BERLIN. Es war ein Abschied – und vielleicht auch ein Anfang. An diesem Wochenende kam der Bürgerrat Bildung und Lernen zum vorerst letzten Mal zusammen. Fünf Jahre lang hatten 700 zufällig ausgeloste Menschen aus ganz Deutschland, darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche, miteinander beraten, gestritten, gerungen: über Kitas, Schulen, berufliche Bildung und darüber, was dieses System eigentlich leisten muss, um im 21. Jahrhundert Bestand zu haben. Herausgekommen sind Empfehlungen, die Wissenschaft und Praxis bereits als bemerkenswert visionär gewürdigt haben. Nur die Politik, die sie umsetzen müsste, blieb am Ende weitgehend fern.
Im vollbesetzten Saal des Berliner Veranstaltungszentrums Radialsystem saßen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Lehrkräfte-Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Vertreterinnen und Vertreter von Eltern, Schülerschaft und Schulleitungen. Doch von den 16 Kultusministerinnen und Kultusministern der Länder hatte den Weg nach Berlin nur einer gefunden: der Bremer Bildungssenator Mark Rackles (SPD).
Womöglich bezeichnend, dass der neu in seinem Amt ist – und sich anschickt, sich einen Namen als Reformer zu machen: Rackles gilt als Antreiber eines bundesweit einmaligen Modellprojekts in Bremen, in dem ein neues Arbeitszeitmodell für Schulen entwickelt werden soll (unumgänglich nach einem Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts) – was womöglich die Schulen in Deutschland in den nächsten Jahren mehr verändern wird als jede Bildungsreform der vergangenen zwei Jahrzehnte.
Immerhin, das Bildungsministerium von Rheinland-Pfalz hatte einen Offiziellen geschickt: den Verantwortlichen für das innovative Modellprojekt „Schulen der Zukunft“. Auch das wohl bezeichnend.
„Es ist zu spüren, dass das eine Kraft ist, mit der sich Zukunft gestalten lässt“
Ansonsten unter den Gästen – viel Expertise: Heinz-Peter Meidinger, Ehrenpräsident des Deutschen Lehrerverbands, Ayla Çelik, Vorsitzende der GEW Nordrhein-Westfalen, der Politikwissenschaftler Prof. Sebastian Kurtenbach, der stellvertretende VBE-Bundesvorsitzende Tomi Neckov, der frischgebackene Bundeselternratsvorsitzende Norman Heise, Leander Heydenreich, gerade aus dem Amt geschiedener bisheriger stellvertretender Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, GEW-Schulexpertin Anja Bensinger-Stolze sowie der Vorsitzende der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule Dieter Zielinski. PISA-Chef Andreas Schleicher nahm an einer Diskussionsrunde per Videoschalte teil.
Und was wurde auf dem Kongress diskutiert? Wer eine reine Rückschau erwartet hatte, sah sich getäuscht – in gut zwei Dutzend Workshop-Formaten, Talkrunden, sogenannten Fish-Bowl-Diskussionen wurde weiter an der Zukunft der Bildung gearbeitet.
