NEUSS/MÜNCHEN. Die einen sprechen kaum Deutsch, die anderen haben nur in bestimmten Bereichen Schwächen beim Lesen und Schreiben. Wie lässt sich mit solch heterogenen Schülergruppen eine sinnvolle Förderung durchführen? Der inzwischen mehrfach ausgezeichnete Verein Interkulturelle Projekthelden e.V. aus dem nordrhein-westfälischen Neuss arbeitet seit Jahren gemeinsam mit Schulen im Rhein-Kreis und bietet neben der Hausaufgabenbetreuung auch Lernförderung für einkommensschwache Familien. Für den Bereich der Rechtschreibförderung ist inzwischen das Diagnose- und Förderprogramm Lernserver im Einsatz – mit sehr gutem Erfolg, wie Umut Ali Öksüz, Vorsitzender des Vereins und selbst Lehrer, im Interview berichtet. Ein großer Vorteil: Nach einer wissenschaftlich fundierten Diagnose, der Münsteraner Rechtschreibanalyse, erhält jedes Kind individuell auf seine Bedürfnisse abgestimmte Fördermaterialien, wodurch Schulen, außerschulische Einrichtungen und Eltern auf einfache Weise kooperieren können.
Du hast schon während deines Lehramtsstudiums einen Verein aufgebaut, der heute beispielhaft ist für interkulturelle Jugendarbeit und Extremismusprävention. Erst kürzlich habt ihr den Deutschen Nachbarschaftspreis dafür erhalten. Die Lern- und Sprachförderung ist ein wichtiger Aspekt dieser Arbeit. Sind die Projekthelden damit eine Art Brücke zwischen Eltern und Schule?
Umut Ali Öksüz: Das könnte man so sagen. Die Interkulturellen Projekthelden sind ein Kinder- und Jugendhilfeträger. Anfänglich ging es um Hausaufgabenbetreuung und Projektarbeit, um Kindern und Jugendlichen verschiedener Herkunft kulturelle Einrichtungen wie Museen oder Bibliotheken näherzubringen und ein Heimatgefühl zu stärken – genau wie gute Sprachkenntnisse ein Mittel, um Radikalisierung vorzubeugen. 2019 gründeten wir das Jugendzentrum InKult, um regelmäßige Angebote zu schaffen, die Familien unterstützen. Im Zentrum ergänzen sich nun offene Jugendarbeit und Förderung perfekt: Auf einer Etage gibt es Lernhilfe, darüber das Jugendzentrum. Kinder können spielen, nachdem sie ihre Hausaufgaben erledigt haben oder umgekehrt. Die Lern- und Sprachförderung läuft hauptsächlich über das Programm „Bildung und Teilhabe“, das Familien mit finanziellem Bedarf unterstützt.
Welche Rolle spielen die Eltern dabei?
Die Bildungsarbeit mit Eltern und Schulen ist sehr wichtig für uns. Ohne die Kooperation beider Seiten ist es schwer, Kinder optimal zu fördern. Wenn Eltern nicht mitwirken können, verläuft die Förderung langsamer. Ideal ist es, wenn Schule, Elternhaus und wir zusammenarbeiten. Wir arbeiten außerdem mit schulpsychologischen Diensten und anderen Institutionen zusammen. Inzwischen haben wir eine eigene Elternmappe entwickelt, die Eltern Orientierung und Informationen bietet, wenn es um den Zugang zu Bildung und Förderung ihrer Kinder geht. Die Grundmappe ist auf Deutsch, aber über QR-Codes kann man unter 18 Sprachen auswählen. So erreichen wir auch Eltern, die nur geringe oder gar keine Deutschkenntnisse haben.
Unser Erfolgskonzept wird inzwischen durch den Lernserver unterstützt. Das ist ein Programm für die Diagnose und Förderung der Rechtschreibkompetenzen, das ich aus meiner Studienzeit kenne und schon damals sehr beeindruckend fand.
Was macht das Lernserver-Tool besonders? Und wie koordiniert ihr die Förderung mit den Schulen?
Ich habe Erziehungswissenschaften und Islamische Religionspädagogik in Münster studiert. Aus der Zeit kenne ich den Pädagogik-Professor Friedrich Schönweiss, der das Lernserver-Konzept aufgebaut hat, das auch als Münsteraner Rechtschreibanalyse bekannt ist. Ich fand es direkt genial und habe das Programm dann bei meiner Arbeit an Schulen für die Förderung genutzt. Als wir jetzt viele Jahre später nach einer Möglichkeit für ein intensives Lese- und Rechtschreibtraining für unsere Einrichtung gesucht haben, bin ich bei der Recherche wieder auf den Lernserver gestoßen. Ich freue mich, dass wir jetzt so eng und gut zusammenarbeiten.
