BREMEN. Das bundesweit einzigartige Pilotprojekt zur digitalen Arbeitszeiterfassung an Schulen gewinnt an Fahrt: Nach mehreren Pilotschulen in Bremen beteiligt sich nun erstmals auch die Stadt Bremerhaven. Damit wächst das Vorhaben, ein praxistaugliches und rechtssicheres Modell für die Erfassung der Lehrkräftearbeitszeit zu entwickeln, zu einem landesweiten Projekt heran. Ziel ist es, das System ab dem Schuljahr 2026/27 unter realen Bedingungen zu erproben und anschließend für eine mögliche flächendeckende – bundesweite? – Einführung weiterzuentwickeln. Auf Arbeitsebene sind die anderen Bundesländer auch schon eingebunden.
Bildungssenator Mark Rackles (SPD) treibt das Projekt voran. „Ich freue mich sehr, dass wir die Basis der Pilotschulen jetzt auf zehn ausweiten und dabei auch Bremerhaven mit einbinden können. Mit den zusätzlichen Schulen aus Bremen und Bremerhaven wächst unser Vorhaben zu einem echten Landesprojekt heran, das noch besser die Vielfalt der Tätigkeitsschwerpunkte und Zeitsysteme abbilden kann“, sagt er. Die Einbindung erfolge in enger Kooperation mit Lehrkräften, Schulleitungen, Personalvertretungen sowie den beiden kommunalen Verwaltungen. Der Vergleich unterschiedlicher Schulstrukturen verspreche wertvolle Erkenntnisse für ein realistisches Modell, von dem am Ende auch andere Bundesländer profitieren könnten.
Neu im Projekt ist die Gymnasiale Oberstufe des Schulzentrums Carl von Ossietzky in Bremerhaven – ein Sonderfall im Land Bremen, weil das Modell der eigenständigen Oberstufe nur dort existiert. Schuldezernent Prof. Hauke Hilz betont die Besonderheiten: Der Magistrat Bremerhaven sei Anstellungsträger der Lehrkräfte und damit anders aufgestellt als die Stadtgemeinde Bremen. Trotzdem unterstütze man das Vorhaben. „Ich bin froh, dass sich das Kollegium der Gymnasialen Oberstufe des Schulzentrums Carl von Ossietzky zur Teilnahme an dem Pilotprojekt bereiterklärt hat. Wichtig ist, dass ein derartiges Projekt vom Kollegium getragen wird“, so Hilz. Eine weitere Bremerhavener Schule könnte folgen; entsprechende Gespräche laufen.
Wie der Pilot aufgebaut ist: Drei Phasen bis mindestens 2027
Das Projekt folgt einem langfristig angelegten Dreischritt:
- Vorbereitungsphase (bis 31. Juli 2026): Entwicklung der technischen und organisatorischen Grundlagen, Konzeption der digitalen Erfassung per App auf dienstlichen Endgeräten, Entwicklung eines Ordnungsrahmens zum Datenschutz und zur Nichtverwendung der Daten für Leistungsbewertungen.
- Pilotphase (1. August 2026 bis 31. Juli 2027): Ein komplettes Schuljahr lang erfassen alle Beschäftigten an den Pilotschulen ihre Arbeitszeit digital. Zwischenevaluationen sollen frühzeitig Hinweise auf Optimierungsbedarf liefern.
- Evaluationsphase (ab 1. August 2027): In Zusammenarbeit mit dem Institut für Qualitätsentwicklung im Bremer Bildungswesen sowie der Telekom-Stiftung werden die Ergebnisse analysiert und in Empfehlungen überführt. Grundlage soll langfristig eine neue Lehrkräftearbeitszeit- und Dienstverordnung sein.
Durch die Aufnahme Bremerhavens wird der Prozess nun landesweit abgestimmt vorbereitet. Die beteiligten Verwaltungen und Schulen wollen ihre Erfahrungen fortlaufend austauschen. Das Vorhaben soll so eine solide Datenbasis schaffen, die auch für andere Bundesländer vorbildhaft sein kann.