Eine Würdigung des Geleisteten durfte aber schon sein. Mut hat vor allem die Montag Stiftung Denkwerkstatt bewiesen, die den Bürgerrat Bildung und Lernen initiiert und organisatorisch unterstützt hat. „Es ist schon eher ungewöhnlich, dass eine Stiftung nur den Rahmen für eine Initiative setzt – ohne zu bestimmen, was inhaltlich passiert“, befand Stiftungsvorstand Karl-Heinz Imhäuser. „Es hat sich aber bestätigt, dass die Bürgerinnen und Bürger sehr weitsichtig denken. Der Bürgerrat Bildung und Lernen hat die Zeichen der Zeit erkannt, wie die vielen positiven Reaktionen aus der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Bildungspraxis belegen. Es ist zu spüren, dass das eine Kraft ist, mit der sich Zukunft gestalten lässt.“
Die Energie hat offensichtlich auch viel mit der konstruktiven Atmosphäre zu tun, in der der Bürgerrat miteinander gearbeitet hat. Gymnasiast und Bürgerratsmitglied Sebastian berichtete: „Die Diskussionen verliefen immer auf Augenhöhe. Da war es egal, wie alt jemand ist. Jeder wurde mitgenommen, auch die Kinder und Jugendlichen. Kritische Stimmen braucht man, um am Ende ein gutes Ergebnis zu bekommen.“ Schülerin und Bürgerratsmitglied Ronja sagte: „Am Anfang war ich schüchtern. Heute fällt es mir viel leichter zu diskutieren – das ist durch den Bürgerrat gekommen. Die kontroversen Diskussionen mit den Erwachsenen waren richtig toll. Das würde ich mir auch in der Schule wünschen.“
Warum die Bürgerrats-Empfehlungen ganz anders ausgefallen sind als Umfragen zum Bildungssystem, die meist wenig Reformbereitschaft von Bürgerinnen und Bürgern erkennen lassen, erklärte Bürgerratsmitglied Florian, Student, so: „Ein Riesengewinn des Bürgerrats war, dass man sich Zeit nehmen konnte, die Meinungen abzuwägen und nachzudenken, um dann vielleicht festzustellen: Die eigenen Argumente sind gar nicht so gut. Das ist ein Prozess, bei dem auch mal umgedacht wird – und etwas ganz anderes, als eben mal schnell Meinungen in einer Umfrage einzusammeln, bei der Leute befragt werden, die sich nie ernsthaft mit dem Thema beschäftigt haben.“
Auf dem Kongress nun schälte sich zunehmend ein Thema heraus, das der Bürgerrat in seinen Empfehlungen zwar schon gestreift, aber offensichtlich noch nicht zu Ende debattiert hat: Was ist Bildung überhaupt – im KI-Zeitalter? Lexikalisches Wissen spucken Chat GPT und Co. mittlerweile binnen Sekunden aus. Welche Konsequenzen hat das insbesondere für das Schulsystem? Was muss es leisten? Welche Fertigkeiten benötigen junge Menschen, um auch in Zukunft bestehen und die großen globalen Herausforderungen – von der Klimakrise bis hin zur Demokratiekrise – bestehen zu können?
Diese Empfehlungen hat der Bürgerrat dazu jeweils mit Mehrheit beschlossen. Im Wortlaut:
- „An Schulen soll es mehr individuelles, lebensnahes Lernen geben. Fast einstimmig sprechen sich die Bürger*innen dafür aus, dass Kinder und Jugendliche in der Schule besser auf das Leben nach der Schule vorbereitet werden sollen. Jedes Kind soll mehr Raum für seine Persönlichkeitsentwicklung und seine individuellen Interessen und Stärken bekommen. Dafür soll es unter anderem mehr lebensnahe, altersgerechte Wahlpflichtfächer geben.
- Schulen sollen Demokratie lehren und leben. Die Bürger*innen plädieren dafür, dass demokratische Grundwerte aktiv im Schulalltag gelebt und politische Bildung insgesamt ausgebaut werden soll. Kinder sollen altersgerecht in Entscheidungen einbezogen werden.
- Kinder sollen Schritt für Schritt lernen, mit Freiheit umzugehen. Die Freiheit der Lernenden soll in einem Prozess Stück für Stück nach Entwicklungsstand (z. B. Klassenstufe) erhöht werden. So können Kinder und Jugendliche Selbstständigkeit aufbauen und entsprechende Freiräume individuell nutzen. Verpflichtende Überprüfungen sind notwendig, um Lernvereinbarungen einzuhalten.
