Montessori: Warum eine Lehrerin mit über 70 nicht ans Aufhören denkt

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HOFHEIM. Die Mathematik- und Physiklehrerin Ulrike Stähler könnte längst ihren wohlverdienten Ruhestand genießen. Aber ans Aufhören denkt die inzwischen 73-Jährige noch lange nicht. Im Interview erzählt sie, warum sie immer noch mit Freude unterrichtet und wie sie vor über 20 Jahren von einer Regelschule in NRW ihren Weg zum Montessori-Zentrum im hessischen Hofheim gefunden hat.

Teamwork im Lehrerzimmer? Nicht immer selbstverständlich. “Aus meiner Erfahrung würde ich aber sagen, dass die Struktur einer Montessori-Schule die Kooperation im Kollegium fördert und auch voraussetzt”, sagt Ulrike Stähler. Die Mathe- und Physiklehrerin hat viele Jahre an einer Regelschule gearbeitet, bevor sie sich entschloss, an eine Montessori-Schule zu wechseln. Ein Schritt, den die heute 73-jährige nicht bereut und auch anderen Lehrkräften empfiehlt. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

News4teachers: Warum haben Sie sich für die Arbeit an einer Montessori-Einrichtung entschieden?

Ulrike Stähler: Ich habe mich immer schon für Reformpädagogik interessiert, war aber bis 2002 noch an einer Regelschule in Nordrhein-Westfalen verbeamtet. Aus beruflichen Gründen meines Mannes sind wir dann nach Hessen gezogen. Kurze Zeit später habe ich durch Zufall vom Montessori-Zentrum Hofheim hier im Taunus erfahren. Das war für mich der Anlass, mich näher mit der Montessori-Pädagogik zu beschäftigen. „Okay“, habe ich mir gedacht: „Wenn alles so stimmt, wie es im Konzept der Einrichtung steht, dann ist die Montessori-Schule die ideale Schulform.“ So fing ich als Mathe- und Physiklehrerin in der B-Gruppe an, das sind die Vier- bis Sechstklässler, und machte meine Erfahrungen. Heute kann ich sagen, das war genau richtig für den Einstieg. So konnte ich frühzeitig erkennen, was die Schüler auch in den höheren Jahrgängen als Grundlagen brauchen.

News4teachers: Haben sich Ihre Erwartungen durch den Schulwechsel erfüllt?

Stähler: Eigentlich hatte ich keine Erwartungen, als ich hier anfing. Ich wollte einfach wissen, ob sich das besondere Konzept der Schule auch tatsächlich umsetzen lässt. Mir ist schnell aufgefallen, dass das Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu den Lehrkräften sehr vertrauensvoll war. Total beeindruckt hat mich, als eine Schülerin auf mich zukam und fragte: „Kannst Du mir helfen?“ Eine solche Offenheit und den Mut, zuzugeben, dass man allein nicht weiterkommt, kannte ich aus meiner Zeit an einer Regelschule nicht. Dieses Erlebnis war für mich der Moment, in dem ich mich wirklich für die Montessori-Schule entschieden habe.

Montessori-Lehrkraft werden!

Montessori Deutschland LogoNoten, Klassenarbeiten, Korrekturen: Die Belastung im staatlichen Schulsystem ist hoch. Wäre die Arbeit an einer Montessori-Einrichtung eine Alternative für Sie als Lehrkraft?

Mit Kopf, Hand und Herz eröffnen wir, die Kinderhäuser und Schulen von Montessori Deutschland, Kindern und Jugendlichen Perspektiven zur Entfaltung – und zwar in einem miteinander gelebten Prozess, der auf enge persönliche Beziehungen baut. Informieren Sie sich! Auf der Seite von Montessori Deutschland gibt es die passenden Infos dazu. Im dazugehörigen Stellenportal für Pädagog:innen können Sie herausfinden, ob in Ihrer Nähe eine Arbeitsstelle frei ist.

Hier geht es hin: www.montessori-deutschland.de/fuer-paedagoginnen/arbeit-an-montessori-einrichtung/

News4teachers: Inzwischen blicken Sie auf 73 Lebensjahre zurück – und sind trotzdem noch im Schuldienst. Was veranlasst Sie zum Bleiben?

“Ich kann diese Schulform Lehrkräften auf jeden Fall empfehlen.”

