KÖLN. Nach dem Amoklauf von Newtown rückt eine Studie wieder in den Fokus, die eine Kölner Psychologin unlängst vorgelgt hat. Danach gibt es jährlich bundesweit im Schnitt rund 400 dokumentierte Fälle von Amokdrohungen an Schule. Und: Die Dunkelziffer ist groß.
Memmingen, im Mai. Ein Schüler löst Angst und Schrecken in seiner Schule aus: Er fuchtelt mit zwei Waffen herum, ein Schuss fällt. Schüler und Lehrer verschanzen sich in der Schule, dem 14-Jährigen gelingt die Flucht. Am Abend wird er von der Polizei gefasst, ohne dass jemand verletzt worden wäre.
Meist sind es allerdings weniger spektakuläre Anlässe, die Schulleitungen und Polizei alarmieren. „Ich laufe Amok“ – oft reicht dieser Satz, mit Kreide auf eine Schultafel geschrieben, an die Wand einer Schultoilette gesprüht oder in einem Internetforum gepostet, um für gehörige Unruhe zu sorgen. Wie häufig Drohungen wie diese an deutschen Schulen sind, darüber gab es laut „Kölner Stadt-Anzeiger“ bislang nur Spekulationen. Einzelne Bundesländer würden zwar Zahlen herausgeben. Eine bundesweite Auswertung polizeilich erfasster Drohungen aber habe es bisher nicht gegeben.
Nun hat die Kölner Diplom-Psychologin Sarah Neuhäuser mit ihrer Studie die bestehende Erkenntnislücke geschlossen. Danach ist klar: Amokdrohungen an deutschen Schulen sind tatsächlich viel häufiger als bisher angenommen. Für ihre Studie habe die Forscherin Daten verschiedener Länderinnenministerien zwischen 2006 und 2010 ausgewertet, berichtet der „Kölner Stadt-Anzeiger“. Alle Meldungen umfassen laut Bericht das Datum der Drohung, die betroffene Schulform sowie das Geschlecht und Alter desjenigen, von dem die Drohung ausgeht. Drohungen würden nicht immer konkret geäußert, heißt es. Auch das Abspielen einschlägiger Musiktitel zähle bereits als Drohverhalten.
Dass die Daten bislang nicht zusammengetragen wurden, liegt der Zeitung zufolge auch an der fehlenden bundeseinheitlichen Datenbank. „Es sind Daten, die unglaublich verschwiegen behandelt werden, deshalb war es nicht einfach, sie zusammenzutragen“, sagt Neuhäuser. Die Zurückhaltung, mit solchen Fällen an die Öffentlichkeit zu gehen, hat Gründe: Einerseits sollen Eltern, Schüler und Lehrer nicht beunruhigt werden. Andererseits rufen Amok-Drohungen oft auch Trittbrett-Fahrer auf den Plan. Jede Drohung, die zu einer zeitweiligen Schließung einer Schule führt, animiert potenzielle Nachahmer. Umso mehr jeder tatsächliche Amok-Fall.
Die Studie lässt ahnen, wie viele Trittbrettfahrer von der Berichterstattung über Amoktaten angestachelt werden: So habe sich unmittelbar nach der Bluttat von Winnenden die Zahl der Amokdrohungen bundesweit vervierfacht. Allein an Schulen in NRW seien im März 2009 über 100 Drohungen eingegangen, berichtet der „Kölner Stadt-Anzeiger“. Das Geschehen von Newtown lässt nun Vergleichbares erwarten.
Das Ergebnis von Neuhäusers Arbeit lese sich „wie ein Schauermärchen über den deutschen Schulalltag“, stellt die Zeitung fest. Demnach seien in den zehn Bundesländern, die jetzt erfasst wurden, in fünf Jahren insgesamt 2612 Amokdrohungen registriert worden – durchschnittlich 400 Drohungen pro Jahr. Allein in NRW habe es 1279 solcher Meldungen gegeben. Diese hohe Fallzahl erklärt Neuhäuser dem Blatt zufolge mit der guten Erfassung dort: „Würden andere Länder die Drohungen ebenso gut dokumentieren, wäre die Quote ähnlich hoch.“ NINA BRAUN
(22.7.2012, aktualisert am 15.12.2012)