- Schüler*innen sollen die Lerninhalte mitgestalten können. Weniger Lehrplan, mehr Mitbestimmungsrechte durch verringerte Pflichtinhalte im Lehrplan ermöglichen Freiräume für die individuelle Mitgestaltung der Lerninhalte. Das fördert Freude und Motivation zum Lernen. Lehrkräfte unterstützen die Schüler*innen individueller.“
Kurzfassung eines Schülers auf dem Kongress: „Es geht darum, dass wir mehr mitbestimmen können, was im Lehrplan steht und mit welchen Methoden unterrichtet wird – also was wir lernen und wie wir lernen.“
Davon ausgehend gingen die Diskussionen ins Eingemachte. VBE-Vize Tomi Neckov formulierte es klar: „Wir leben im Informationszeitalter, das Wissen wächst rasant. Da kommen wir mit Stoffhuberei nicht hinterher. Die braucht es auch nicht – es geht darum zu lernen, den Überblick zu bekommen und Verbindungen herzustellen, um daraus dann eigene Lösungen entwickeln zu können. Natürlich muss es dafür Grundlagen geben, ein gewisses Grundwissen. Schülerinnen und Schüler müssen aber nicht die Bodenbeschaffenheit in Südamerika kennenlernen, wenn die sie nicht interessiert. Faktenwissen allein trägt nicht mehr. Wir müssen den Mut haben, Bildung anders zu denken.“
Die Frage „Was ist Bildung?“ wurde zugleich konkret. Bürgerratsmitglied Anja sagte: „Was sollen Schülerinnen und Schüler können? Wir haben keinen allgemeinen Bildungsbegriff. Klar ist, auch die Steuererklärung bekomme ich nur hin, wenn ich lesen kann. Wenn ich mir allerdings die Lehrpläne der Oberstufe anschaue, dann denke ich, dass sich darin die Lieblingsthemen derjenigen wiederfinden, die die Lehrpläne geschrieben haben. Das Ergebnis ist ein ‚teaching to the test‘. Aber worum sollte es denn eigentlich gehen? Beispiel Mathematik – das ist für mich ein Fach, bei dem es ums Problemlösen gehen sollte. Ich sehe ein Problem, das sieht kompliziert aus, und überlege – wie löse ich das denn? Dafür müsste es viel mehr Raum geben. Streicht dafür die Hälfte aus den Lehrplänen raus!“
Eine Lehrerin ergänzte: „Ich würde mir wünschen, dass die Erkenntnisse der Lernforschung im Schulsystem nicht so ausgebremst würden. Wir schöpfen die Potenziale nicht aus – es geht so viel verloren. Dabei ist die Energie ja da, das sieht man auch hier.“
GEW-Schulexpertin Anja Bensinger-Stolze brachte einen anderen Aspekt ein: „Unser Verständnis von Bildung hat auch mit unserem Menschenbild zu tun – zielen wir nur auf Verwertbarkeit?“
„Wir müssen Schülerinnen und Schüler mehr in die Verantwortung nehmen. Der traditionelle Unterricht spricht sie ihnen ab“
Bürgerratsmitglied Heidrun, eine Personalentwicklerin im Ruhestand, vermochte zwischen Ansprüchen der Wirtschaft und einem neuen Bildungsbegriff hingegen keinen Widerspruch zu erkennen – im Gegenteil: „Wir müssen Schülerinnen und Schüler mehr in die Verantwortung nehmen. Der traditionelle Unterricht spricht sie ihnen ab. Wir brauchen mehr praxisorientiertes Lernen, mehr projektorientiertes Lernen. Die Unternehmen sind da oft weiter. Da geht es um die sogenannten Soft Skills, um Teamfähigkeit, um Kommunikationsfähigkeit, um soziale Kompetenz. Das wird in der Schule viel zu selten entwickelt.“
Bürgerratsmitglied Matthias analysierte: „Es gibt ein Spannungsfeld zwischen einem Grundwissen als gemeinsamer Basis – und dem, was einen einzelnen Jugendlichen interessiert und er vielleicht lernen möchte. Schule muss nicht vermitteln, wie man eine Wohnung anmietet oder eine Steuererklärung macht. Sie muss aber Schülerinnen und Schülern das Gefühl vermitteln, dass sie es selbst hinbekommen, wenn sie mit solchen Herausforderungen konfrontiert sind.“
Und er fügte hinzu: „Es geht um die Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Und das hat dann auch mit dem Thema Demokratie zu tun. Wenn ich ein gesundes Selbstbewusstsein habe, dann bin ich viel eher bereit, mich konstruktiv in die Gesellschaft einzubringen.“
Wie das funktioniert? Der Bürgerrat Bildung und Lernen hat es selbst vorgemacht. Die Lust zu diskutieren war bei den Teilnehmenden jedenfalls erkennbar ungebrochen. Einer regte gleich eine Neuauflage an: „‚Was ist Bildung heute‘ wäre doch ein super Thema.“ News4teachers / Andrej Priboschek
Hier lassen sich die vollständigen Empfehlungen des Bürgerrats herunterladen.
