Wenn Jürgen Beverförden aus seiner Kindheit berichtet, treten dem gestandenen Mann immer wieder Tränen in die Augen. Er wurde 1944 als uneheliches Kind in Osnabrück geboren, seine Mutter ging mit einem anderen Mann ins Ausland und ließ ihre beiden Kinder zurück. Brigitte und Jürgen kamen ins Kinderheim, in dem es für kleinste Dinge drakonische Strafen und Prügel gab.
«Schwarze Pädagogik» nennen Erziehungswissenschaftler inzwischen dieses Konzept. Für viele Kinder und Jugendliche hat der Aufenthalt in solchen Erziehungsanstalten körperliche und seelische Narben hinterlassen. Beverförden ist heute Sprecher ehemaliger Heimkinder in Niedersachsen.
Du bist ein Nichts!» So fasst eine heute 62 Jahre alte Frau aus Oldenburg, die ihren Namen nicht nennen will, ihren rund drei Jahre dauernden Aufenthalt in einem evangelischen Erziehungsheim am Niederrhein zusammen. Sie sei ein rebellisches junges Mädchen gewesen, das auch Widerworte gegeben habe, erzählt sie. «Ich komme aus einer klassischen Arbeiterfamilie der 50er Jahre.» Die Verhältnisse waren beengt, die Mutter schwer krank. Als sie starb, sei ihr Vater überfordert gewesen. Sie kam ins Heim. «Man hat meinem Vater vorgegaukelt, es wäre das beste, wenn ich da hin käme», sagt sie. In dem Heim erlebte sie größte Erniedrigungen und Isolation. Keine Bücher, keine Zeitungen, kein Kontakt nach Hause. Vom Tod ihres Vaters habe sie erst nach drei Wochen gehört.
Mit dem Schicksal der Heimkinder in Westdeutschland beschäftigte sich seit 2009 ein Runder Tisch, an dem Betroffene, Träger, Wissenschaftler, Verbände, Vertreter des Bundes, der Länder und der Kirchen teilnahmen. In der Folge wurde ein Fonds von 120 Millionen Euro aufgelegt. Seit Anfang des Jahres können von den früheren Heimkindern Anträge gestellt werden. Für die Opfer der Kinderheime in der DDR soll zum 1. Juli ein 40 Millionen Euro schwerer Fonds eingerichtet werden.
120 Millionen vor allem für therapeutische Hilfe
Ein Großteil der 120 Millionen Euro seien für therapeutische Hilfe vorgesehen, und nur ein kleiner Teil für Rentenausgleichszahlungen, sagt Pastor Thomas Feld, der beim Diakonischen Werk Oldenburg Ansprechpartner für Opfer ist. Dass der Schwerpunkt bei dem Fonds auf Therapieleistungen liege, stoße bei vielen Betroffenen auf Unverständnis, sagt er. Die früheren Heimkinder seien heute zwischen 50 und 80 Jahre alt. «Die haben ihr Leben gelebt und haben ein erfolgreiches Leben gelebt», sagt Feld.
Das Angebot einer Trauma-Therapie empfänden die meisten Heimkinder als Anmaßung, berichtet Feld. Wichtig sei, dass ihr Schicksal anerkannt werde. Auch materielle Hilfen seien für viele Betroffenen wichtiger – etwa die Anerkennung der Arbeit in den Heimen als Rentenausfallzeit.
«Vielen ist wichtig, dass ihnen geglaubt wird», sagt Rüdiger Scholz, Bereichsleiter für Kinder und Jugendhilfe von Bethel im Norden. Seit vier Jahren bietet er früheren Heimkindern aus Freistatt bei Diepholz ein regelmäßiges Treffen an. Bethel habe auch ein Buch veröffentlicht und sich zur schlimmen Geschichte bekannt. Neben therapeutischer sei auch materielle Hilfe wichtig. «Da sind viele Menschen, die am Existenzminimum kratzen. Wenn die 1000 oder 2000 Euro bekommen, ist denen schon viel geholfen.»
Die Arbeit von Bethel sei vorbildlich, sagt Beverförden. «Die haben auch die alten Akten noch.» Denn das Problem sei, dass viele Betroffene nachweisen müssten, in einem Heim gewesen zu sein. Die Aufhebepflicht der Dokumente sei aber schon längst verjährt. Für die Heimkinder beginne damit erneut ein entwürdigender Kampf mit der Bürokratie. Manchmal habe er den Eindruck, dass manche das Problem durch den natürlichen Tod der Opfer lösen wollten, sagt er bitter.
(16.4.2012)

