DARMSTADT. Die digitale Entwicklung rast voran, doch der Schulalltag bleibt vielerorts stehen – diese Diagnose stellt Dr. Ralf Tenberg, Professor für Technikdidaktik an der TU Darmstadt, im dritten Teil seiner Reihe zur digitalen Schulentwicklung. Ausgehend von aktuellen ICILS-Befunden zeigt er, warum Deutschland international zurückfällt, welche strukturellen und professionellen Barrieren Innovation bremsen und wie KI-Technologien den Druck zusätzlich erhöhen. Change Management wird zur Schlüsselkompetenz, wenn Schulen im digitalen Wandel nicht verlieren, sondern gestalten wollen.
Hier geht es zurück zu Teil 1 der Reihe.

Aktuelle und anstehende Herausforderungen Digitaler Schulentwicklung
Betrachtet man aus Perspektive der letzten ICLIS-Befunde den Entwicklungsstand unserer Schulen bezogen auf Digitalisierung, tritt Ernüchterung ein. Deutschland liegt im internationalen Vergleich weiterhin im Mittelfeld. Schüler:innen und Lehrkräfte zeigen zwar moderate digitale Kompetenzen, aber deutlich geringere Nutzung und Innovationsdynamik als führende Vergleichsländer (z. B. Dänemark, Finnland, Korea).
Trotz umfänglicher Investitionen (z. B. Digitalpakt Schule) hat sich die digitale Schulpraxis nur verhalten verbessert – die „digitale Kultur“ in vielen Schulen bleibt strukturell schwach ausgeprägt. Lehrkräfte nutzen digitale Medien gelegentlich, aber nicht systematisch – nur etwa ein Drittel setzt regelmäßig digitale Lernplattformen oder kollaborative Tools ein. Rund 45 % fühlen sich sicher im technischen Umgang, aber nur 25 % in der didaktischen Integration. Nur etwa 40 % der Schulen verfügen über ein verbindliches Medienkonzept oder eine Digitalstrategie (Eickelmann et al., 2024, Fraillon, 2024).
Schulentwicklung ist seit jeher eine zähe Angelegenheit, insbesondere dann, wenn sie Unterricht tangiert und das ist bezogen auf die Digitalisierung unumgänglich. In der Diskrepanz zwischen dem technologisch Möglichen und dem unterrichtsbezogen Implementierten liegt unsere Digitale Schulentwicklung in Deutschland querschnittlich etwa 10 Jahre zurück (OECD, 2023). Die Gründe dafür sind bekannt:
Aufgrund unserer heterogenen Länderpolitik gibt es keinen einheitlichen nationalen Fahrplan, die Lehrpersonenbildung läuft dem zunehmenden Lehrermangel hinterher und ist aufgrund ihrer schwachen Stellung an den Hochschulen und sperriger Akkreditierungsprozesse inhaltlich sehr entwicklungsträge (Terhart, 2022), die Lehrpersonenfortbildung ist wenig professionell, strukturell diffus und chronisch unterbesetzt (Bertelsmann Stiftung, 2024) und die überall implementierten Qualitätssysteme erzeugen bei hohem administrativen Aufwand kaum nachhaltige unterrichtsbezogene Wirkungen (Rolff, 2013).
Mit der Freigabe von ChatGPT am 30.11.2022, also vor etwa 3 Jahren kam ein neuer, massiver Impuls in den ohnehin schon überfordernden Innovationsdruck auf unser Bildungssystem (KMK, 2024). In den vergangenen drei Jahren haben sich nicht nur weitere große Sprachmodelle wie Apple-Intelligence oder Gemini (google) etabliert, es kamen spezialisierte KI-gestützte Applikationen hinzu, wie z.B. Copilot (der Schreibassistent von WORD), Midjourney (Bildgenerierung), Tome AI (Präsentationen), etc. In relativ kurzer Zeit kamen ebenfalls KI-gestützte Applikationen für die Unterrichtsvorbereitung und -durchführung heraus, wie (z.B. in Deutschland) EduGPT, Aico.ai, SchulKI sowie Testassistenten wie EduTest KI, SchoolAI Assess, LOGINEO, usw.
