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Wenn Lehrkräfte besonders gefordert sind: Provokationen von Schülern in KZ-Gedenkstätten

DÜSSELDORF. Fälle von rechtsextremem Verhalten minderjähriger Besucher von KZ-Gedenkstätten sorgen zunehmend für mediale Aufmerksamkeit. Dabei sind es nicht nur die extremen Einzelfälle, die Besorgnis erregen. Warum solche Vorfälle scheinbar häufiger auftreten und worin der Kern des Problems liegt.

“Arbeit macht frei”: Schüler in der Gedenkstätte Auschwitz. Foto: Shutterstock / Shanae Ennis-Melhado

Entspannte Pose, die eine Hand lässig in der Hosentasche, die andere zu einem Handzeichen geformt. Im Hintergrund bildet sich der berüchtigte Eingang des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau in Polen ab, besonders deutlich erkennbar ist das markante Eingangstor mit dem Wachturm, durch das die Bahnrampe führt. Die Jugendlichen posten das Foto auf Instagram – so, wie man das heute eben macht.

Doch der Beitrag hat eine andere Dimension. Das Handzeichen, das die vier Schüler aus Görlitz in die Kamera strecken, könnte als harmloses ‘Okay-Zeichen’ durchgehen – wenn der Kontext nicht gegeben wäre. Jedoch wird die Handgeste seit einigen Jahren unter extremen Rechten zunehmend als Symbol für White Power verwendet. White Power – das steht für Rassismus, die Ablehnung demokratischer Werte und den Glauben an die Vorherrschaft weißer Menschen. Gerade in Auschwitz, einem Ort, an dem millionenfach Jüdinnen und Juden ermordet wurden, wirkt die Geste wie eine zynische Provokation. Das Bild schlägt in den sozialen Medien hohe Wellen und macht ein Problem sichtbar, das kein Einzelfall zu sein scheint.

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Der Vorfall steht stellvertretend für eine Reihe vergleichbarer Ereignisse, die in den letzten Jahren mediale Aufmerksamkeit erlangten. In Greifswald wurde Ende Mai ein weiterer Fall bekannt: Auch dort zeigten zwei Neuntklässler in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz ein dem White-Power-Gruß ähnliches Handzeichen und filmten sich dabei. In der Gedenkstätte Bergen-Belsen stimmten Mitschüler „Ausländer raus“-Gesänge an. Immer wieder kommt es zu Anzeigen, Suspendierungen und dokumentierter Radikalisierung.

„Es geht ihnen um Provokation. Junge Menschen sind noch nicht gefestigt in ideologischen Haltungen“

Für viele Schulen ist ein Besuch von KZ-Gedenkstätten ein zentraler Bestandteil der historisch-politischen Bildung. Nach Angaben des Bayerischen Rundfunks sind beispielsweise etwa ein Drittel aller Besucher der KZ-Gedenkstätte Dachau Schulklassen. Das entspricht hochgerechnet mehreren hunderttausend Schülern pro Gedenkstätte jährlich. Rikola-Gunnar Lüttgenau, Historiker und Leiter Strategische Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit der KZ-Gedenkstätte Buchenwald erkennt unter den Besuchern ein weites Spektrum an Fehlverhalten, das sich nicht nur in rechtsradikalen Gesten äußert. Auch das Tragen von unangebrachter Kleidung, Alkoholkonsum oder das Herumklettern auf den Gedenkflächen gehört zu den häufig beobachteten Formen von Respektlosigkeit durch Besucher. Er weist auf strikte Hausregeln hin, an die es sich zu halten gilt. Diese müssen dabei den Gegebenheiten immer wieder angepasst werden „[…] zum Beispiel durch Social Media. Für das Aufnehmen von Fotos gilt eine Genehmigungspflicht.“

Lüttgenau betont, dass das Fehlverhalten nicht ausschließlich bei Jugendlichen zu beobachten ist: „In der Gruppe glauben viele, sich mehr erlauben zu können. Solche Fälle gab es auch schon in den 1990er-Jahren. Neu sind heute die Formate, mit denen das Verhalten öffentlich gemacht wird.“ Ob es sich bei den Vorfällen um gezielte Provokationen oder um mangelndes Verständnis für die Tragweite des Ortes handelt, lasse sich seiner Ansicht nach nicht pauschal beantworten.

Stefan Düll ist Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und erkennt in Fällen wie dem der Görlitzer Schüler einen klaren Beweggrund: „Oft fehlt das historische Verständnis – und bei einigen wirkt die mediale Aufmerksamkeit, die solche Gesten erzeugen, geradezu reizvoll. Es geht ihnen um Provokation. Junge Menschen sind noch nicht gefestigt in ideologischen Haltungen.“ Den Jugendlichen fehlen oft Grundkenntnisse, auch weil sie, anders als die Generationen vor ihnen, keinen persönlichen Bezug durch Eltern oder Großeltern zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs haben, so Düll. Kaum jemand findet im Familienalbum noch Bilder aus dieser Zeit. Viele bringen einen anderen familiären Hintergrund mit – und damit auch andere Perspektiven. Eine internationale Umfrage der Jewish Claims Conference zeigt, dass 40 % der 18- bis 29-Jährigen in Deutschland nicht wussten, dass etwa sechs Millionen Juden während der NS-Zeit ermordet wurden. Zudem stimmten 2 % der Befragten der Aussage zu, dass der Holocaust nie stattgefunden habe.

Düll betont, dass sich die Problematik längst nicht mehr allein über den Geschichtsunterricht lösen lässt. Denn zur historischen Bildung komme heute ein weiterer entscheidender Faktor hinzu: Medienkompetenz.

