LANDSBERG. Das Thema Unterrichtsentwicklung ist ein Dauerbrenner in den Schulen. Viele Lehrkräfte sind verunsichert und zum Teil auch ratlos. Neue Curricula, neue Bildungsstandards, veränderte Schüler, neue Schularten, neue Forschungsbefunde – das alles verlangt nach Reformen. In seinem neuen Buch zieht der renommierte Unterrichtsentwickler Heinz Klippert Bilanz.
News4teachers.de: Warum steht das Thema Unterrichtsentwicklung seit Jahren so sehr im Focus?
Klippert: Spätestens seit PISA ist den Bildungsverantwortlichen hierzulande klar geworden, dass unsere Schüler anders als früher gefordert und gefördert werden müssen. Traditionelles Pauken und Rezipieren von Lernstoff reichen nicht mehr. Diemoderne Informations- und Wissensgesellschaft verlangt nach selbstständiger Informationsbeschaffung und -verarbeitung, nach Teamarbeit, Präsentationsvermögen, Methodenbeherrschung und anderen Schlüsselkompetenzen mehr. Offene Unterrichtsformen, freies Arbeiten, neue Prüfungsverfahren, kompetenzorientierter Unterricht und verstärkte Förder- und Differenzierungsanforderungen stehen für diese Neuausrichtung des Unterrichts. Die neue Messlatte ist also klar. Was dagegen weniger klar ist, ist der praktische Umsetzungsmodus. Wie kommt man zu dieser neuen Lehr- und Lernkultur? Wie erreicht man Nachhaltigkeit? An der Beantwortung dieser Fragen sind viele Bildungsverantwortliche höchst interessiert. Sie möchten endlich vorwärts kommen. Deshalb ist das Thema Unterrichtsentwicklung seit Jahren so zentral.
News4teachers.de: Warum ist es so schwer, den Unterricht zeitgemäß weiterzuentwickeln? Was hemmt die Lehrkräfte?
Klippert: Fakt ist, dass der Unterricht in Deutschlands Schulen nach wie vor sehr lehrerzentriert verläuft. Das zeigt die Unterrichtsforschung. Für Rheinland-Pfalz z.B.gilt, dass laut Schulinspektion 70 Prozent des Unterrichts lehrerzentrierter Klassenunterricht sind. Zwar sehen die meisten Lehrkräfte durchaus ein, dass sich der Unterricht verändern sollte; sie wissen in der Regel allerdings nicht, wie sie das bei laufendem Alltagsbetrieb schaffen können. Daraus resultieren Zweifel und Unsicherheit, Halbherzigkeit und Resignation. Dementsprechend zaghaft und dilettantisch wird vielerorts vorgegangen. Wie die Schulentwicklungsforschung zeigt, setzen die meisten Kollegien viel zu abstrakt und punktuell an. Der eine macht dieses, der andere jenes. Viele machen auch gar nichts. Es mangelt auf jeden Fall an Systematik und Verbindlichkeit. Das Vorgehen ist oft viel zu aufwändig. Es wird zu wenig kooperiert. Probleme werden vorschnell beklagt und zu wenig gelöst. Zudem mangelt es an Unterstützung von oben und außen. Das gilt für die Politik wie für die Lehrerbildung. Die Folge ist: Viele Lehrkräfte fühlen sich allein gelassen und in gewisser Weise auch überfordert.
News4teachers.de: Gelten diese Problemanzeigen generell oder nur für bestimmte Schularten. Wo sehen Sie Unterschiede?
Klippert: Mein Eindruck ist, dass sich die Lehrkräfte in allen Schularten und Schulstufen relativ schwer damit tun, den Unterricht nachhaltig weiterzuentwickeln. Der Problemdruck ist zwar überall da; auch die Heterogenität in den Klassen sorgt für immer neue Herausforderung und Schwierigkeiten. Woran es jedoch mangelt, das sind die konkreten Handlungsperspektiven. Das gilt vor allem für die Gymnasien, die Realschulen und die berufsbildenden Schulen. Während sich die Lehrkräfte an Grund -Haupt- und Gesamtschulen eher leichter damit tun, den Unterricht zu öffnen und mehr selbsttätiges, kooperatives und handlungsorientiertes Lernen zuzulassen, sind die Vertreter der erstgenannten Schularten doch noch sehr stark auf ihre traditionelle lehrerzentrierte und lehrerkontrollierte Stoffvermittlung fixiert. Das macht den Aufbruch zu einer neuen Lernkultur natürlich schwieriger, ungewohnter und riskanter.
News4teachers.de: Was würden sie innovationswilligen Lehrkräften denn empfehlen, damit deren Bemühungen tatsächlich zum Erfolg führen?
