Ein Kommentar von ANDREJ PRIBOSCHEK.
Was für ein Aufstand bräche in der islamischen Welt aus, wenn radikale Christen 200 Mädchen islamischen Glaubens entführen und in der Geiselhaft zwangsbekehren würden? Was wäre auf den Straßen von Jakarta oder Riad los, wenn die Justiz eines westlichen Staates eine junge Frau zum Tode verurteilen würde, weil sie ihrem muslimischen Glauben nicht abschwört? Wir erinnern uns: Schon die Veröffentlichung von eher harmlosen Mohammed-Karikaturen in Dänemark – dem deutschen Satire-Blatt Titanic fallen zum Papst und zu Jesus deutlich schärfere Zoten ein – führte in muslimischen Städten zu Straßenaufständen mit 150 Toten.
Tatsächlich sind die oben beschriebenen Gräuel erst vor Kurzem geschehen – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Es sind christliche Schülerinnen, die sich in Nigeria seit Monaten in der Hand der radikalislamischen Boko Haram befinden, und es war eine 27-jährige Christin, die im Sudan wegen „Gotteslästerung“ zunächst zum Tode verurteilt wurde, weil sie sich zu ihrem christlichen Glauben bekennt. Erst nach der Intervention westlicher Staaten wie den USA durfte sie den Sudan verlassen. Die Liste lässt sich beliebig aktualisieren: Ein islamistischer Selbstmordattentäter sprengte sich gestern auf dem Schulhof eines Internats in Nordnigeria in die Luft und riss mindestens 48 Schüler und Lehrer mit sich in den Tod. Heute wurde bekannt, dass die Taliban ihr “Todesurteil” gegen die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai erneuert haben, die Bildung auch für Mädchen fordert.
Westliche Regierungen, US-Präsidentengattin Michelle Obama, Schauspieler wie Angelina Jolie oder Musiker wie Bob Geldof äußern im Fall der nigerianischen Mädchen ihre Bestürzung. Und was kommt aus der islamischen Welt? Eher wenig. Immerhin, in Deutschlang gingen Muslime auf die Straße. Auf dem Gelände einer Berliner Moschee protestierten rund 70 Menschen gegen die Entführung. „Bring back our girls”, hieß es auf einem Plakat. „Als Muslime in Berlin möchten wir ein Zeichen setzen”, hieß es in der Mitteilung der Moschee – eine überaus ehrenwerte Aktion. Auch der Nationalrat Nigerianischer Muslime ließ keinen Zweifel daran, dass aus ihrer Sicht das Feindbild der Entführergruppe Boko Haram, nämlich „westliche“ Bildung, keineswegs im Widerspruch zum Islam stehe. Boko Haram bedeutet so viel wie „Bücher sind Sünde“.
Und doch: Die islamische Welt hat ein Problem mit der Bildung, die offenbar tatsächlich vielen Muslimen auf der Welt als „westlich“ erscheint – als wäre es unislamisch, Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben. Vor vier Tagen wurde bekannt, dass der “Islamische Staat” (IS) in den von ihm besetzten Gebieten “ungläubige Bildung” durch einen neuen Lehrplan ersetzen will, der fast nur noch Religionsunterricht vorsieht. Im Mittelalter, daran sei erinnert, war die islamische Wissenschaft Weltspitze. Die distanzierte Haltung zur Bildung heute lässt sich aber nicht allein an den insgesamt eher verhaltenen Reaktionen gegenüber dem Terror bildungsfeindlicher Gruppen wie Boko Haram, dem IS oder den Taliban erkennen. Ein noch deutlicheres Signal sind die abgrundtief schlechten PISA-Ergebnisse von Staaten wie Tunesien, Indonesien, Kirgistan – selbst von Katar, einem Ölscheichtum, das sich eine Fußball-WM in klimatisierten Wüsten-Stadien leisten kann, aber offenbar keine vernünftigen Schulen. Und das sind immerhin noch Länder, die den Mut haben, sich einem internationalen Bildungsranking zu stellen. Auch in Sachen Forschung sind islamische Länder Schlusslicht.
Wo sind (außerhalb Deutschlands!) die Islamgelehrten, die eine bessere Bildung für die Kinder in der muslimischen Welt fordern? Wo sind die muslimischen Politiker, die auf massive Investitionen in Bildung setzen? Wo ist die breite Bewegung innerhalb der muslimischen Welt, die dem Treiben der Terrorgruppen im Namen des Islam ein entschiedenes „Nein“ entgegenstellt? In die Kampagne zur Freilassung der nigerianischen Mädchen schaltete sich auch die mittlerweile weltberühmte Malala ein. In einem Kommentar widerlegte die Schülerin die Irrlehre, wonach der Islam Frauen (und auch Männern) die Schulausbildung verbietet. “Bildung ist weder westlich noch östlich, Bildung ist Bildung, und jeder Mensch hat ein Recht darauf“, meint sie. Wohlgemerkt: eine 17-Jährige. Und aus ihrer Heimat ist aktuell zu hören, dass sich der größte Privatschulverband Pakistans von ihr distanziert – sie verbreite anti-islamische Lehren, heißt es unwidersprochen. Beschämend.
Zum Bericht: Feindbild Malala: Koranschulen hetzen gegen Friedensnobelpreisträgerin