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Leserkritik zu Kirsten Ehrhardt: „Henri – Ein kleiner Junge verändert die Welt“

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BERLIN. Ob dieser kleine Junge wirklich die Welt verändert? Dies wird davon abhängen, ob viele Menschen dieses Buch lesen und sich beeindrucken lassen.

Aus der Sicht der Mutter und damit einer Familie können sich Lehrerinnen und Lehrer beeindrucken lassen von der Suche nach dem Verständnis für ein Kind, das sein eigenes Lerntempo braucht. Ein Kind mit Down Syndrom lernt und entwickelt sich nicht linear. Dieses Kind fordert ein wesentliches Merkmal inklusiven Unterrichts heraus: Mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten umgehen können. In Italien ist dafür der Begriff der „Heterochronie“ eingeführt worden: Sensibilität entwickeln für die unterschiedliche Geschwindigkeit, mit der sich Kinder entwickeln. Dies wird in der Zukunft zunehmend mehr für alle Kinder und für alle Schularten wichtig sein, u. a. auch deshalb weil die modernen Medien vielen Kindern inzwischen vertrauter sind als den Lehrerinnen und Lehrern oder weil hoch intelligente Flüchtlingskinder zwar die deutsche Sprache nicht so beherrschen wie das herkömmliche Schulsystem dies erwartet, aber oft mit ihrer Lernfreude und Lernbegierigkeit beeindrucken.

Kinder mit Down Syndrom wollen dabei sein. Sie lernen durch die Vorbilder der anderen Kinder, sie wollen dabei sein, wie z. B. Henri beim gemeinsamen Weg in die Schule. Sie beobachten und entscheiden dann für sich, was sie auch tun wollen, wo sie mitmachen.

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Dies fordert die Zurückhaltung, Geduld und ein großes Maß an Optimismus von den Erwachsenen, die mit diesen Kindern zu tun haben.

Weshalb tut sich das deutsche Schulsystem mit diesem Thema bisher so schwer, – im Gegensatz zu den Schulsystemen vieler anderer Länder? Dies hat viele Ursachen, auch historische. Dem deutschen Schulsystem, insbesondere den Gymnasien wird immer noch neben der notwendigen Qualifikationsfunktion die Selektionsfunktion zugeschrieben. Dabei wird jedoch vernachlässigt, dass Schule heute eine wesentliche Sozialisationsfunktion hat. Gerade leistungsstarke Kinder, die später eventuell zur Elite dieser Gesellschaft gehören werden, können in einer inklusiven Schule neben allen Unterrichtsinhalten Verantwortung lernen. Was bedeutet es, auch Verantwortung für Schwächere zu übernehmen oder am Arbeitsplatz mit sehr verschiedenen Menschen zu kooperieren? Wer als „Schülerpate“ gelernt hat, auf sehr verschiedenem Niveau im zieldifferenten Unterricht an einem Thema zu arbeiten, wird im späteren Arbeitsleben und in seiner Freizeit die Herausforderungen der vielfältigen Gesellschaft besser bewältigen können als diejenigen, die selbst mit der Angst, nicht mithalten zu können lernen mussten, in einem linear und von allen dasselbe Lerntempo erwartenden Unterricht.

Henri darf jetzt auf eine Realschule gehen. (Foto: Buchcover Heyne Verlag)

Kirsten Ehrhardt hat ihr gut zu lesendes Buch nicht nur auf der Basis der Erfahrungen mit ihrem Sohn Henri geschrieben. Jahrelang hat sie viele andere Eltern begleitet und beraten in deren Kampf um die Nicht-Aussonderung ihrer Kinder aus den „normalen“ Schulen. Wer dieses Buch aufmerksam liest, findet viele Hinweise darauf, dass die Entwicklung der deutschen Schulen in Richtung auf ein inklusives Schulsystem nicht nur notwendig ist für die Kinder, welche als besonders „förderbedürftig“ gelten und deshalb auf „Förderschulen“ verwiesen werden.
Besondere Förderung, die Beachtung der Heterochronie der Entwicklungen ist wichtig für alle Kinder. Die einen sollten sich nicht mehr langweilen müssen, die anderen nicht gehetzt werden.

Wer Anstöße für die eigenen Wege zu dem Ziel einer vielfältigen Schule für alle Kinder sucht, der sollte dieses Buch lesen – dann hat der kleine Junge Henri tatsächlich diese Welt verändert. Jutta Schöler

Mehr über das Buch: Kirsten Ehrhardt: „Henri – Ein kleiner Junge verändert die Welt.“ Wilhelm Heyne Verlag, 8,99 €

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