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Von Engeln und Aliens – Sternstunden der Pädagogik oder: Was Kindern heute wirklich unter den Nägeln brennt

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OLCHING. Menschen und damit auch schon Kinder sind spirituelle Wesen. Im Schulalltag gerät dieser Umstand oft in den Hintergrund. Doch guter Unterricht gibt letztlich auch der Seele unserer Kinder Nahrung und Anregung findet unser Gastautor Peter Maier. Wenn das gelingt, sind berührende Momente möglich.

Die Schlagworte Flüchtlingskrise, Terrorangst und Donald Trump dominieren zur Zeit unsere Medien. Dahinter steht aber ein weiteres Thema, das gerade viele Eltern nachhaltig beschäftigt: Schule und Schulpolitik, die in Deutschland aufgrund ihrer Kulturhoheit noch immer Ländersache ist. In vielen Familien dreht sich das „Tagesgespräch“ zwischen Eltern und ihren Kindern um Schulsystem, Leistungsdruck, Prüfungsangst, Art des Unterrichts und um die Lehrer. Fühlen sich die Kinder bei einem Pädagogen wohl, sind sie sehr bereit, neues Wissen, neue Ideen und neuen Stoff aufzunehmen. Alles hängt von der (guten) Beziehung zwischen dem Lehrer* und den Kindern ab und davon, was er in seinem Unterricht anzubieten hat. Meine Erfahrung ist die: Unterricht kann gelingen, wenn das Menschliche stimmt; und wenn das Lernen und Lehren in einem letztlich spirituell ausgerichteten Kontext stattfindet.

Kinder sind spirituelle Wesen, die sich die existenzielle Lebensfragen des Lebens stellen. Foto: Pezibear / Pixabay (CC0 1.0)
Kinder sind spirituelle Wesen, die sich die existenzielle Lebensfragen des Lebens stellen. Foto: Pezibear / Pixabay (CC0 1.0)

Unsere Kinder sind spirituelle Wesen
Seit mir dies selbst bewusst geworden ist, empfinde ich es als erfüllend, junge Menschen bei ihrem Werdegang, bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung, ihrer Charakterbildung und Werteerziehung als Lehrer begleiten zu dürfen. Es handelt sich ja bei den Kindern und Jugendlichen ausnahmslos um offene, spirituelle, ja göttliche Wesen, mit denen ich tagtäglich in der Schule zusammen bin. Was kann es Schöneres geben? Dieser Blick auf unsere Kinder gerät heute leider immer mehr in Vergessenheit. Denn in unseren Schulen geht es fast nur noch um die Vermittlung von geistigem Wissen, sowie um die Aneignung von (digitalen) Kompetenzen und Fertigkeiten. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Wo aber wird die magische und spirituelle Seite unserer Kinder angetriggert und in Schwingung versetzt? Wo in der Schule bekommt die Seele unserer Kinder noch Nahrung und Anregung?

Im Folgenden möchte ich zwei Stunden aus meiner eigenen Praxis als Religionslehrer beschreiben, die mir persönlich im Nachhinein als „Sternstunden der Pädagogik“ erschienen sind. Ich glaube, jeder Lehrer, der seinen Beruf wirklich liebt, wird ab und zu derartige besondere Unterrichtssituationen erleben können. Mir ist bewusst, dass solche Unterrichtsstunden, wenn sie denn überhaupt entstehen, ein absolutes Geschenk für den Lehrer und für die Klasse sind und nur in den seltensten Fällen wiederholt werden können. Man kann als Lehrer höchstens den Rahmen dafür setzen und dann wahrnehmen, dass jetzt gerade während der Unterrichtsstunde etwas Besonders, Magisches, ja Heiliges in den Köpfen und Herzen der Schüler geschieht. So etwas kann niemals „gemacht“ werden. Womöglich geht einem dies als Lehrer selbst erst nach solch einer Stunde auf. Wichtig ist aber, dass man sich dies bewusst macht. Und man kann in einem solchen Fall nur voll Dankbarkeit konstatieren, dass sich soeben etwas Zauberhaftes, Magisches, also eine Sternstunde der Pädagogik, ereignet hat.

Engelstunde in der 5. Klasse
In einer 5. Klasse in Religion ging es um Gott. Ein Aspekt dieser Thematik war, mit meinen Schülern über die Vorstellung von Engeln und Geistwesen zu sprechen. In einer Materialsammlung für die 5. Jahrgangsstufe in Katholischer Religionslehre fand ich einen kurzen Textauszug aus dem Roman „Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort“ des norwegischen Schriftstellers und Philosophen Jostein Gaardener. Bei Wikipedia ist zu diesem Roman folgende kurze Inhaltsbeschreibung zu finden:
„Das fünfzehnjährige norwegische Mädchen Cecilie Skotbu wird durch eine schwere Krankheit bettlägerig. Zu Beginn der Weihnachtszeit erscheint ihr ein Engel mit dem Namen Ariel, mit dem sie einen Pakt eingeht: Ariel will ihr die Geheimnisse des Kosmos enthüllen, wenn sie ihm dafür zeigt, wie es ist, als Mensch zu leben und Gefühle zu empfinden und ihm, der dies nur schwer nachempfinden kann, das menschliche Leben erklärt. In zahlreichen Gesprächen, in denen auch Cecilie mehr über ihr eigenes vergängliches Leben erfährt, versuchen Ariel und Cecilie sich gegenseitig zu verstehen, während es Cecilie immer schlechter geht und sie zu sterben droht. Zum letzten Mal in ihrem Leben denkt sie über ihre eigene Existenz nach, bis der Engel Cecilie sie schließlich auf ihre letzte Reise mitnimmt.“

