Website-Icon News4teachers

Nerv getroffen: Schülerin löst mit Tweet Bildungsdebatte in Deutschland aus

KÖLN. Wie alltagstauglich muss Schule machen? Und was ist wichtiger: Literaturkenntnisse – oder über Versicherungen Bescheid zu wissen? Eine 17-jährige Schülerin hat mit einer kurzen Notiz im sozialen Netzwerk Twitter eine Bildungsdiskussion in ganz Deutschland ausgelöst.

Nainas Kommentare im sozialen Netzwerk Twitter. Screenshot

„Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen”, so lautet die Kurznachricht der Gymnasiastin Naina unter @nainablabla vom 10. Januar. Über Nacht kam es zu einer breiten Internetdebatte über den Tweet. Seitdem ist die Nachricht bereits über 21.000 Mal favorisiert und mehr als 11.000 Mal retweetet worden, also von anderen Twitter-Nutzern nochmals gesendet. „Klar, wir lernen in der Schule wichtige Sachen. Aber niemand bringt uns bei, wie man später auf eigenen Beinen steht”, so legte das Mädchen dann nach. Die Medien nahmen das Interesse der Netzgemeinde zum Anlass, breit über die beiden Stoßseufzer der Jugendlichen zu berichten – und diese zu kommentieren.

So schreibt die Autorin Christina Rings auf rtl.de: „Es lässt sich über unseren angestaubten Bildungsapparat streiten, auch darüber, ob deutsche Schulen ihren Lehrplan nah genug an der Lebenswirklichkeit ihrer Schüler ausrichten und die ‚richtigen‘ Fächer lehren. Da gibt es sicherlich Sanierungsbedarf.“ Ob aber wirklich das Schulsystem für die Arglosigkeit der Schülerin verantwortlich sei? Nein, meint Rings. Schulen haben einen Bildungsauftrag, sie sollen junge Menschen auf das Berufsleben oder eine akademische Laufbahn vorbereiten. Dass Lehrer darüber hinaus auch noch verpflichtet sein sollen, ihre Schüler fit für das Leben zu machen und zu Selbstständigkeit zu erziehen, ist ein Irrglaube. Diese Aufgabe obliegt, und oblag schon immer, den Eltern. Genau hier hakt es heute aber oft.“

Anzeige

Auch die „Bild“-Zeitung nahm die Schulen in Schutz. „Schule hat neben Wissensvermittlung den Auftrag einer komplexen Charakter-, Herzens-, also Menschenbildung. Und muss nicht in erster Linie alltagstauglich machen“, so schreibt „Bild“-Redakteur Wilfried Pastors – selbst ein gelernter Lehrer. Er hat Englisch und Sport auf Lehramt Gymnasium/SII studiert. „Naina tritt mutig öffentlich für ihren Standpunkt ein – jugendlich ungestüm und angreifbar. Hat die Schule bis hierhin nicht alles richtig gemacht? Hauswirtschaft und den Umgang mit Mietverträgen wird Naina im Alltag mit gleicher Selbstverständlichkeit lernen wie die Auswahl des richtigen Handys und des dazugehörigen Vertrags … Glückwunsch, liebe Kollegen!  Ihr habt einen jungen Menschen bis hierhin ins Leben begleitet, der Eiferern und Menschenfeinden weltweit in vier Sprachen ein ‚Je suis Charlie‘ entgegenschleudern wird.“

Die FAZ greift das Thema ebenfalls auf – als Pro und Kontra. „Praktische Dinge lernt man am besten dann, wenn man sie braucht. Denn wenn man davon ausgeht, was 17-jährige alles nicht wissen und können, so sollten wir Ihnen in der Schule auch beibringen, wie man Löcher in die Wand bohrt, ein Ei kocht und Fettablagerungen von der Dunstabzugshaube kratzt. Das sollten sie alles von ihren Eltern lernen – denn wozu sind die da?“, so fragt FAZ-Redakteur Martin Hock. Und meint: „Also überfrachten wir doch mal die Schule nicht. Hier geht es darum, die Fähigkeit zu erlernen, sich Dinge anzueignen, komplexe Zusammenhänge zu begreifen und vor allem darum, einen Überblick über das Leben zu bekommen.“

Anders beurteilt sein Redaktions-Kollege Alexander Armbruster Nainas Kommentar: “In der Tat: Keine Schülerin und kein Schüler sollten heute von der Schule gehen (das gilt für Haupt- und Realschule wie fürs Gymnasium), ohne zu wissen, was Zinsen sind, was der Zinseszins ist, was Steuern sind, wie eine Lebensversicherung funktioniert und überhaupt welche Versicherungen jeder abgeschlossen haben sollte. Und welchen Teil seines Einkommens man fürs Wohnen ausgeben sollte am besten auch. Das gehört zur Selbständigkeit dazu. Und auch dazu, ein mündiger Staatsbürger zu sein”, so schreibt er – und fordert: Mehr Wirtschaftsthemen in die Schule.

«Ich finde es sehr positiv, dass Naina diese Debatte angestoßen hat», sagte Ministerin Johanna Wanka (CDU) nach Angaben ihres Sprechers in Berlin. «Ich bin dafür, in der Schule stärker Alltagsfähigkeiten zu vermitteln. Es bleibt aber wichtig, Gedichte zu lernen und zu interpretieren.» Die nordrhein-westfälische Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) verwies auf eine Empfehlung der Kultusministerkonferenz (KMK), Verbraucherbildung an Schulen stärker in Lehrplänen zu verankern. «Die Frage ist aber auch: Wie schaffen wir das, ohne dass wir ständig von oben draufsatteln.»

Die Lehrergewerkschaft GEW wehrt sich gegen Nainas Kritik. «Sie spitzt das schon sehr zu», meint die nordrhein-westfälische GEW-Landesvorsitzende Dorothea Schäfer. Zwar würden an Gymnasien weniger praktische Dinge unterrichtet als an anderen Schultypen. «Gerade in der Oberstufe lernen die Schüler aber, wie sie sich selbst Informationen beschaffen könnten – vor allem in Zeiten des Internets.» Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, sieht auch die Eltern in der Pflicht: Ein gewisses Maß an Alltagstauglichkeit müsse in der Familie vermittelt werden.

Die Schulleiterin des Kölner Gymnasiums, das Naina besucht, kommentierte den Tweet ihrer Schülerin gegenüber RTL schlicht als „dumm und fahrlässig“. News4teachers / mit Material der dpa

Zum Kommentar: Nainas Tweet löst eine breite Debatte um Bildung aus – leider eine zu flache

 

Die mobile Version verlassen