“Was ich am Lernserver wirklich sehr schätze, ist die individuelle Förderung, abgestimmt auf die jeweilige Person. Und das erleichtert so vielen Menschen die Arbeit.”
Wir stehen hinter dem Konzept, weil wir die Erfolge einfach merken. Ich kenne viele Programme im Lese-Rechtschreibbereich. Aber was ich am Lernserver wirklich sehr schätze, ist die individuelle Förderung, abgestimmt auf die jeweilige Person. Und das erleichtert so vielen Menschen die Arbeit: dem Kind selbst, der Lehrkraft oder begleitenden Fachkraft und den Eltern natürlich.
Es gibt sehr viel Material auf dem Markt, da weiß man manchmal gar nicht, wie soll ich denn nun richtig fördern und was passt zum Kind und seinem individuellen Förderbedarf? Das Lernserver-Programm nimmt dir die Arbeit quasi schon ab. Zum einen durch die Diagnose und dann durch die dazu passenden individuell zusammengestellten Fördermaterialien. Und nach etwa vier bis sechs Monaten können die Ergebnisse noch einmal durch einen B-Test überprüft werden. Das ist für uns natürlich Gold wert, denn damit haben wir ein Instrument, das wir den Eltern zeigen können, damit sie sehen, wo ihr Kind gerade steht und welche Fortschritte es schon gemacht hat. Anhand der einfachen Statistik in Ampelfarben können die Eltern das unabhängig von ihren eigenen Deutschkenntnissen mitverfolgen und das motiviert sie zur weiteren Zusammenarbeit.
Wir haben wirklich in kurzer Zeit schon so viele Erfolge erlebt, das ist unglaublich – auch bei Kindern, wo wir echt Sorge hatten. Die trotz Grundschulzeit nicht richtig alphabetisiert waren oder auch nicht richtig lesen konnten. Das ist auch für die Lehrkraft oder Förderkraft unheimlich gut. Denn man möchte den Kindern ja natürlich auch helfen. Und dadurch, dass wir viele Kooperationsschulen haben, die auch mit dem Lernserver-Programm arbeiten, können wir gemeinsam entscheiden, wie wir fördern. Wir sprechen uns also mit den Schulen ab, wie oft und wo das Kind trainieren soll – ob in der Schule und/oder bei uns. Und das klappt super. Auch weil die Kinder recht selbständig mit dem Lernserver-Material weiterarbeiten können.
Dadurch, dass es viele Elemente mitbringt, die die Arbeit erleichtern, ist für uns das Lernserver-Programm gar nicht mehr wegzudenken in unserer Bildungsarbeit.
Außerdem ist das Thema Nachteilsausgleich für uns hier auch wichtig: Der Lernserver ist ein wissenschaftlich fundiertes Instrument und liefert Diagnosen, die helfen, gezielt mit Schulen zu sprechen. Gerade weil der schulpsychologische Dienst, zumindest bei uns im Rhein-Kreis, überlastet ist und die Wartelisten lang sind, bieten wir eine erste Anlaufstelle für Familien. Damit entlasten wir die Strukturen.
Wie alt sind die Kinder, die in die Förderung kommen?
Zu uns kommen Kinder und Jugendliche von der ersten Klasse bis zum Abituralter. Meistens sind sie sieben oder acht Jahre alt, wenn sie mit dem Lesen und Schreiben anfangen. Das ist immer unterschiedlich, weil manche Kinder beispielsweise Fluchterfahrung mitbringen und etwas später eingeschult werden. Aber wir haben tatsächlich auch junge Menschen, die kommen mit 14, und die können auch nicht richtig schreiben und lesen, weil sie vielleicht schon ein halbes Jahr in Deutschland sind, aber ganz lange auf einen Schulplatz warten. Da versuchen wir dann in Zusammenarbeit mit verschiedenen Flüchtlingsunterkünften und den betreuenden Kräften ein bisschen auf die Schule vorzubereiten. Wenn schon ein gewisser Grundwortschatz da ist, auch mit den Lernserver-Materialien. Die Lese- und Rechtschreibförderung ist dann ein Baustein beim Ankommen in einem neuen Land und einem neuen Schulsystem.
Es kommen aber auch Kinder zu euch, die deutsche Wurzeln haben?