Viele junge Menschen beziehen ihr Wissen nicht aus dem Schulbuch, sondern aus sozialen Netzwerken, ihrer Peergroup oder dem familiären Umfeld. Schulen müssten daher nicht nur Wissen vermitteln, sondern junge Menschen auch dazu befähigen, Inhalte kritisch zu hinterfragen und einordnen zu können. Der Schulleiter und Präsident des Deutschen Lehrerverbandes betont jedoch auch die dadurch begrenzten Eingriffsmöglichkeiten der Schule: „Ich sehe darin für die Schulen weniger Verantwortung als Herausforderungen, nicht alle gesellschaftlichen Probleme können durch die Schule aufgefangen werden. Man kann nur bilden, nicht erziehen.“

„Es gibt einen klaren Unterschied zwischen einem Museum und einer KZ-Gedenkstätte – denn eine solche Gedenkstätte ist auch ein Friedhof“

Dass sich dieses Phänomen auch in Gedenkstättenbesuchen widerspiegelt, beobachtet die stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen Katrin Unger. Neben respektlosem Verhalten fällt immer öfter auf, dass Schülerinnen und Schüler kritische bis zweifelnde Fragen stellen. Diese stehen oft in Verbindung zu der Stellung der Jugendlichen zu aktuellen Geschehnissen wie dem Krieg in Israel und Gaza. Unger kritisiert, wie auch Lüttgenau von der Gedenkstätte Buchenwald, dass Schülerinnen und Schüler sich oft gar nicht bewusst sind, an welchem Ort sie sich befinden: „Es gibt einen klaren Unterschied zwischen einem Museum und einer KZ-Gedenkstätte – denn eine solche Gedenkstätte ist auch ein Friedhof.“ Eine gründliche Vorbereitung durch die Schule sei deshalb unerlässlich.

Eine Realschullehrerin aus NRW, die jährliche Exkursionen zu der Gedenkstätte Bergen-Belsen begleitet und ihre Schülerinnen und Schülern in einer einhergehenden AG auf den Besuch vorbereitet schildert, dass auch zunehmend Eltern die Bedeutung von Gedenkstättenbesuchen infrage stellen. Umso wichtiger sei es, Identifikationspunkte zu finden, um die Schülerinnen und Schüler bei dem Thema abzuholen. Der Zugang zum Thema gelingt ihr über Anne Frank – ein Mädchen im Alter der jungen Menschen, das in seinem Tagebuch auch während der Zeit des Versteckens vor dem NS-Regime von Gefühlen und Alltagssorgen berichtet. Erste Schwärmereien oder nervende Familienmitglieder, das kennen die Schüler nur zu gut. Im Klassenzimmer macht sie die Unterdrückung jüdischer Lebenswelten während des Nationalsozialismus greifbar, nicht durch Bilder von Massengräbern, sondern durch das Aufzeigen schleichender Einschränkungen.

Schritt für Schritt lässt sie die Jugendlichen nachvollziehen, wie Verbote und Demütigungen in den Alltag eindrangen. Dann stellt sie die Frage in den Raum: „Wie würdest du dich fühlen, wenn…“ Ja, wie würden sich die Schüler fühlen, wenn sie den Strand nicht mehr besuchen dürften, ihr Haustier abgeben oder erniedrigend auf Läuse kontrolliert würden? Dass die Vorbereitung nicht nur fachlich, sondern vor allem emotional geschieht, ist wichtig: „Die Unsicherheit vieler Lehrer ist nachvollziehbar. Unumgänglich ist eine gute Vorbereitung der Besuche. Denn bei einem richtigen Verhalten auf dem Gelände geht es nicht um ein Einhalten von Regeln, es geht um ein Verständnis. Jede Besucherin, jeder Besucher bringt eigene Fragen mit und diese brauchen individuelle Antworten. Oft wissen Schüler im Kern jedoch gar nicht, wo sie sind. Deshalb haben wir in Buchenwald sogenannte Awareness-Teams eingerichtet, die genau dort ansetzen“, betont Rikola-Gunnar Lüttgenau.

„Hauptsache, es gibt eine Reaktion. Eventuell muss ein Schüler von der Gruppe entfernt werden, und der Lehrer muss das Einzelgespräch suchen”

Doch eine gute Vorbereitung reicht nicht aus, auch während des Besuchs sind die Lehrkräfte gefragt. Dort beobachtet das Personal oft, wie Schülerinnen und Schüler allein gelassen werden. Unger appelliert an Lehrkräfte, einzuschreiten, wenn es zu Zwischenfällen kommt und sich nicht verunsichern zu lassen: „Hauptsache, es gibt eine Reaktion. Eventuell muss ein Schüler von der Gruppe entfernt werden, und der Lehrer muss das Einzelgespräch suchen, um die Situation richtig einzuordnen.“

Bei rechtswidrigem Verhalten sieht sich das Personal der Gedenkstätten dazu verpflichtet, rechtliche Schritte einzuleiten. Die Notwendigkeit betont auch Düll: “Wenn eine Straftat vorliegt, ist sie als solche zu sehen. Dann ist das Einschreiten der Polizei verpflichtend.“ Doch auch die Schulen selbst dürften nicht untätig bleiben: „Man muss die Schüler nicht entlassen, aber man kann sie vom Unterricht ausschließen und Elterngespräche führen. Schüler müssen spüren, dass ihr Verhalten Konsequenzen hat – sie dürfen nicht den Eindruck bekommen, dass solche Aktionen folgenlos bleiben.“ In dem Fall der Schüler aus Görlitz griff die Schulleitung sofort durch und zog harte Konsequenzen: Schulverweise – und Sozialstunden in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Milla Priboschek, News4teachers-Redaktion

Hier geht es zu allen weiteren Beiträgen des Themenmonats “Klassenfahrten und außerschulische Lernorte”. 

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