BERLIN. Der Philologenverband möchte sie Grundschullehrern sogar verbieten lassen: Wohl keine Methode ist so umstritten wie „Lesen durch Schreiben“ beziehungsweise „Schreiben wie Hören“, die auf den Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen zurückgeht. Prof. Dr. Erika Brinkmann, stellvertretende Bundesvorsitzende des Grundschulverbandes, erklärt im Interview, warum die Aufregung über die Didaktik und eine angeblich darauf zurückzuführende Rechtschreib-Katastrophe überzogen ist. Das Thema wird auf der weltweit größten Bildungsmesse, der “didacta” in Hannover (20. bis 24. Februar), heiß diskutiert.
Hier geht es zum “Teacher’s Guide” auf News4teachers zur “didacta”.
Frau Prof. Brinkmann, Wissenschaftler haben in diversen Studien die Rechtschreibleistungen unterschiedlicher Jahrgänge zwischen 1972 und 2016 verglichen. Mit dem Ergebnis, dass die Fehlerquote steigt. Laufen Kinder in Deutschland Gefahr, zu Rechtschreibanarchisten zu werden?
Brinkmann: Für die Entwicklung der Rechtschreibkompetenz zwischen 1945 und 2000 gibt es generell keine klaren Belege, sondern nur widersprüchliche Befunde – je nach Altersgruppe, Stichprobe, Aufgabe usw.. Das ist nicht verwunderlich, da es aus dieser Zeit keine – den heutigen Ansprüchen genügenden – repräsentativen und methodisch verlässlichen Studien gibt. Für die Zeit nach 2000 zeigt sich eine leichte Verbesserung der Rechtschreibung an den Grundschulen. Und der IQB-Ländertrend 2015 hat in 9. Klassen entgegen dem Mediengetöse in der durchschnittlichen Rechtschreibkompetenz über alle Bundesländer hinweg keine signifikanten Unterschiede zwischen den Jahren 2009 und 2015 festgestellt, während aktuell der IQB-Grundschultrend von einer leichten Verschlechterung berichtet. Die Untersuchungen ergeben ein sehr uneinheitliches Bild, das aber keinen generellen Rechtschreibverfall belegt. Trotzdem möchte ich festhalten, dass es in Deutschland nach wie vor zu viele Kinder gibt, die über eine für unsere Gesellschaft nur unzureichende Schriftkompetenz verfügen. Da gibt es auch in den Grundschulen noch viel zu tun!
Immer mehr Bundesländer wenden sich von Jürgen Reichens Methode „Lesen durch Schreiben“ ab. Ist es ein Fehler, Kinder zu ermutigen, einfach draufloszuschreiben?
Brinkmann: „Lesen durch Schreiben“ ist eine Methode, um die Kinder zum selbstständigen sinnverstehenden Lesen zu bringen. Es ist kein Verfahren, mit dessen Hilfe die Kinder die Rechtschreibung erwerben sollen. Anders im Spracherfahrungsansatz: Die Kinder sollen von Schulbeginn an in die Lage versetzt werden, mit Hilfe der Anlauttabelle die Schrift funktional zu nutzen. Die Kinder schreiben erste Wörter zu Bildern, Notizen, Einkaufszettel und Liebesbriefe, indem sie sich an der Lautung des Gesprochenen orientieren, und versuchen, das, was sie im Mund beim Sprechen fühlen, in passende Schriftzeichen zu übersetzen. Dies entspricht genau den Forderungen der KMK, in denen es heißt: „Die Kinder nutzen die Schrift von Beginn an zur Kommunikation, zum Festhalten von Informationen und zum gedanklichen Austausch.“
Mit einem Lehrgang, in dem jede Woche einen bis zwei neue Buchstaben gelernt werden, können die Kinder frühestens im zweiten Schuljahr selbstständig über das schreiben, was sie persönlich bewegt, weil erst dann alle Buchstaben „dran“ waren. Mit Hilfe einer Anlauttabelle, auf der die Kinder zu den Sprechlauten passende Schriftzeichen finden können, gelingt den meisten Kindern das selbstständige Schreiben ziemlich rasch.
Prägen sich falsche Schreibweisen nicht ein?
Brinkmann: Die Zuordnung von Lauten und Buchstaben hilft den Kindern, unser alphabetisches Schriftsystem zu verstehen und die Schrift frühzeitig aktiv nutzen zu können. Da dieses alphabetische Prinzip aber nicht 1:1 in unserer Orthografie umgesetzt wird, entsprechen die Kinderschreibungen zuerst einmal nicht den orthografischen Normen. Für den Einstieg in das Verfassen von Texten erfüllen sie aber ihren Zweck, und da die Kinder jedes einzelne Wort immer wieder neu konstruieren, prägen sich diese Schreibungen auch nicht ein. Grundsätzlich ist es also außerordentlich sinnvoll, die Kinder zum Drauflosschreiben zu ermutigen. Allerdings muss für alle Beteiligten deutlich geklärt werden, dass diese Kinderschreibungen nicht das Ziel des Unterrichts sind, sondern ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zum immer richtigeren Schreiben.