Ja, sicher. Das Schöne ist, dass bei uns die Kinder mit Migrations- oder Fluchterfahrung mit den Kindern aus der Mehrheitsgesellschaft, die hier aufgewachsen sind, in Kontakt kommen – und umgekehrt. Das ist, finde ich, gesellschaftliche Integration, die authentisch ist, und nicht: Wir nehmen die eine Bubble-Gruppe und setzen die in die andere Bubble. (lacht) Die Kinder sollen lernen, dass unsere Gesellschaft bunt ist und dass man eben gemeinsam aufwächst.
Was halten denn die Kinder und Jugendlichen von dem Angebot?
Wir hatten Gott sei Dank noch keine Kinder und Jugendlichen, die irgendwie gemeckert haben oder das Training langweilig gefunden hätten. (lacht) Ich glaube, das liegt tatsächlich daran, dass sie ihre Erfolge mitverfolgen können. Sie arbeiten konkret an ihren Themenfeldern, müssen also nicht ein Gesamtpaket absolvieren mit Inhalten, die sie schon beherrschen. Und sie bekommen ein direktes Feedback, sehen also, wie sie wirklich Stück für Stück besser werden. Das bestätigen uns auch Lehrkräfte und Eltern.
Wir begleiten die Kinder zwar didaktisch mit diesem Material und können immer wieder erklären und unterstützen. Aber das Gute daran ist ja, dass die Kinder und Jugendlichen eine Art eigenen Werkkoffer erhalten, mit dem sie arbeiten und dann auch selbstständig vorankommen. Sie wissen, wenn sie fertig sind, wie sie die Aufgaben abgeben, abheften und mit der nächsten Übung weitermachen. Das trainiert die Selbstständigkeit, habe ich gemerkt. Ich habe lange als Lehrer an unterschiedlichen Schulformen gearbeitet und ich kenne das. (lacht) Da heißt es dann oft einfach “Fertig.” und dann wird gewartet und in die Luft geguckt. Wenn man aber in seinem Tempo seine eigenen Materialien abarbeitet, dann passiert das nicht.
“Instrumente wie der Lernserver können eine viel effektivere gemeinsame Bildungsarbeit von Schulen und außerschulischen, unterstützenden Einrichtungen wie uns ermöglichen.”
Ist diese Art der Förderung nicht eigentlich Aufgabe der Schulen?
Ich wünsche mir, dass noch mehr Grundschulen mit diesem Programm ausgestattet werden und damit arbeiten. In Deutschland kann jedes vierte Kind nach der Grundschule nicht richtig lesen oder schreiben. Da kann man nicht einfach sagen, die Schulen sind schuld. Schulen sind überfordert, Corona hat viele Lücken hinterlassen, und das Bildungssystem hat insgesamt sehr viele Mangelerscheinungen. Das ist ja kein Geheimnis. Die Ressourcen sind zudem ungleich verteilt.
Instrumente wie der Lernserver können eine viel effektivere gemeinsame Bildungsarbeit von Schulen und außerschulischen, unterstützenden Einrichtungen wie uns ermöglichen. Gerade am Gymnasium sind grundlegende Lese-Rechtschreibkompetenzen mit Blick auf die Erprobungsstufe natürlich wichtig. Dort fallen die Lücken dann richtig ins Gewicht und haben Folgen für die gesamte Schullaufbahn. Mit dem Lernserver könnten wir diese Probleme frühzeitig angehen und den Schulstart in weiterführenden Schulen erleichtern. Wir arbeiten eng mit verschiedenen Schulen zusammen und können die Fortschritte der Schülerinnen und Schüler nach der Förderung deutlich beobachten.
Wie organisiert ihr denn die Begleitung der Kinder beim Lernen? Brauchen die Betreuer:innen ein spezielles Training oder eine Ausbildung?
In der Regel übernehmen bei uns Honorarkräfte und ehrenamtliche Fachkräfte die Förderung, die auf Lehramt oder die soziale Arbeit studieren. Das Lernserver-Institut hilft uns bei der Fortbildung. Wir bekommen als Träger eine Schulung und geben das Wissen dann unseren Kräften an die Hand. Das tun wir mindestens zweimal im Jahr, damit auch neue Kolleginnen und Kollegen damit arbeiten können. Die Lehrkräfte und die Förderkräfte sind davon begeistert, weil es nicht so komplex ist in der Umsetzung. Die Diagnose funktioniert ja ganz einfach und digital. Da muss niemand selbst den Taschenrechner rausholen, um die Auswertung hinzubekommen. Und auch die Materialien werden automatisch passend auf den Förderbedarf zusammengestellt. Die Lehrkräfte können das Lernserver-Portal nutzen, in dem für jedes Kind ein Zugang angelegt ist und der Fortschritt festgehalten wird. Das klappt gut. Und unsere studentischen Kräfte, die haben es auch sehr schnell verstanden.
