MÜNSTER. Gut jeder siebte Erwachsene in Deutschland hat gravierende Probleme mit dem Lesen und Schreiben. Die Förderung von Alphabetisierungskursen lässt trotzdem zu wünschen übrig – vor allem im Südwesten Deutschlands. Morgen ist Weltalphabetisierungstag.
Derzeit gibt es laut Bundesverband Alphabetisierung in Deutschland rund 7,5 Millionen Erwachsene, die längere Texte nicht erfassen und schreiben können. Sie gelten als «funktionale Analphabeten». Der Anteil derjenigen, die selbst einzelne Worte nicht lesen und schreiben können, liege bei rund 0,6 Prozent der Erwachsenen. Peter Hubertus vom Bundesverband bedauert Vorurteile, dass Analphabeten «dumm» seien. «Man muss doch sehr clever sein, wenn man trotz solcher Schwierigkeiten durchs Leben kommt», sagte er.
Um die Zahl der Analphabeten in Deutschland dauerhaft zu senken, braucht es seiner Ansicht nach neben geförderten Kursen auch eine gute Vorbeugung. «Die Grundschule hat da in den vergangenen 15 Jahren erhebliche Fortschritte gemacht», sagte er. Jetzt müsse die individuelle Förderung auch an weiterführenden Schulen greifen. «Gerade bei schlechten Lesern passiert in der verbleibenden Schulzeit nicht mehr so viel», bemängelt er.
Beim Kampf gegen den Analphabetismus ist ein Nord-Süd-Gefälle erkennbar: 2010 kamen nach Angaben des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung in Berlin 98 Alphabetisierungskurse an den Volkshochschulen auf eine Million Einwohner. In Baden-Württemberg waren es gerade einmal 15,6 und im Bundesschnitt 36,9. Am Ende dieser Statistik steht Bayern mit 8,9 Kursen pro eine Million Menschen. Dabei gebe es in Süddeutschland nicht weniger Betroffene als in Norddeutschland.
Anders als beispielsweise in Baden-Württemberg seien die Alphabetisierungskurse in Norddeutschland zudem kostenlos, sagt Stephan Gilles von der Mannheimer Abendakademie. Gratis-Angebote wären für die Betroffenen essenziell, weil viele davon arbeitslos seien. „Es kann doch nicht eine Frage des Geldbeutels sein, ob die Leute am Kurs teilnehmen können“, kritisierte Gilles. 150 Euro kosten zwei Monate Alphabetisierungskurs an der Abendakademie in Mannheim, der städtischen Volkshochschule. Für viele Betroffene sei das unbezahlbar. Nur in einigen Fällen übernehme das Arbeitsamt die Kosten. Er schicke jedoch niemanden weg, sagte Gille – und sei deshalb permanent auf der Suche nach Geldgebern.
Der Bundesverband Alphabetisierung zählte für 2010 in der Volkshochschulstatistik 167 Kurse für den Südwesten. Optimal seien fünf bis acht Teilnehmer je Kurs, teilte Fachreferentin Martina Haas vom Volkshochschulverband mit. Zuschüsse seien wichtig, weil die Betroffenen oft erst gefunden und angesprochen werden müssten – und ihnen dann häufig noch das notwendige Geld für den Kursus fehle. «Eine besondere öffentliche Förderung von Alphabetisierungskursen hat es bislang in Baden-Württemberg nicht gegeben», beklagt sie.
Das Kultusministerium in Stuttgart weist hingegen darauf hin, dass die Förderung der Länder für Alphabetisierungskurse schwer zu vergleichen sei, weil es viele verschiedene Fördermodelle gebe. «Das Land Baden-Württemberg unterstützt Alphabetisierungskurse im Rahmen der Weiterbildungsförderung», sagte eine Ministeriumssprecherin. In den vergangenen Monaten seien in diesem Landesprogramm rund 30 Projekte mit mehr als einer Million Euro Fördersumme bewilligt worden. Neben Schulabbrechern und Migranten seien Analphabeten durchaus eine wichtige Zielgruppe.
Beim Analphabetismus werden drei Schweregrade unterschieden:
- Level 1: 0,6 Prozent der Erwachsenen in Deutschland oder hochgerechnet rund 300 000 Menschen können laut «Level-One-Studie» beim Lesen und Schreiben selbst einzelne Worte nicht entschlüsseln.
- Level 2: 3,9 Prozent der Erwachsenen oder rund zwei Millionen Menschen können zwar einige Wörter lesen und schreiben, erfassen aber keine Sätze.
- Level 3: Rund 10 Prozent der Erwachsenen oder hochgerechnet 5,2 Millionen Menschen können zwar mit kurzen Sätzen umgehen, scheitern aber an längeren Texten.
«Betroffene Personen sind aufgrund ihrer begrenzten schriftsprachlichen Kompetenz nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben in angemessener Form teilzuhaben», heißt es in der Studie aus dem Jahr 2011. dpa
(6.9.2012)