BERLIN. Der Mann ist kein Pädagoge, kein Bildungsforscher, kein Schulpolitiker – Professor zwar, aber eben niemand, der bislang in der Bildungsdebatte Spuren hinterlassen hätte. Dann schreibt er ein Buch darüber, wie er sich die Schulwelt wünscht. Und durch Deutschlands Medienlandschaft tobt ein Orkan, gegen den der jahrelange Streit um die Pisa-Studie in der Rückschau wie ein laues Lüftchen anmutet.
Vorletzte Woche eine Titelgeschichte in der „Zeit“, am vergangenen Sonntag ein Auftritt bei „Jauch“: Der Bestseller-Autor und medienpräsente Philosoph Richard David Precht findet mit seinem neuen Buch prächtigen Widerhall. Kaum erschienen, katapultierten die Käufer das umworbene Werk mit dem langen Titel «Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern» bereits an die Spitze der Bestsellerlisten. Precht plädiert für eine «Bildungsrevolution» an der Schule. Das Merkwürdige: Die Ideen sind keineswegs neu; ein Großteil wurde schon von Reformpädagogen vor 100 Jahren vertreten.
Prechts Diagnose zählt die bekannten Mängel auf: zu viel Pauken von Unterrichtsstoff, zu wenig Vermittlung von Zusammenhängen, zu wenig individuelles Lernen und zudem sozial zu selektiv. Sein Fazit: Rumdoktern an Symptomen bringt nichts. Eine radikale Reform muss her. Dazu gehören laut Precht Kindergartenpflicht vom dritten Lebensjahr an, eine integrative Gesamtschule für alle bis zur zehnten Klasse – als Ganztagsschule mit vielen Projekten und Notenverzicht.
“Gutes Lernen ist wie guter Sex”
Neu lesen sich allerdings zum Thema Bildung bei Precht Sätze wie dieser: «Gutes Lernen, so könnte man sagen, ist wie guter Sex: Nicht auf die Athletik kommt es an, auf Tempo und Frequenz, sondern auf die Eindringlichkeit, die individuelle Variation und den nachhaltigen positiven Effekt auf unsere Psyche.» Der Vergleich sei durchaus nicht weit her geholt, beteuert der Autor. Denn bei allen Erregungen unseres Gemüts handele es sich um das gleiche Belohnungszentrum. Wie naiv – oder weltfremd – muss man sein, um nach einem Missbrauchsskandal wie dem an der Odenwaldschule (wo auch von „pädagogischem Eros“ die Rede war) solche Analogien zu bemühen?
Der Publizist («Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?») holt in seinem mit meist flotter Sprache geschriebenen neuen Buch weit aus. Er sei «ein Fan von Überblickswissen», sagte der 48-Jährige kürzlich in einem Interview. Und an diesem Wissen lässt er seine Leser unter Hinweis auf zahlreiche kluge Köpfe vom Römer Seneca über Alexander von Humboldt und Georg Picht bis zum modernen Hirnforscher Manfred Spitzer reichlich teilhaben. Tiefgang – oder gar praktische Erfahrung in Form von Lehrer-Statements – sucht der Leser allerdings vergebens.
Bereits bestehende gute Schulen mit Reformansätzen sieht der Honorarprofessor (Lüneburg und Berlin) als Vorboten einer Bildungsrevolution. Für eine deutschlandweite Veränderung brauche es aber politisches Handeln: so die Gründung eines Nationalen Bildungsrats, in dem Bund und Kommunen stimmrechtlich in der Mehrheit sind. Außerdem sollten die Parteien versuchen, mit der Forderung nach einer neuen Kompetenzverteilung in der Bildungspolitik Wahlen zu gewinnen. Und die Länder und ihre Kultusminister müssten auf Kompetenzen verzichten, so Precht (und weiß damit die Mehrheit der Deutschen hinter sich). Einen Wunsch freilich lässt er aus: Dass die Schulen endlich einmal, nachdem im Sog der Pisa-Erkenntnisse zehn Jahren an ihnen herumgedoktert wurde, Ruhe bekommen – Ruhe auch vor Fernseh-Philosophen, die noch nie vor einer Schulklasse von Pubertierenden gestanden haben. Aber natürlich wissen, wie guter Unterricht funktioniert. News4teachers / mit Material der dpa
(6.5.2013)
Zum Bericht: Precht fordert Schulrevolution – Rabe: „ein Sofakritiker“
