshalb vermutlich der einzige Ort, an dem sich potentielle Opfer ihrer Situation klar werden können. Das muss nicht in Form riesiger Projekte oder Unterrichtseinheiten erfolgen, sondern vielleicht reicht es schon, einen entsprechenden Aufklärungsbericht zu sehen, darüber zu reden und ergänzend noch Flyer mit Anlaufadressen zu erhalten. Für mich damit einhergehend ist die Frage der sexuellen Selbstbestimmung. Da gibt es in meinen Augen massiven gesellschaftlichen Gesprächsbedarf. Weiterhin ist z.B. die Beschneidung männlicher Kinder erlaubt und das Befolgen von angeblich geschlechtsspezifischen Religionsgeboten gebietet manchen Mädchen Kleidungs- und Verhaltensvorschriften, die nicht zu unserer Gesellschaft und unserem Anspruch auf Gleichberechtigung passen.
Religiöse Vorstellungen/Regeln sind natürlich schwer zu durchbrechen.
Ich hatte einmal ein Kind der Zeugen Jehovas in der Klasse, das körperliche Züchtigung als normal ansah, da es die Bibel vorschreibe. Da brachte auch ein Gespräch mit den Eltern nichts, da diese der festen Überzeugung waren, das Beste für ihre Kinder zu tun. Wir haben dann das Jugendamt eingeschaltet, aber auch das JA biss auf Granit, da sich die Gemeinde auf die Freiheit ihrer Religionsausübung berief.
Der Fall sollte vor Gericht gebracht werden, aber die Familie zog weg, so dass ich nicht weiß, ob es irgendwelche Konsequenzen gab.
Bei anderen Religionen gilt natürlich ähnliches, wenn die jeweils vorgegebenen Regeln wichtiger genommen werden als die in Deutschland allgemein üblichen Regeln.
(Das beziehe ich nicht oder nicht ausschließlich auf die körperliche Züchtigung, sondern auf alles, was das Zusammenleben mit Anders- oder Nichtgläubigen betrifft.)
Es ist zuerst einmal wichtig, den Kindern schon früh aufzuzeigen, eigene Gefühle einzuordnen und zu verbalisieren.
In den GS gibt es U – Einheiten wie: Das mag ich, das mag ich nicht. Dort sollen Kärtchen mit Alltagssituationen (in der Familie, der Schule, dem Verein usw.)auf einer Skala eingeordnet werden. Danach wird darüber gesprochen, warum gleiche Situationen oft verschieden bewertet werden.
Das soll den Kindern Worte an die Hand geben, sich besser mitteilen zu können und ihnen gleichzeitig aufzeigen, dass ihre Empfindungen valide sind, auch wenn andere die Situation anders einschätzen.
Mit der Aufforderung “Ich sage Nein” sollen die Kinder stark gemacht werden, sich gegen Mobbing, Misshandlung und Missbrauch zu wehren. Es wird überlegt, wo sich das Kind Hilfe holen kann, wenn das Nein nicht akzeptiert wird. Oder an wen sich ein Kind wenden kann, wenn es von Übergriffen gegen ein anderes Kind erfährt.
Nicht, dass es das “Hinschauen” überflüssig macht, aber es hilft, die Kinder selbst zu sensibilisieren für Dinge, die nicht “normal” sind.
Mich wundert fast, dass es noch keine Elterninitiative gegen die Übergriffigkeit in das Familienleben und die Privatsphäre gebildet hat.
Wir arbeiten da in der Sek I weiter dran.
Haben Sie “Übergriffigkeit” mit Eltern thematisiert ? Was mag konkret mit “dran” gemeint sein ?
Hinschauen – helfen und handeln, ein gesellschaftliches Problem. Beispiel Kirche und Missbrauch.