Website-Icon News4teachers

Grundschul-Empfehlungen bringen offenbar immer mehr Eltern in Rage

BERLIN. In diesen Tagen gibt‘s Halbjahreszeugnisse – und mit ihnen für Viertklässler die Empfehlung der Lehrer für eine weiterführende Schulform. Obwohl (oder weil?) diese nur noch in wenigen Bundesländern – namentlich Bayern, Bremen, Brandenburg, Sachsen und Thüringen – verbindlich ist, scheint das Votum der Grundschule von Eltern immer öfter als Schicksalsschlag wahrgenommen zu werden. Zumindest dann, wenn nicht die erhoffte Empfehlung „Gymnasium“ erfolgt. Aktuelle Beispiele für eine grassierende Hysterie kommen aus Nordrhein-Westfalen, Hessen und Hamburg.

Links oder rechts? Für immer mehr Eltern scheint es nur eine Richtung zu geben. Illustration: pixabay.de / (CC0 1.0)

Es sei kein gutes Zeugnis, das seine neunjährige Tochter am Freitag nach Hause gebracht habe, so berichtet ein Vater in der „Rheinischen Post“. „Nicht völlig katastrophal, nur sehr mittelmäßig eben. Und damit stecken wir mitten in einem vermaledeiten Gewissenskonflikt. Denn dieses Papier soll die Grundlage sein für eine Entscheidung, die so etwas ist wie die erste wichtige Weggabelung im Leben eines Kindes – der Entscheidung für eine weiterführende Schule“, schreibt er in einem Beitrag für das Blatt. Dass keine Gymnasial-Empfehlung erfolge, habe die Klassenlehrerin schon vor Woche mitgeteilt – „ganz behutsam, schließlich kursieren in den Lehrerzimmern ja die wüstesten Geschichten über Eltern, die bei dieser Gelegenheit so richtig grob werden können“.

Das Gymnasium sei etwas für Schüler, denen in der Grundschule alles nur so zufliege, habe die Lehrerin gemeint – und ein Blatt Papier über den Tisch geschoben, auf dem gestanden habe: „Realschule. Oder Gesamtschule, das NRW-Angebot für Unentschlossene.“ Trotzdem habe er unter Elternwusch doch „ein dickes Kreuz“ bei Gymnasium gemacht. „Aus Trotz? Nein, aus Zweifel. Ist die Empfehlung der Lehrerin wirklich die richtige? Muss man nicht auch die Fortschritte honorieren, die Laura in den vergangenen Monaten gemacht hat, die sich aber leider noch nicht ausreichend in den Noten niedergeschlagen haben? Muss man nicht auch ihren glühenden Wunsch berücksichtigen, auf dieselbe Schule zu gehen wie ihre große Schwester und ihre beste Freundin? Vielleicht wäre es uns leichter gefallen, die Bewertung zu schlucken, wenn wir nicht auch leisen Zweifel am Urteilsvermögen der Lehrerin hätten. Was weiß die junge Frau eigentlich von der Schule, auf die Laura ihrer Meinung künftig gehen soll? Wir haben die Frage gestellt. Die Antwort war ein Achselzucken. Dabei ist die Realschule bei uns im Ort nicht gerade dafür bekannt, schwächeren Schülern ein optimales Lernklima zu bieten. Und über das auf dem Pausenhof gesprochene Pidgin-Deutsch reißen die Leute sogar Witze.“

Anzeige

Der Bericht hat in Nordrhein-Westfalen ein breites Echo ausgelöst – und helle Empörung bei Realschul-Pädagogen, die ihre Schulform verunglimpft sehen. „Dieser Bericht eines Vaters hat meine Kollegen und mich enttäuscht und auch wütend gemacht“, so schrieb der Leiter einer Realschule. „Wir orientieren uns auch nicht nur nach unten, sondern auch nach oben. Die leistungsstarken Schüler bekommen Angleichungskurse, jedes zweite Kind wechselt nach der zehnten Klasse zum Gymnasium. Es gibt auch Kinder, die trotz einer Gymnasialempfehlung bewusst zu uns kommen und später ein recht gutes Abitur machen. Wir wehren uns dagegen, dass unsere Schulform in solch ein schlechtes Licht gerückt wird.”

Doch die Manie, nur das Gymnasium als weiterführende Schulform zu akzeptieren, scheint sich immer weiter auszubreiten – auch in Hessen. So berichtet der „Wiesbadener Kurier“ von einer  Stichprobe an einem Gymnasium im Zentrum der Landeshauptstadt: Von derzeit 180 Fünftklässlern in sechs Klassen sei etwa ein Viertel ist mit einer Haupt- oder Realschulempfehlung dorthin gekommen – aktuell mehr als früher. Und die Folgen für die Kinder sind mitunter gravierend: „60 Prozent der Fünftklässler ohne Gymnasialempfehlung an dieser Schule sind, wenn sich ihre Leistungen im kommenden Schulhalbjahr nicht verbessern, versetzungsgefährdet. Das steht auch im Zeugnis, das sie heute mit nach Hause bringen. Bei den Fünftklässlern mit Gymnasialempfehlung sind sieben Prozent derzeit versetzungsgefährdet.“

Die Zeitung zitiert die Leiterin einer benachbarten Grundschule. Es gebe viele Familien, „für die heißt weiterführende Schule einfach Gymnasium“, auch wenn das Kind keine entsprechende Empfehlung habe. Die Schule habe bei zwölf von 85 Viertklässlern, die im vergangenen Schuljahr gewechselt seien, eine andere Empfehlung ausgesprochen – darunter Kinder, denen eine Hauptschulempfehlung gegeben wurde, deren Eltern sie aber trotzdem aufs Gymnasium schickten. „Die fünfte Klasse kann man dann mit Nachhilfe noch schaffen, vielleicht sogar die Sechste. Aber spätestens dann wird es schwierig“, weiß die Grundschul-Pädagogin. Die Empfehlung der Grundschule soll Eltern ja nicht darüber informieren, „ob die Kinder ein Jahr am Gymnasium durchhalten, sondern ob sie den Bildungsgang insgesamt schaffen können.“

Genaue Zahlen, wie viele Schülerinnen und Schüler, die in der 5. Klasse ins Gymnasium wechseln, am Ende ihr Abitur machen, liegen laut hessischem Kultusministerium nicht vor. Schätzungen gingen von gerade mal knapp 70 Prozent aus. Das „Hamburger Abendblatt“ sah sich angesichts der grassierenden Elternhysterie bemüßigt, einen beruhigenden Kommentar in Richtung Väter und Mütter zu schicken. „Völlig verfehlt und kontraproduktiv ist es, den Schulwechsel unnötig emotional aufzuladen und in Hysterie zu verfallen, wie das leider immer wieder zu beobachten ist. Es müssen und können nicht alle Kinder aufs Gymnasium gehen“, schreibt Redakteur Michael Schick. „Väter und Mütter, die ihren Kindern vermitteln, dass auch andere Schulen gute Schulen sind, ersparen sich und ihren Kindern Tränen, Wut und Enttäuschung.“ News4teachers

Zum Kommentar: Woher rührt die Verunsicherung der Eltern? Es fehlt an Werten

 

Die mobile Version verlassen