Kurzum: Die Schulen sind aktuell technologisch extrem gefordert, mit der Folge, dass sich einige in eine Distanzrolle zurückziehen, „die neuen Medien sind kaum bildungsrelevant und bringen methodisch eher Nachteile als Vorteile“, oder andere die Neuerungen ohne Gesamtkonzept ihren innovativen Lehrpersonen überlassen, „das machen unsere Avantgardisten“. An dieser Stelle wirft sich die zentrale Frage auf, welches die aktuell zentrale Zielperspektiven für die Schulen unseres Bildungssystems bezogen auf die Digitalisierung sind:
| Zielperspektive
(1) Pädagogisch-didaktisch |
Schwerpunkt
Lernen im digitalen Wandel |
Zielbild
Personalisiertes, kooperatives, kreatives Lernen |
| (2) Organisations-entwicklung | Schule als lernende Organisation | Datenbasierte und agile Schulentwicklung |
| (3) Professionalisierung
|
Digitale Lehrkompetenz | Reflektierte, kreative und innovative Nutzung digitaler Technologien |
| (4) Infrastruktur
|
Digitale Souveränität | Sichere, barrierefreie und nachhaltige Ausstattung |
| (5) Chancengerechtigkeit
|
Teilhabe und Inklusion | Kein Ausschluss durch Technik |
| (6) Ethik & Verantwortung | Medienmündigkeit | Kritisch, reflektiert, verantwortungsvoll |
| (7) Systementwicklung | Nachhaltigkeit & Kooperation | Kontinuierlicher Entwicklungsprozess |
Mit dieser Übersicht wird deutlich, dass Digitale Schulentwicklung einerseits pädagogisch-didaktische Ziele (1) fokussieren sollte („Methoden-Strang“) andererseits aber auch die Digitalisierung als zentrales Bildungsthema (5, 6) ins Auge gefasst werden muss („Bildungsstrang“). In beiden Fällen gehen damit Ziele in der Personalentwicklung (3) und Organisationsentwicklung (2, 4, 7) einher. Beide Stränge beinhalten eigenständige Ziele, Wege und Prozesse, sie sind dabei jedoch nicht unabhängig und bedingen in jedem Fall eine Einbettung in die Personal- und Organisationsentwicklung.
Schulen, die über die zurückliegenden Jahre unterrichtsbezogene Entwicklungen initiiert und – unterstützt durch Change-Management – systematisch implementiert haben, nehmen hier eine Sonderrolle ein. Für diese Schulen ist es zum einen nichts Neues, den schwierigen „Entwicklungsbereich Unterricht“ zu adressieren, zum anderen sind die Ansätze, Instrumente und Prozesse bei Schulleitung ebenso wie beim Kollegium etabliert und akzeptiert. Damit ist nicht garantiert, dass man unmittelbar auf alle technischen Neuerungen gesamtschulisch reagieren kann, feststeht aber, dass adäquate Reaktionen möglich sind und die Schule bezogen auf den Digitalen Wandel fortlaufende Entwicklung anstelle von Lähmung bzw. Stillstand erlebt.
Solche Schulen verstehen Digitalisierung als gelenkten Entwicklungsprozess, nicht als Projekt oder Reaktion auf äußeren Druck. Nicht die Technologien, sondern die Menschen stehen hier im Mittelpunkt. Sie zeichnen sich durch eine offene, lernorientierte und partizipative Kultur aus, in der Veränderung als gemeinsamer Lernprozess verstanden und aktiv gestaltet wird. News4teachers
Im nächsten Teil der Reihe zeigt Prof. Ralf Tenberg anhand eines Beispiels aus der aktuellen Schulentwicklungspraxis, wie Digitale Schulentwicklung konkret durch Change-Management unterstützt wird. Der Beitrag erscheint in den nächsten Tagen auf News4teachers.
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Literatur:
Bertelsmann Stiftung. (2024). Monitor Digitale Bildung: Lehrkräfte zwischen Kompetenzaufbau und Überforderung. Gütersloh.
Eickelmann, B., Fröhlich, N., Bos, W., Gerick, J., Goldhammer, F., Schaumburg, H., Schwippert, K., Senkbeil, M., & Vahrenhold, J. (Hrsg.). (2024). ICILS 2023 Deutschland: Computer- und informationsbezogene Kompetenzen und Kompetenzen im Bereich Computational Thinking von Schülerinnen im internationalen Vergleich*. Münster; New York: Waxmann
Fobizz GmbH. (2024). KI-gestütztes Lehren und Lernen – Erfahrungsbericht und Evaluation. Hamburg.
Fraillon, J. (2024). ICILS 2023 International Report: An International Perspective on Digital Literacy. Amsterdam: IEA.
Klippert, H. (1994). Methodentraining: Übungsbausteine für den Unterricht. Weinheim: Beltz.
KMK (Kultusministerkonferenz). (2024). Bildung in der digitalen Welt – Fortschreibung der Strategie 2020. Berlin: KMK.
OECD. (2023). Digital Education Outlook 2023: Teaching in the Age of AI. Paris: OECD Publishing.
Rolff, H.-G. (2013). Vom Lehren zum Lernen, von Stoffen zu Kompetenzen – Unterrichtsentwicklung als Schulentwicklung. In Kompetenz-Bildung (S. 171–193
Terhart, E. (2022). Die Lehrkräfte und ihre Bildung als Bedingung für Schulqualität. In U. Steffens & H. Ditton (Hrsg.), Makroorganisatorische Vorstrukturierungen der Schulgestaltung (Beiträge zur Schulentwicklung, Band 5, S. 285–297). Münster: Waxmann.
Widerstand aus dem Kollegium: Warum digitale Schulentwicklung so häufig scheitert








