Den Ganztag neu denken und leben – ein Modellprojekt mit Signalwirkung

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ULM. An der Martin-Schaffner-Schule in Ulm wurde im Pilotprojekt der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft ein Konzept entwickelt, das zeigt, wie sich pädagogische und räumliche Ganztagsentwicklung sinnvoll verzahnen lassen. Das Modell könnte Schule machen – im wörtlichen Sinne.

Im multiprofessionellen Team wurde ein räumliches und pädagogisches Konzept für den Ganztag entwickelt. Foto: Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft

„Qualitative Ganztagsbildung ist eine komplexe Aufgabe, die sich nur gemeinsam bewältigen lässt.“ Mit diesem Satz beginnt das Fazit der Dokumentation zum Projekt „Ganztag und Raum“ der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft an der Martin-Schaffner-Schule in Ulm. Er bringt das Ziel auf den Punkt: Schule, Ganztag, Schulträger, Verwaltung, Schulaufsicht, Bauverwaltung und nicht zuletzt die Kinder selbst müssen gemeinsam neue Lösungen entwickeln, wenn ganztägige Bildung wirklich gelingen soll.

Im Mittelpunkt steht dabei der Anspruch, Schule als gemeinsamen Lern- und Lebensort zu verstehen – nicht mehr als getrennte Sphären von Unterricht am Vormittag und Betreuung am Nachmittag. Die Stiftung betont: „Ein integriertes Nutzungskonzept lässt sich nur dann entwickeln, wenn multiprofessionelle Zusammenarbeit gelebt wird.“ Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte sollen gemeinsam Verantwortung tragen, unterstützt von kommunaler Schulverwaltung und Raumplanung.

Dieses Verständnis verändert auch den Blick auf den Raum. „Im Mittelpunkt steht dabei nicht mehr der Klassenraum, sondern unterschiedliche Räumlichkeiten, die je nach pädagogischen Nutzungsanforderungen und Sozialformen ausgewählt werden“, heißt es in der Dokumentation. Das bedeutet: Räume werden nicht mehr nach Tageszeiten strukturiert, sondern nach Funktionen und Aktivitäten. Ziel ist es, „jede Schule in einen leistungsfähigen Ort für eine qualitative Ganztagsbildung zu verwandeln“ – ohne große Umbauten, aber mit klugen Konzepten.

Das Pilotprojekt in Ulm

Wie sich dieses Prinzip konkret umsetzen lässt, zeigt das Pilotprojekt an der Martin-Schaffner-Schule. Von März 2022 bis April 2023 wurde dort – in enger Zusammenarbeit mit der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft und einem Schulbauberatungsteam aus Pädagogik und Architektur – ein neues pädagogisches und räumliches Ganztagskonzept entwickelt. Im April 2023 übergab die Stiftung der Stadt Ulm eine umfassende Projektdokumentation und somit den Staffelstab für die konkrete Umsetzung der geplanten Maßnahmen.

„Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, um an der Martin-Schaffner-Schule in den bestehenden Räumlichkeiten einen zukunftsfähigen Ganztag umzusetzen, der auf einer zeitgemäßen inklusiven Pädagogik basiert“, erläuterte Stiftungsvorständin Dr. Meike Kricke bei der Vorstellung der Ergebnisse. Ihre Vorstandskollegin, die Architektin Barbara Pampe, ergänzte: „Viele Kommunen müssen den steigenden Bedarf an Ganztagsplätzen im vorhandenen Gebäudebestand decken. Gleichzeitig müssen wir im Zuge der notwendigen Transformation des Bauwesens hin zur CO2-Reduzierung Lösungen im Bestand entwickeln.“

Das Konzept, das hier und in vier weiteren Pilotprojekten umgesetzt wurde, verfolgt deshalb einen klaren Leitgedanken: Schule ist Lern- und Lebensort zugleich. Die bisherigen Grenzen zwischen Vormittag und Nachmittag werden aufgehoben. Statt separater Räume für Unterricht und Betreuung werden alle Flächen über den ganzen Tag hinweg genutzt.