Stähler: Meine Arbeitsbedingungen an dieser Schule sind hervorragend und ich kann diese Schulform Lehrkräften auf jeden Fall empfehlen. Als Mathe- und Physiklehrerin in der Oberstufe habe ich oft die Möglichkeit, mit den Schülern praktisch zu arbeiten und die Theorie wirklich erfahrbar zu machen – besonders in Physik, einem sehr experimentellen Fach. Das macht mir selber viel Spaß, aber auch den Schülern und Schülerinnen. Wenn ich sehe, mit welcher Begeisterung sie bei der Sache sind und beim Experimentieren die physikalischen Zusammenhänge im wahrsten Sinne des Wortes „begreifen“, dann habe ich ein Problem mit dem Aufhören. Solange das so ist, mache ich einfach weiter und lasse auch jüngere Kollegen und Kolleginnen an meinen Erfahrungen teilhaben.

News4teachers: Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit im Klassenzimmer von der einer Lehrkraft an einer Regelschule?

Stähler: Ein wesentlicher Unterschied ist, dass wir in Doppelbesetzung unterrichten. Damit kommen vom vierten bis zehnten Jahrgang auf eine Lehrkraft gerade 16 Schüler, das ist bei uns der Fall. Dieser günstige Lehrer-Schüler-Schlüssel erleichtert uns die Arbeit ganz gewaltig – und auch den Schülern, das muss man klar sagen. In den Leistungsfächern sind die Lerngruppen oft sogar noch kleiner. In diesem Jahr habe ich einen Physikleistungskurs mit vier Schülern zum Abitur gebracht. Das ist schon perfekt. Und selbst Kurse mit zwei Schülern haben super funktioniert.

News4teachers: Gibt es noch weitere Unterschiede?

Stähler: Bei uns gibt es keinen Frontalunterricht, sondern eine vorbereitete Lernumgebung mit Arbeitsmaterialien. Das können haptische Materialien, aber auch Arbeitsblätter für die Freiarbeit sein. Dabei arbeiten die Kinder in altersgemischten kooperativen Gruppen. Das hat den Vorteil, dass sich jüngere Schüler Hilfe bei älteren holen können. Manches versteht sich eben viel leichter, wenn es in „Schülersprache“ erklärt wird. Und genau das ist unsere Intention: dass die Schüler miteinander arbeiten und kooperieren.

Uns Lehrkräften ist es wichtig, jedes Kind dort abzuholen, wo es steht. Dazu beobachten wir   intensiv das Verhalten des Kindes So können wir gemeinsam mit der Schülerin oder dem Schüler die Lernmaterialien individuell zusammenstellen.

News4teachers: Die Freiarbeit setzt ein hohes Maß an Selbstständigkeit voraus. Wie funktioniert sie?

Stähler: Die Freiarbeit basiert auf der Pädagogik von Maria Montessori, die davon ausgeht, dass Kinder neugierig sind und lernen wollen. In der Freiarbeit trifft ein Kind die Entscheidung, wann, zu welchem Thema und mit wem es arbeiten möchte. Eine unserer Aufgaben ist es, eine Umgebung vorzubereiten, die die Voraussetzungen für das selbstständige Lernen bietet. Dazu gehören vor allem Arbeitsmaterialien, die für die Schülerinnen und Schüler frei zugänglich in Regalen liegen. Die Materialien sind übersichtlich nach Schwierigkeitsgrad geordnet – von leicht bis schwer. Leistungsstarke Schüler können mit anspruchsvolleren Materialien arbeiten, schwächere Schüler verweilen länger bei einem Thema. Damit können wir die Kinder Schritt für Schritt auf eine höhere Stufe führen. In der Oberstufe werden in der Freiarbeit jene Aufgaben bearbeitet, die aus dem Unterricht erwachsen.

So lernen die Kinder schon sehr früh, eigenständig zu arbeiten. Diese Eigenständigkeit wird auch von den Praktikumsbetrieben gelobt. Bei uns machen die Schüler vom siebten bis zum zwölften Jahrgang jedes Jahr ein zweiwöchiges Praktikum in verschiedenen Ausbildungsberufen, was sie enorm bereichert.

News4teachers: Welche speziellen Aufgaben kommen auf die Fachlehrer zu?

Stähler: Die Fachlehrer sind sozusagen der Coach für ihre Schülerinnen und Schüler. Dazu ist es wichtig, dass sie sich ein genaues Bild von dem jeweiligen Leistungsstand machen und die Schüler richtig einschätzen können, sodass es weder zu einer Überforderung kommt noch zu einer Unterforderung. Denn eines von beiden ist meistens der Fall, wenn ein Kind mit seinen Aufgaben nicht weiterkommt. Die Lehrkräfte sind für ihre Schüler zu jedem Zeitpunkt in jedem Fach ansprechbar, wenn Probleme auftreten.