Bei unseren internen Weiterbildungen simulieren wir im Team, wie so eine Förderung aussieht. Dabei spielen wir zum Beispiel auch durch, was wir tun können, wenn ein Kind vielleicht an einem Tag nicht so gut drauf ist. Wir sind ganz eng mit den Expert:innen vom Lernserver-Institut im Austausch, die uns auch pädagogisch-didaktisch immer begleiten und ansprechbar sind. So eine Art Backup zu haben, finde ich klasse. Umgekehrt stehen wir als beratender Partner für den Lernserver zur Verfügung. Denn wir bringen viele verschiedene kulturelle Hintergründe mit und kennen die Unterschiede und Probleme im deutschen Spracherwerb von Kindern und Jugendlichen, die hier geboren sind, und von denen, die aus einem anderen Land kommen.
Zur Person
Umut Ali Öksüz wuchs in Deutschland mit türkischen Wurzeln auf. Nach demHauptschulabschluss machte er erst das Fach- und dann das Vollabitur, um Lehrer zu werden. 2016 gründete er den Verein Interkulturelle Projekthelden e.V., einem Jugendhilfeträger der Stadt Neuss in Nordrhein-Westfalen. Der Verein bietet unter anderem Lern- und Sprachförderung sowie kulturelle Teilhabeprojekte an und wurde bereits mehrfach ausgezeichnet.
Seine Motivation schöpft Öksüz aus seinen eigenen Erfahrungen: Er kennt die Unsicherheiten, mit denen viele Familien mit Migrationsgeschichte konfrontiert sind, wenn es um den Zugang zu Bildungsangeboten geht und möchte diese Lücken schließen, um Eltern sowie Jugendliche besser zu unterstützen – auch um Radikalisierung frühzeitig vorzubeugen. Öksüz gehört darüber hinaus zum Leitungsteam der Forschungsstelle für religiös und politisch motivierten Extremismus an der Universität Münster.
So funktioniert der Lernserver Im Wesentlichen besteht die Lernserver-Förderdiagnose aus zwei Schritten: Auf eine einfach durchzuführende Testung folgen eine ausführliche Fehleranalyse und die Ermittlung des Förderbedarfs. Daraus erstellt das System, begleitet und überwacht von Sprachwissenschaftlern und Lerntherapeuten, individuelle Förderpläne mit konkreten Materialien; diese können dann von Lehr- und Förderkräften an der Schule, aber auch in der Nachhilfe oder zuhause gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen umgesetzt werden. Das Besondere: Die Materialien setzen genau dort an, wo das Kind zuerst Unterstützung braucht – falls nötig noch vor dem orthographischen Bereich. Dadurch wird das notwendige Grundlagenwissen sichergestellt. Die Übungen sind zudem so zusammengestellt, dass Unter- und Überforderung vermieden werden. Weitere Infos unter www.lernserver.de. Jetzt Startchancen-Programm nutzen! Weitere Infos unter www.ls-lnk.de/startchancen sowie per E-Mail an info@lernserver.de. Dies ist eine Pressemeldung des Lernserver-Instituts, Verlag für Bildungsmedien GmbH. .
“Die Bildungsarbeit mit Eltern und Schulen ist sehr wichtig für uns. Ohne die Kooperation beider Seiten ist es schwer, Kinder optimal zu fördern.”
Und das alles ist schön und gut, solange ein Elternteil nur vier Stunden täglich arbeitet oder gar nicht berufstätig ist und sich ausschließlich um die schulischen Angelegenheiten der Kinder, das Essen, die Wäsche und das Putzen kümmert. Für diejenigen, die von 7 bis 19 Uhr außer Haus sind, um zu arbeiten, sieht das allerdings anders aus.
Kinder kosten heute sehr viel Geld, besonderes als nur 1 Kind in einem Haushalt, und jemand muss dieses Geld verdienen.
Übrigens: Italien, eines der geburtenreicheren Länder Europas, rechnet damit, dass bis 2100 die Bevölkerung um 50 % schrumpft. Warum? Der Kapitalismus und all die „schönen“ Dinge, die er mit sich bringt.
Hallo Monika,
in dem hier beschriebenen Projekt müssen die Eltern nicht selbst aktiv werden, gerade weil sie das oft nicht können. Es geht darum, sie “mit ins Boot zu holen” und über die Bildungsangebote zu informieren, gut zu sehen in diesem Interview:
https://www.youtube.com/watch?v=DhSHwOQIoZA