In Ulm bilden jeweils zwei Lerngruppen eine „Wohngemeinschaft“. Sie verfügen über eigene „Homebases“ und gemeinsam genutzte Räume – etwa einen Leiseraum mit Bibliothekscharakter oder einen Teamraum für Vorbereitung und Austausch. Glasflächen schaffen Sichtbeziehungen zwischen Räumen und den ehemaligen Fluren. So entstehen variable Zonen, die Lernen, Ruhe und Bewegung gleichermaßen ermöglichen.

Pädagogik in Bewegung

Das Projekt verfolgte keinen vorwiegend architektonischen, sondern auch einen pädagogischen Ansatz. Eine Lehrerin der Schule beschreibt die Wirkung so: „Das Projekt hat bei uns etwas ausgelöst.“ Im Alltag zeigt sich das neue Denken deutlich: Unterricht und Betreuung greifen ineinander, Fachkräfte und Lehrkräfte planen gemeinsam. „Es gibt jetzt ein noch stärkeres Miteinander der Professionen. Wir entwickeln einen gemeinsamen Blick auf das Kind“, heißt es auf ganztagsschulen.org.

Auch die Kinder spüren den Unterschied. Sie berichten, dass sie ihre Räume als hell und freundlich erleben – und als Ort, der ihnen „Heimat“ bietet. „Sie empfinden ihre Klassenzimmer als festen Bezugspunkt“, fasst die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft die Rückmeldungen zusammen. Wichtig sei den Schülerinnen und Schülern, dass sie einbezogen werden und sie sich bei der Bedarfsermittlung einbringen können.

Ein Symbol für die neue Lernkultur sind die „Lernspuren“ in Deutsch und Mathematik: Kinder arbeiten dabei im eigenen Tempo an individuellen Aufgaben und werden durch flexible Teams begleitet. Der Ganztag beginnt früh mit einem gemeinsamen Frühstück und endet am Nachmittag mit Lernzeit, Projekten oder Arbeitsgemeinschaften. „Wir sind nicht mehr ‚die vom Nachmittag‘“, betont die Lehrerin – ein Satz, der das neue Selbstverständnis präziser kaum beschreiben könnte.

Schule als gemeinsames Projekt

Was die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft mit Ulm anstoßen wollte, war mehr als eine Schulrenovierung: Es ging um einen Kulturwandel. Die Prozesse waren bewusst offen angelegt, damit alle Beteiligten mitdenken und aus ihrer Perspektive etwas beitragen konnten. „Das Aufbrechen von additiven Strukturen kann erst dann gelingen, wenn Räume nicht mehr nach Tageszeiten strukturiert werden“, heißt es in der Dokumentation.

Auf der Website ganztagsschulen.org, einem Portal des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, wird das Ulmer Projekt ausdrücklich gelobt. In dem Beitrag heißt es: „‚Ab in die Zukunft‘ könnte als Arbeitstitel über dem stehen, was sich seit zwei Jahren in Ulm tut.“ Weiter heißt es, die Schule gehe „neue pädagogische Wege in einem veränderten Raumkonzept“ und sei „Pilotstandort der Stadt Ulm für einen qualitativ hochwertigen, kindgerechten Ganztag“.

Die Veränderungen sind sichtbar – und spürbar. Lernräume werden flexibler genutzt, Flure zu Lernzonen, Türen zu Durchgängen, Räume zu Begegnungsorten. Unterricht, Freizeit, Förderung und individuelle Entwicklung sind nicht länger getrennte Welten. Stattdessen entsteht eine rhythmisierte Tagesstruktur, die Lernen, Entspannung und Aktivität miteinander verbindet.

Empfehlungen für andere Schulen

Die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft hat aus dem Ulmer Prozess eine Reihe von Empfehlungen abgeleitet – sie bilden so etwas wie ein Leitfaden für Schulen, die ihren Ganztag weiterentwickeln wollen.