News4teachers: An Ihrer Schule duzen die Schüler:innen die Lehrkräfte. Das ist recht ungewöhnlich.

Stähler: Das stimmt. An unserer Schule duzen wir uns, wir gehen aber trotzdem respektvoll miteinander um. Das gute Vertrauensverhältnis entsteht auch durch die lange Zeit, die wir miteinander verbringen. Hier im Montessori-Zentrum können wir die Kinder oft vom Babyalter bis zum Abitur begleiten. Viele Absolventen und Absolventinnen halten sogar noch Jahre nach ihrer Schulzeit Kontakt mit uns. Das freut uns sehr.

News4teachers: Und wie ist das Verhältnis zu den Eltern?

Stähler: Die klare Struktur an unserer Schule und die Arbeit in kleinen Lerngruppen entlastet die Eltern. Wir begegnen einander auf Augenhöhe, und ich würde unser Verhältnis als partnerschaftlich bezeichnen. Die Eltern wollen das Beste für ihr Kind – genau wie wir. Wir tauschen uns oft aus und führen regelmäßig Schüler-Eltern-Gespräche. Die positiven Aspekte stehen dabei im Vordergrund. Wir greifen aber auch frühzeitig ein, wenn es zu Problemen kommt. Dann vereinbaren wir gemeinsam, wie wir sie lösen können. Denn das klassische „Sitzenbleiben“ gibt es bei uns nicht. Meiner Erfahrung nach bringen Ehrenrunden an Regelschulen den Schülern auch nicht viel, weil es meistens nur bestimmte Fächer sind, die ihnen Schwierigkeiten bereiten. Und hier setzen wir mit der Förderung an. Außerdem gibt es die Möglichkeit die Verweildauer in einer Lerngruppe zu verlängern oder auch zu verkürzen.

News4teachers: Sie sprachen vorhin bereits darüber, dass Sie in Doppelbesetzung unterrichten. Ist es grundsätzlich so, dass Ihr Kollegium enger zusammenarbeitet als an einer Regelschule?

Stähler: Das kommt natürlich auf die einzelne Schule an. Aus meiner Erfahrung würde ich aber sagen, dass die Struktur einer Montessori-Schule die Kooperation im Kollegium fördert und auch voraussetzt. Der Teamgedanke ist uns sehr wichtig. An unserer Schule versucht keiner, dem anderen in die Suppe zu spucken – bei uns wird das Süppchen gemeinsam gekocht. Das gegenseitige Vertrauen geht sogar so weit, dass wir gegenseitig im Unterricht hospitieren. Danach sprechen wir über unsere Eindrücke. Wenn uns etwas auffällt, was nicht so gut läuft, überlegen wir gemeinsam, wie man mit solchen Situationen umgehen kann.

News4teachers: Noch eine letzte Frage: Wenn Sie Kultusministerin wären, was wäre Ihre erste Amtshandlung?

Stähler: Als Erstes würde ich dafür sorgen, dass alle Schulen – sowohl Schulen in öffentlicher als auch in privater Trägerschaft – mehr Lehrkräfte bekommen. So könnten sich Lehrer und Lehrerinnen mehr Zeit für jeden Schüler nehmen.

Auch die vollgestopften Lehrpläne würde ich entschlacken und den fächerübergreifenden Unterricht stärken. Und ich würde mich dafür einsetzen, dass Schülerinnen und Schüler Methoden erlernen, wie sie sich Wissen am besten aneignen und vor allem, wie sie Probleme lösen können. Das halte ich für sinnvoller als das Pauken von Lernstoff. Vieles davon ist ohnehin nach kurzer Zeit wieder vergessen. „Bulimie-Lernen“ gäbe es mit mir nicht. Die einmal erlernte Fähigkeit, Lösungen zu erarbeiten, bleibt dagegen erhalten und kommt den Schülerinnen und Schülern ihr ganzes Leben lang zugute.

Ich würde auch die übliche Notengebung hinterfragen. Die Wortgutachten, die es in den Montessori-Schulen bis zur achten Klasse gibt, sagen viel mehr aus als nur die reine Note. Es stört mich auch, dass es beim Abitur viel zu sehr auf die Prüfungstage ankommt. Die haben einen zu großen Einfluss auf die Abschlussnoten. Wir brauchen vielfältigere Methoden, um die Leistung von Abiturenten angemessen bewerten zu können. Das Interview führte Mechtild Düpmann, Agentur für Bildungsjournalismus.

Montessori-Zentrum Hofheim
Ulrike Stähler unterrichtet Mathe und Physik am Montessori-Zentrum Hofheim. Foto: privat.

