DÜSSELDORF. „Iphigenie auf Tauris“ von Goethe, „Kabale und Liebe“ von Schiller, „Hiob“ von Joseph Roth, „Der Prozess“ von Franz Kafka und schließlich „Tauben im Gras“ von Wolfgang Köppen: Das sind die Stoffe, mit denen sich ein heutiger Abiturient in seinem Deutsch-Leistungskurs zu beschäftigen hatte. Der „jüngste“ aus dieser Autorenriege, Köppen, starb 1996. Das aktuelle Beispiel stammt aus Nordrhein-Westfalen, es beschreibt aber offenbar ein bundesweites Phänomen: Zeitgenössische Literatur kommt in den Schulen kaum (noch) vor. Warum eigentlich nicht? Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) hat dazu eine Diskussion angestoßen, die an die grundsätzliche Bildungsdebatte um den Tweet der Schülerin Naina anschließt.
Wie alltagstauglich muss Schule machen? Und was ist wichtiger: Literaturkenntnisse – oder über Versicherungen Bescheid zu wissen? Die 17-jährige Naina hatte mit einer kurzen Notiz im sozialen Netzwerk Twitter eine Bildungsdiskussion in ganz Deutschland ausgelöst. „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen”, so lautete die Kurznachricht, die in Medien von „Bild“ bis zur „Süddeutschen“ breit diskutiert wurde und in die sich selbst die Bundesbildungsministerin einschaltete.
Die Debatte lässt sich konkret auch auf den Deutsch- (oder Fremdsprachen-)Unterricht beziehen: Warum müssen sich heutige Schüler fast ausschließlich mit Werken herumschlagen, deren kultureller und sprachlicher Hintergrund mit ihrer eigenen Lebenswelt kaum mehr etwas zu tun hat? Ist es richtig, dass Jugendliche Shakespeare im Original lesen – aber womöglich kaum in der Lage sind, sich in London nach dem richtigen Weg zu erkundigen? Macht es Sinn, Heranwachsende – die gerade ihre ersten eigenen romantischen Erfahrungen machen – mit einem „bürgerlichen Trauerspiel“ wie Schillers „Kabale und Liebe“ zu traktieren statt sie beispielsweise Gerhard Henschels „Liebesroman“ lesen zu lassen, in dem es um eine Schülerbeziehung in den 70er Jahren (immerhin) geht?
„Ein Blick in die Oberstufenlehrpläne deutscher Gymnasien zeigt, was vor Jahren schon eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung ergab: dass die Gegenwart im Literaturunterricht kaum je eine Rolle spielt. Natürlich lässt sich der Befund in einem föderalen System nicht generalisieren. Ausnahmen gibt es, doch der Befund trifft auf die Mehrheit der Bundesländer zu“, heißt es in dem FAZ-Beitrag von Sandra Kegel unter der ironischen – und treffenden – Überschrift „Der Klassenzimmer-Club der toten Dichter“.
Eine Ursache macht die Autorin im Zentralabitur fest. Seit dessen Einführung in den meisten Bundesländern seien die sogenannten Leselisten für den Deutschunterricht das Maß aller Dinge. „Sie sind für die Oberstufen verbindlich, und sie werden ohne öffentliche Beteiligung hinter verschlossenen Türen der Kultusministerien erstellt. Sie bestimmen seither in Ländern wie Hessen, was die Schüler bis zum Abitur gelesen haben müssen. Und als habe man in den Ministerien auf die Kanon-Debatte der neunziger Jahre wie auch auf das schlechte Pisa-Abschneiden reagiert, herrscht das Primat traditioneller literarischer Texte vor“, heißt es.
Interessanterweise war das mal anders. Während die Schulen nach 1945 in der Lage gewesen seien, damals aktuelle Werke wie Alfred Anderschs „Sansibar oder Der letzte Grund“, Max Frischs „Homo Faber“ oder Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ bald nach Erscheinen auch in den Klassenzimmern rezipierten, sei die Bereitschaft heute, sich am literarischen Gespräch der Gegenwart zu beteiligen, deutlich geringer, weiß der Literaturdidaktiker Clemens Kammler von der Universität Duisburg-Essen. Er vermisst wichtige Gegenwartsautoren wie Reinhard Jirgl, Elfriede Jelinek oder Botho Strauß im heutigen Unterricht.
FAZ-Redakteur Tilman Spreckelsen ficht das offenbar nicht an. Er bricht in einem Beitrag eine Lanze für die Klassiker. Wie solle die Schule heute – in Zeiten sich stetig wandelnder Anforderungen – die Schule auf ein erfolgreiches Leben vorbereiten, so fragt er. Was sei das überhaupt, ein erfolgreiches Leben? Es komme doch wohl vor allem auf die Grundlagen an, und die seien nun mal am besten anhand der Klassiker zu vermitteln. „Wie weit reicht das Verständnis für eine Novelle oder ein Gedicht überhaupt, wenn man sie außerhalb der Literaturgeschichte betrachtet? Natürlich geschieht eine solche Einordnung nicht anhand einer Vielzahl von Texten, sondern an beispielhaften Werken, die man ‚Klassiker‘ nennt und die einen Kanon bilden“, schreibt Spreckelsen.
Sein Fazit: „Es ist nicht einzusehen, warum im Deutschunterricht, der sinnvoll nur als Literaturunterricht zu denken ist, nicht auch Weltliteratur gelesen werden soll, die im Original in einer anderen Sprache als das Neuhochdeutsche verfasst worden ist.“
Viele Lehrer, so Sandra Kegel, sehen das anders – sie hätten gerne mehr Freiheiten, eigene literarische Schwerpunkte zu setzen. „Auch wenn die zeitgenössische Literatur keinesfalls gegen das literarische Erbe ausgespielt werden darf: Das korsetthafte Programm gibt vielen Lehrern zu wenig Gestaltungsspielraum, weil an den Leselisten nun einmal kein Weg vorbeiführt“, so schreibt sie. Und weiter: „Deshalb empfinden viele Lehrer die Listen weniger als Entlastung denn als Demotivation, weil sie darin eine Form der Misstrauenserklärung sehen, die ihnen kaum eigene Auswahlentscheidungen zugestehen. Es lässt sich darin zugleich eine Linie ziehen zu Standardisierung und Modularisierung im Studium, in dem das Sammeln von Kreditpunkten immer mehr zur höchsten Tugend gerät.“ News4teachers
Zum Kommentar: Nainas Tweet löst eine breite Debatte um Bildung aus – leider eine zu flache