Peter Maier ist Gymnasiallehrer in Bayern. (Foto: privat)

Nachfolgend ein kleinerer Teil des Textauszugs von diesem Dialog zwischen dem Engel Ariel und dem wahrscheinlich an Krebs erkrankten Mädchen Cecilie, den ich vorher als Kopie an meine Schüler verteilt hatte. Ariel beginnt das Gespräch:

„’Engel und Menschen haben beide eine Seele, die Gott geschaffen hat. Aber ihr habt auch einen Körper, der seinen eigenen Weg geht. Ihr wachst und entwickelt euch wie Pflanzen und Tiere … Alle Pflanzen und Tiere fangen ihr Leben als kleine Samenkörner oder Zellen an. Zuerst sind sie sich so ähnlich, dass man gar keinen Unterschied erkennen kann. Aber dann entfalten sich die kleinen Samenkörner langsam und werden alles von Johannisbeersträuchern und Pflaumenbäumen bis zu Menschen und Giraffen. Es dauert viele Tage, bis man einen Unterschied zwischen einem menschlichen und einem Schweineembryo sehen kann. Hast du das gewusst?‘ Sie nickte … ‚Und doch gibt es keine zwei Strohhalme, die ganz miteinander übereinstimmen.‘ … Ariel berührte mit einer Hand vorsichtig ihre Decke. Sie konnte nur mit Mühe einen leichten Druck an der Wade spüren. ‚Du bist ein Tier mit einer Engelseele, Cecilie. Und von beiden hast du gerade das Beste. Klingt das nicht toll?‘ ‚Ich weiß nicht…‘. ‚Diese Kombination ist doch das eigentliche Kunststück. Du bist bei vollem Bewusstsein, genau wie die Engel im Himmel … Aber der Körper, in dem du wohnst, ist aus Fleisch und Blut, genau wie bei Kühen und Kamelen. Deshalb wachsen Haare auf deinem Körper, vor allem natürlich auf deinem Kopf … Wenn ihr aus der Hand des Schöpfers entlassen werdet, sind eure Körper so glatt und rein wie die der Engel im Himmel.’“**

Bei der Unterrichtsreihe, in der ich dieses „Engel-Gespräch“ zwischen Cecilie und Ariel einsetzte, ging es vor allem um die Frage, wie man sich Engel und Gott vorstellen könnte. Ich gab den Kindern nach dem gemeinsamen Lesen des Textauszugs zunächst etwa zehn Minuten Zeit, sich alle wichtigen Fragen zu notieren, die sich bei ihnen dazu ergeben würden. Dann bat ich sie, sich die drei wichtigsten ihrer Fragen bunt anzustreichen und diese in der anschließenden Gesprächsrunde nacheinander im Plenum vorzutragen.

Kinder stellen Fragen des Lebens
Selten habe ich erlebt, wie umfangreich, tiefgreifend und ernst die Fragen waren. Offensichtlich hatte dieser Textauszug einen Nerv bei den zehn- bis elfjährigen Kindern getroffen, viele Fragen ausgelöst und zum Weiterdenken angeregt. Ihre Fragen betrafen kindlich-naive Engel- und Gottesvorstellungen ebenso wie existentielle Lebensfragen zu Sterben, Tod und Jenseits. Die Klasse wirkte dabei sehr konzentriert. Niemand redete dazwischen. Offensichtlich spürten die Kinder instinktiv, dass es jetzt um „die“ Fragen schlechthin ging, die womöglich bereits schon länger in ihnen geschlummert hatten, nun aber ein Forum fanden, wo sie ausgesprochen werden konnten.