Die Erziehungs- und Bildungseinrichtung im hessischen Hofheim bietet seit 1996, mit inzwischen knapp 400 Kindern und Jugendlichen, individualisierte Lernwege von der Krippe bis zum Abitur. 46 qualifizierte Pädagog:innen begleiten und unterstützen die Kinder. Ihre Aufgabe ist es auch, für eine vorbereitete Umgebung zu sorgen, die den Bedürfnissen der jungen Menschen gerecht wird und vielfältige Lernanreize setzt. Ab der Sekundarstufe wird die Lernumgebung um den digitalen Raum erweitert und ermöglicht in zusätzlichen Lernangeboten die orts- und zeitunabhängige Kommunikation und Kooperation.

Zum Schuljahr 2008/2009 startete die gymnasiale Oberstufe. Heute lernen hier etwa 60 Schüler:innen in drei jahrgangsgemischten Gruppen gemeinsam bis zum Abitur. Die bereits in der Grundschule bewährte Freiarbeit ermöglicht das Arbeiten an eigenen Schwerpunkten oder an vorgegebenen Stoffen nach der Abiturverordnung im individuellen Lerntempo mit selbst gewählten Lernpartnern.

Weitere Informationen unter: www.montessori-hofheim.de

Montessori: “Die Orientierung am Kind und das selbstregulierte Lernen begeistern mich”

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Realist
2 Monate zuvor

Es ist schon erstaunlich, wie in letzter Zeit immer mehr Berichte auftauchen, wie schön es doch ist, mit 70 noch vor der Klasse zu stehen, neulich erst dieser Sportlehrer:
https://www.news4teachers.de/2024/06/lehrermangel-als-sportlehrer-noch-mit-80-im-schuldienst-und-er-verlaengert/

Ach, der ist sogar schon 80 Jahre alt!

Warum liest man das eigentlich nicht über VW-Angestellte? Würden die nicht auch gerne bis 70 oder 80 arbeiten? Dann wäre eine neue Industrie-Subvention (“Sozialhilfe für Unternehmen”) alleine schon aus dem Grund gerechtfertigt, um diesen Menschen nicht den Lebenssinn zu nehmen. Ist doch besser, als diese Bedauernswerten mit einer halben Million Euro mit Mitte 50 in den Vorruhestand zu schicken…

Stromdoktor
2 Monate zuvor
Antwortet  Realist
mama51
2 Monate zuvor
Antwortet  Realist

Ich wiederhole mich:
Es gibt doch immer, von irgendeinem , meistens von den gleichen Leuten, was zu meckern!
Es ist doch okay, wenn die Dame/ der Herr / wer auch immer mit 70 bis…. Jahren noch gerne unterrichtet… Was geht es mich oder sonst wen was an wie manche Menschen ihre Freizeit verbringen? Menno!!! Die einen spielen bspw Golf, andere unterrichten! WO ist das Problem?
Zumal aus meiner Sicht die Montessori Pädagogik im Vordergrund des Artikels steht und nicht unbedingt nur das Alter der Kollegin.

Lisa
2 Monate zuvor
Antwortet  Realist

Das nennt sich neudeutsch Nudging. Ich lese in Zeitschriften auch immer öfter, wie erstrebenswert das Landleben doch sei (zumindest wenn es an jeder Milchkanne G4 gäbe)

Dr. Specht
2 Monate zuvor

Sehr gerne würde ich mir an dieser Stelle eine differenzierte Betrachtung der Montessori-Pädagogik in Theorie und Praxis wünschen. Leider gibt es stattdessen immer wieder personalierte Held*innengeschichten, die in der Regel an Privatschulen mit offenkundig äußerst günstigen Rahmenbedingungen spielen.

Lisa
2 Monate zuvor

Solch eine Schule mit so kleinen Klassen und Doppelbesetzung wäre für alle wünschenswert. Und es ist auch toll, dass es mit den Eltern so klappt.

ed840
2 Monate zuvor
Antwortet  Lisa

Die Bereitschaft der Eltern Lehrkräfte und Erzieher zu respektieren und regelmäßig an Lernentwicklungsgesprächen teilzunehmen, soll nach meinen Informationen bereits für den Besuch der ersten Montessori-Schule Voraussetzung gewesen sein.

Philine
2 Monate zuvor

Ich fühle mich jetzt so schlecht und minderwertig, weil ich an einer staatlichen Schule unterrichte, sogar oft mit “Frontalunterricht” und ohne das Vertrauen meiner Schüler, die mich nicht einmal duzen dürfen/wollen.