Hintergrund: Warum Bremen vorangeht – und welches Problem das Projekt lösen soll
Mit der Einführung des Pilots reagiert Bremen auf ein grundlegendes strukturelles Problem: das über 150 Jahre alte Deputatsmodell. Dieses regelt lediglich die Zahl der zu haltenden Unterrichtsstunden, nicht jedoch die Vielzahl weiterer Tätigkeiten – von Korrekturen über Elterngespräche bis zu Konferenzen. Studien und Expertisen weisen seit Jahren darauf hin, dass Lehrkräfte regelmäßig über die gesetzlichen Arbeitszeitnormen hinaus arbeiten, oft mit gesundheitlichen Folgen. Dabei gibt es mittlerweile zwei Grundsatzurteile, die die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für Arbeitgeber fixiert haben.
Das Bundesarbeitsministerium erkennt den Anspruch von Lehrkräften auf Erfassung ihrer Arbeitszeit schriftlich an. In einem Brief an Rackles – seinerzeit noch nicht im Bremer Amt – heißt es, die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung ergebe sich „bereits unmittelbar“ aus der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts von 2022 (das seinerzeit ein Urteil des Europäischen Gerichtshof für Deutschland bestätigte). Sie gelte schon jetzt für alle angestellten Lehrkräfte. Für beamtete Lehrkräfte seien die Länder zuständig. Klar sei jedoch: Das „Ob“ der Verpflichtung sei entschieden – es gehe nur noch um das „Wie“.
Jacob Chammon, Geschäftsführer der Deutschen Telekom Stiftung, bringt es auf den Punkt: „Das derzeit geltende Arbeitszeitmodell ist nicht mehr zeitgemäß und verhindert, dass Lehrkräfte ihre Potenziale zum Wohle von Kindern und Jugendlichen wirklich voll ausschöpfen können.“ Die Stiftung begleitet den Bremer Pilot im Rahmen ihres Werkstattprojekts „Freiräume(n)“, das seit 2024 an Schulen erprobt, wie Arbeitszeit und pädagogische Innovation zusammengedacht werden können.
Den Impuls für die umfassende Reform lieferte unter anderem Mark Rackles selbst: Der heutige Senator legte bereits 2023 eine Expertise im Auftrag der Telekom-Stiftung vor, in der er ein Jahresarbeitszeitmodell mit vier Tätigkeitsclustern vorschlug. Schulen sollten demnach eigenverantwortlich mit einer Globalzuweisung wirtschaften können. Ein Ziel: Teilzeitkräfte durch transparente Arbeitsbedingungen wieder für mehr Stunden zu gewinnen. Rackles bezifferte das Potenzial bundesweit auf bis zu 30.000 zusätzliche Vollzeitstellen.
Politische Brisanz: Bremen hat die KMK-Linie aufgebrochen
Während Bremen handelt, halten andere Länder an der Position fest, Lehrkräfte seien von der Pflicht zur Zeiterfassung ausgenommen. Doch diese Lesart gilt als überholt. Das Bundesarbeitsministerium schrieb Rackles im Sommer, damals noch nicht im Amt des Bremer Bildungssenators, unmissverständlich in einem Brief, die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung ergebe sich „bereits unmittelbar“ aus der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts von 2022 (das seinerzeit ein Urteil des Europäischen Gerichtshof für Deutschland bestätigte). Rackles kommentierte daraufhin: „Das ‚Ob‘ der Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit auch bei Lehrkräften ist bereits geklärt! Es geht nur noch um das ‚Wie‘.“
Ein bundesweites Austauschforum ist inzwischen eingerichtet – unterstützt von der Telekom-Stiftung. Im Dezember findet erstmals ein Treffen auf Staatssekretärsebene statt, parallel – so ist zu hören – werden Fachreferentinnen und Fachreferenten sowie Projektleitungen miteinander arbeiten. News4teachers