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Schön war, dass sich die Kinder nicht vor ihren Klassenkameraden genierten, ihre Fragen vorzutragen. Dies dauerte bis zum Ende der Stunde. Die folgende Stunde diente dann dazu, dass ich als Religionslehrer die Fragen, so gut ich eben konnte, zu beantworten versuchte und weitere Rückfragen der Schüler entgegennahm. Auch in dieser Stunde hätte man eine Stecknadel fallen hören können, so konzentriert waren alle bei der Sache – eine Sternstunde der Pädagogik. Nachfolgend ein kleiner Auszug aus dieser Fragereihe der Schüler:

• Wie viele Engel gibt es? Sehen sie alle aus wie Ariel? Wie ist ihr Engelkörper genauer beschaffen und was ist der Unterschied zu unserem Menschenkörper?
• Konnte Cecilie den Engel Ariel wirklich sehen und ihn auch spüren, wenn er sie berührte? Wo wohnen die Engel eigentlich und müssen sie ebenfalls sterben wie wir?
• Gibt es wirklich einen persönlichen Schutzengel für uns Menschen? Können wir ihm begegnen, etwa im Traum?
• Was ist eine Seele und wieso haben wir Menschen eine Engelseele in uns? Ist das der Grund, dass wir, wie die Engel, mit Gott verbunden sind?
• Leben unsere verstorbenen Verwandten, unsere Großeltern etwa, als Engel weiter? Haben sie nach ihrem Tod ebenfalls Engelkörper, die wie Ariel schweben können und durchsichtig sind? Und können sie uns auch besuchen wie Ariel die Cecilie und uns nahe sein?
• Gibt es auch auf anderen Planeten Engel und sind sie so etwas Ähnliches wie Aliens?
• Was geschieht mit mir, wenn ich sterbe? Ist unser jetziges Leben auf der Erde nur eine Vorbereitung auf das „richtige“ Leben bei Gott? Haben wir Menschen nach unserem Tod noch Erinnerungen und Gefühle? Treffen wir dann unsere verstorbenen Verwandten wieder?
• Gibt es Totengeister und müssen wir uns vor ihnen fürchten? Wo wohnen diese Geister? Wohin komme ich nach dem Tod? Gibt es einen Himmel und ein Paradies?
• Gibt es überhaupt einen Gott? Und wie sieht er aus? Hat er eine ähnliche Gestalt wie Engel, etwa so wie Ariel?
• Wie fühlt sich Gott, wenn ein Kind weint oder lacht. Hat er Mitleid? Kennt Gott unsere Gedanken und Gefühle? Und kann Gott mich hören und mir antworten, wenn ich zu ihm spreche?
• Gibt es eine Wiedergeburt? Können wir also erneut geboren werden? Kennt ein Baby vielleicht schon vorher seine zukünftige Familie, bevor es auf die Erde kommt?

Nach diesen beiden Stunden war ich sehr ergriffen und tief erfüllt. Denn sie waren nicht nur von ihrem Inhalt her magisch, sondern auch durch die Fragen der Schüler. Ich war erstaunt, dass Kinder, ausgehend von noch kindlich-naiven Engelvorstellungen, bereits solche existentiellen Lebensfragen stellen können und diese auch beantwortet haben wollen, die viele Erwachsene heute einfach verdrängen. In den beiden Stunden herrschte eine gespannte Aufmerksamkeit und Konzentration wie selten zuvor und ich konnte dabei zusehen, wie mit jeder einzelnen Frage und Antwort etwas in den Kindern geschah. Es war, als ob sich ihr Bewusstsein Stück für Stück erweitern und wachsen würde, etwa so, wie wenn sich die Blüte einer Blume gerade Blatt für Blatt entfaltet.

Fazit: Solcher Unterricht ist nicht nur für viele Schülerinnen und Schüler sehr anregend und nachdenklich stimmend, sondern auch zugleich für mich als Lehrer sehr erfüllend und beflügelnd. Stunden wie diese sind wie das Salz in der Suppe, die dem Schuljahr Würze geben, Licht ins Dunkel bringen, Schülern und Lehrer Flügel verleihen und die (gute) Beziehung zwischen Lehrer und Schülern nachhaltig vertiefen. Es macht Freude, Lehrer zu sein.

Peter Maier
(Gymnasiallehrer, Jugend-Inititiations-Mentor und Autor)

* Mit „Schüler“ sind natürlich immer Schülerinnen und Schüler gemeint, mit „Lehrer“ Lehrerinnen und Lehrer und mit „Kollegen“ Kolleginnen und Kollegen.

 

 
**zitiert nach: Katholisches Schulkommissariat in Bayern: Materialien für den Religionsunterricht an Gymnasien, Katholischer Religionsunterricht Jahrgangsstufe 5, Heft 2/2004, S.8

Über den Autor

Peter Maier ist Gymnasiallehrer, Jugend-Initiations-Mentor und Autor. Weitere Infos und Buch-Bezug unter: www.initiation-erwachsenwerden.de

Bereits erschienene Bücher:
• „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale“. ISBN 978-3-86991-404-6 (18,99 €, Epubli Berlin)

• „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band II: Heldenreisen.“ ISBN 978-3-86991-409-1 (19,99 €, Epubli Berlin)

• „Schule – Quo Vadis? Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens“. ISBN: 978-3-95645-659-6 (20,99 €, Epubli Berlin)

Das aktuelle Buch des Autoren ist im Epubli-Verlag erschienen.

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