Zentral ist die Erkenntnis, dass Ganztagsentwicklung nur im Dialog funktioniert. „Um die Bedürfnisse und Erwartungen der verschiedenen Beteiligten zu berücksichtigen, werden Workshops mit Teilnehmenden aus allen beteiligten Akteursgruppen durchgeführt“, so die Stiftung. Kinder einzubeziehen sei unverzichtbar: „Auch eine Beteiligung der Kinder ist wichtig, um ihre Bedarfe und Perspektiven in den Prozess einfließen zu lassen.“

Ebenso entscheidend ist die Einbindung der Schulträger und der Bauverwaltung. Sie sollen von Anfang an beteiligt werden, „um sicherzustellen, dass die erarbeiteten Aspekte des Ganztags erfolgreich umgesetzt werden können“. Kooperation auf Augenhöhe ist ein weiteres Prinzip: „Die Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten erfolgt auf Augenhöhe, um eine gemeinsame Basis zu schaffen und um sicherzustellen, dass alle Akteure ihre Expertise einbringen können.“

Als Voraussetzung für nachhaltige Veränderungen nennt die Stiftung auch eine offene und transparente Kommunikation. Diese müsse zwischen allen beteiligten Akteuren sowie zwischen Verwaltung und Schule frühzeitig beginnen und kontinuierlich fortgeführt werden. Regelmäßige Information des Kollegiums, klare Zuständigkeiten und Transparenz über Zeitpläne seien unerlässlich.

Die Stiftung empfiehlt außerdem, dass eine Steuergruppe den Prozess begleitet. Sie sollte aus Schulleitung, Ganztagsleitung, Vertretungen aus Schulverwaltung und Bauverwaltung sowie einer externen pädagogisch-architektonischen Prozessbegleitung bestehen. Workshops – idealerweise in Präsenz – bilden das Rückgrat des Prozesses. Pädagogische Tage böten Gelegenheit, das gesamte Kollegium einzubeziehen.

Wichtig ist auch die Freude am Prozess: „Es ist leichter, gemeinsam zu guten Ergebnissen zu kommen, wenn die Beteiligten gerne am Prozess teilnehmen“, heißt es wörtlich. Kleine, gezielte Umbauten, eine veränderte Möblierung und gemeinsame Ideen könnten „jede Schule für einen qualitativen Ganztag bereit machen“.

Und schließlich betont die Stiftung, dass jeder Prozess individuell bleiben muss: Jede Schule hat eigene räumliche Gegebenheiten, ein eigenes Team und eigene Kinder. Ein erfolgreicher Prozess orientiert sich an diesen Bedingungen – und wächst mit ihnen.

Fazit: Ein „guter ganzer Tag“ braucht viele Hände

Das Ulmer Pilotprojekt hat gezeigt, dass Ganztagsentwicklung keine Frage des Geldes oder der Architektur allein ist, sondern eine der Haltung. Durch den Entwicklungsprozess mit allen zu einem gemeinsamen Bildungsverständnis, zur multiprofessionellen Teamarbeit und zur kindgerechten Rhythmisierung wird es überhaupt erst möglich, ein anderes Nutzungskonzept zu entwickeln und davon ausgehend die minimalinvasiven Umbaumaßnahmen und eine angepasste Möblierung zu planen.

„Der Prozess in Ulm hat gezeigt, was alles möglich ist, wenn multiprofessionelle Zusammenarbeit gelingt“, bilanziert die Montag Stiftung. Ihre Botschaft an andere Schulen lautet: „Qualitative Ganztagsbildung ist eine Aufgabe für alle – gemeinsam ist es möglich, passgenaue Lösungen zu finden, die räumlich und pädagogisch zur jeweiligen Schule passen.“ News4teachers

Zur Dokumentation des Pilotprojekts „Ganztag und Raum“ an der Martin-Schaffner-Schule, Ulm: https://issuu.com/montagstiftungen/docs/230419_msu_doku_fuer_web

Die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft unterstützt News4teachers bei der inhaltlichen Gestaltung dieses und weiterer Beiträge des Themenmonats „Schulbau und Schulausstattung“.