Klippert: Erfolgsgarantien gibt es natürlich keine. Unterrichtsentwicklung ist und bleibt ein höchst kompliziertes Geschäft. Allerdings gibt es einige Grundmaximen, mit deren Hilfe sich die Gefahr des Scheiterns wirksam minimieren lässt. Diesen Gelingensbedingungen bin ich in meinem neuen Buch „Unterrichtsentwicklung –aber wie?“ nachgegangen. Dabei habe ich mich auf zahlreiche Reformprojekte gestützt, die ich in unterschiedlichen Schularten und Bundesländern betreut habe. Meine Bilanz ist durchaus differenziert: Kollegien mit wenig Innovationserfahrungen sollten eher behutsam starten mit einfacheren Varianten des handlungsorientierten Unterrichts. Produktive Arbeitsblätter, themenzentrierte Medienproduktionen, Rollenspiele, Planspiele, Debatten und sonstige schüleraktivierende Lernund Interaktionsarrangements, das sind mögliche elementare Einstiege in die neue Lehr- und Lernkultur. Sie sind relativ überschaubar, berechenbar und erfolgsträchtig; gleichwohl bleiben sie eher punktuell und oberflächlich. Das mindert ihre Nachhaltigkeit. Deshalb sollten mutigere Kollegien unbedingt anspruchsvoller und systematischer ansetzen.
News4teachers.de: Wie sieht diese Systematik aus? Gibt es auch da unterschiedliche Abstufungen und Strategien?
Klippert: Es gibt durchaus unterschiedliche Systematiken. Die von mir entwickelten Lernspiralen z.B. repräsentieren ein spezifisches Unterrichtsskript, das die Unterrichtsplanung und -führung der Lehrkräfte sehr systematisch verändert. Die unterrichtlichen Aktivitäten und Interaktionen der Schüler treten in den Vordergrund und werden ebenso verbindlich wie konsequent ausgebaut. Dieses neue Unterrichtsskript sichert klare und wiederkehrende Lernabläufe und ist von den Lehrkräften relativ schnell zu erlernen. Das erleichtert seine nachhaltige Umsetzung. Hinzu kommt: Lernspiralen implizieren verlässliche Regeln und pädagogische Standards. Sie gewährleisten Differenzierung und Individualisierung, Kompetenzförderung und Schüleraktivierung, Lehrerkooperation und Lehrerentlastung. Das alles begünstigt eine breite Reformoffensive in den Kollegien. Der Innovationspfad ist klar; die Routinebildung auf Lehrer wie auf Schülerseite kann zügig vorangehen.
News4teachers.de: Garantiert die besagte „Routinebildung“ erfolgreiche Unterrichtsentwicklung oder muss da noch Weiteres hinzukommen?
Klippert: Ohne Routinebildung auf Lehrerseite bleibt Unterrichtsentwicklung eine hohle Angelegenheit. Die Lehrkräfte müssen mit der neuen Lernkultur so vertraut werden, dass ihnen das Planen und Durchführen entsprechender Unterrichtsstunden im besten Sinne des Wortes locker von der Hand geht. Dazu aber brauchen sie konkretes Training und verlässliche Prozeduren, klare Standards und wiederkehrende Übungen. Das gilt für den Unterricht selbst wie für die entsprechende Stundenvorbereitung. Diese Art der Routinebildung ist freilich nicht ausreichend. Hinzu kommen müssen spezifische institutionelle Rahmenbedingungen in den Einzelschulen. Das beginnt mit dem Bilden von Lehrerteams und dem Ermöglichen von Teamarbeit, Teamteaching und Hospitationen und reicht über planvolle schulinterne Fortbildung, Workshoparbeit und Klassenraumgestaltung bis hin zum unterstützenden Schulmanagement einschließlich vertrauensbildender Elternarbeit. Das alles lässt sich in spezifische Netzpläne und Qualifizierungskreisläufe überführen.
News4teachers.de: Wie sehen Sie die Bringschuld der Bildungspolitik und der Bildungsbehörden. Muss nicht auch der Staat mehr helfen?
Klippert:Natürlich sind auch die staatlichen Stellen gefordert. Sie müssen für das angedeutete Unterstützungssystem Sorge tragen. Das betrifft den Auf- und Ausbau innovationszentrierter Lehrerbildung. Das betrifft aber auch das Ermöglichen von Teamarbeit und Teamfortbildung, von funktionalen Klassenräumen und material-gestütztem Arbeitsunterricht, von kleineren Klassen und entschlackten Bildungsplänen, von differenziertem Förderunterricht und erweiterten Stundentakten. Vor allem aber muss die Politik gewährleisten, dass die Schulen ihre Innovationsarbeit stärker fokussieren können und nicht alle möglichen Projekte irgendwie mitmachen müssen. Dieser verbreitete „Aktionismus“ verhindert Nachhaltigkeit. Trotzdem: Die Hauptverantwortung für das Gelingen der besagten Unterrichtsentwicklung liegt weniger beim Staat, sondern vornehmlich bei den schulischen Akteuren selbst. Diese brauchen Hilfen, müssen andererseits aber auch sehr viel systematischer als bisher ihre bestehenden Handlungsspielräume nutzen. Paul Schwarz