Was sollten Lehrkräfte beachten?
Brinkmann: Zentrum des Anfangsunterrichts ist das Schreiben eigener Wörter und Texte – und analog das Lesen in selbst gewählten Büchern. Beides muss zu Beginn gut eingeführt werden, zum Beispiel durch das gemeinsame lautierende Schreiben einfacher Wörter mit Hilfe einer großen Anlauttabelle im Klassenraum und durch das gemeinsame Erlesen einfacher Wörter, die graphemweise aus einem Lesekrokodil oder Turnbeutel herausgezogen und lautiert werden.
Aus diesem freien Umgang mit der Schriftsprache lassen sich dann weiterführende Aktivitäten entwickeln, wie die Übersetzung des Kindertexts durch die Lehrperson in die Buchschrift, in der die Kinder anschließend in den einzelnen Wörtern die Buchstaben markieren können, die sie schon richtig geschrieben haben. Regelmäßige kurze Rechtschreibgespräche, in denen die Lehrerin oder ein Kind ein besonders schwieriges Wort diktiert, das jeder zunächst für sich aufschreibt, dann die Schreibung mit der Partnerin oder der Tischgruppe bespricht, ehe die Lösungen gemeinsam in der Klasse diskutiert und schließlich das richtige Wort mit orthografisch korrekter Begründung aufgeschrieben wird, kommen ab Ende der ersten Klasse dazu. So kann eine zunehmend sichere Rechtschreibkompetenz aus dem freien Schreiben erwachsen – fundiert in der grundlegenden Einsicht in das alphabetische Prinzip, die Lautorientierung unserer Schrift.
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„Schreiben nach Hören“ wird auch „Lesen durch Schreiben“ genannt, weil der Methode die Annahme zugrunde liegt, Schreiben gehe dem Lesen voraus. Der Ansatz wurde in den 70er Jahren vom Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen entwickelt: Kinder sollen Lesen lernen, indem sie Wörter aufschreiben; eine Korrektur der Rechtschreibung ist zunächst nicht wesentlich. Nach einer aktuellen Erhebung des Germanistik-Professoren Wolfgang Steinig (selbst ein harscher Kritiker der Methode) arbeiten nur drei Prozent der Grundschulen in Deutschland nach Reichens Prinzipien. Steinig moniert allerdings: Elemente davon – etwa in Form von Anlauttabellen – hätten Eingang in den Unterricht der meisten Lehrer gefunden. Die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) hat ein Verbot der Methode angekündigt.
Das Thema Rechtschreibung auf der didacta 2018 in Hannover
Rotstift oder Didaktik? Wie Kinder recht schreiben lernen
Prof. Dr. Erika Brinkmann, stellvertretende Bundesvorsitzende des Grundschulverbands
- Forum Unterrichtspraxis (Halle 12, Stand D46)
- Donnerstag, 22. Februar 2018
- 12:00 – 13:00 Uhr
Veranstalter: Verband Bildungsmedien e. V.
Hier gibt es weitere Informationen zu der Veranstaltung.
Warum es nicht egal ist, wie wir schreiben
Kathrin Kunkel-Razum, Leiterin der Dudenredaktion, diskutiert mit Pädagogen und Sprachexperten: Burghart Klaußner, Theater- und Filmschauspieler (angefragt), Ulrike Holzwarth-Raether, Grundschullehrerin, Schulentwicklerin und Autorin, Professor Dr. Peter Gallmann, Mitglied des Rates für deutsche Rechtschreibung
- Forum didacta aktuell (Halle 12, Stand D14)
- Samstag, 24. Februar 2018
- 11:00 – 11:45 Uhr
Veranstalter: Bibliographisches Institut
Hier gibt es weitere Informationen zu der Diskussionsrunde.
Schwächere Schülerleistungen in der Grundschule – was tun? Konsequenzen aus der IQB-Länderstudie Klassenstufe 4
Es diskutieren: Prof. Dr. Hans Anand Pant, Geschäftsführer Die Deutsche Schulakademie gGmbH, Ties Rabe, Senator für Schule und Berufsbildung der Freien und Hansestadt Hamburg, Dr. Ludwig Spaenle, Staatsminister für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst des Freistaates Bayern
- Forum Bildung (Halle 12, Stand C45)
- Freitag, 23. Februar 2018
- 14.45 – 15.45 Uhr
Veranstalter: Verband Bildungsmedien e. V.