Hier geht es zu allen Beiträgen des Themenmonats “Schulbau & Schulausstattung”. 

Und noch ein Rekord… Das neue Redaktionskonzept von News4teachers zieht!

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Fräulein Rottenmeier
1 Monat zuvor

Ich mal zusammen: So arbeiten wir seit unserem Umbau (mit Unterstützung eines Schulraumberaters der Montag-Stiftung, des Schulträgers und des OGS-Trägers) auch. Und das bereits seit einigen Jahren…..
Das Konzept sieht ebenfalls eine sehr gute Verzahnung von beiden Systemen vor. Die Räume sind durch eine intelligente Aufteilung in Jahrgangsräumen unterteilt, so dass jeder Jahrgang über einen zusätzlichen Raum verfügt, der sehr variabel genutzt werden kann.
Das Kollegium besteht aus Lehrern und PMs. Wir nutzen gemeinsam den Verwaltungsbereich mit gemeinsamer Lounge. Es gibt gemeinsame Absprachen, gemeinsame Regeln (Classroommangement) und beide Arten von Mitarbeitern sind sowohl im Vormittags- als auch im Nachmittagsbereich anzutreffen und zwar auf Augenhöhe…..

Es ist wirklich toll so zu arbeiten und haben ein schönes Klima…..

Fräulein Rottenmeier
1 Monat zuvor

In 2018, als wir einen Schulraumnutzungsberater engagiert haben, konnten die Schulträger dieses Wort nicht einmal buchstabieren…..finanziert haben wir diesen von unserem Schulbudget…..der Schulträger war auch not amused, weil da plötzlich Möglichkeiten eröffnet wurden, die sonst immer wegst Brandschutz plattgemacht wurden…..das ist übrigens das Gute an dieser Profession….es sind Lehrer mit einer Fortbildung in Architektur und kennen sich in den Bereichen Brandschutz extrem gut aus….und haben Totschlagargumente in der Tasche….
Nein, wir haben es nie in die Presse geschafft…..und wir haben uns auch nie für den deutschen Schulpreis beworben…..

Fraup
1 Monat zuvor

Schule als „Lebensort“… alleine die Vorstellung, den ganzen Tag pädagogisch ummantelt zu sein, g r a u e n h a f t ! Wo bleibt das Recht auf persönliche Freiheit am Nachmittag? Ungezwungen Freizeit zu erleben/ zu gestalten, auch einfach „abzuhängen“? Mir tun die Kinder/Jugendliche leid

GBS-Mensch
1 Monat zuvor
Antwortet  Fraup

Wo in dem Beitrag steht denn, dass die Kinder und Jugendlichen das im Ganztag nicht tun (dürfen)?

Dort, wo der Ganztag mit “Struktur” erschlagen wird, ist es meiner Erfahrung nach ausdrücklich von der Schulgemeinschaft (Eltern und Lehrern) so erwünscht.

Gelbe Tulpe
1 Monat zuvor

Schrecklich. Die Schüler haben weniger freie Lernzeit in Ruhe und weniger Erholung. Und da wundert sich, dass die Schüler immer depressiver werden. Und der Steuerzahler darf dafür auch noch enorme Summen ausgeben.

SR500
1 Monat zuvor
Antwortet  Gelbe Tulpe

Manche Kinder sind in Nachmittagsangeboten besser aufgehoben als zu Hause. Ihr Kommentar zeigt, dass Sie von der gesamten Materie wenig Ahnung haben. Es sind die Eltern die im offenen Ganztag über die Anmeldung entscheiden.

Mr X
1 Monat zuvor
Antwortet  SR500

Und sie glauben, die die es nötig haben werden im Ganztag angemeldet?

GBS-Mensch
1 Monat zuvor
Antwortet  Mr X

Ja, werden sie, weil die Eltern die aus diesem oder jenem Grund nicht zu Hause haben wollen.