MÜNCHEN. Das Orakel von Bayern: das Übertrittszeugnis. Dieser Voraussage müssen sich jedes Jahr wieder die bayerischen Viertklässler und ihre Eltern stellen – und dies geschehe so gar nicht freiwillig, schreibt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Bayern in einer Pressemitteilung.
„Im alten Griechenland versuchten Ratsuchende mit Hilfe des Orakels zu einer Entscheidung in schwierigen Angelegenheiten zu kommen. Im modernen Bayern wird durch das Übertrittszeugnis in der 4. Jahrgangsstufe und einen darin festgehaltenen Notendurchschnitt eine Aussage über das ‚Geeignetsein für eine bestimmte Schulart im nächsten Schuljahr‘ getroffen. Diese Aussage stellt die Weichen für den Übertritt auf die Realschule oder das Gymnasium oder die Mittelschule.“
Im bayerischen Übertrittszeugnis, das jeweils Anfang Mai verteilt wird, würden drei Schubladen aufgemacht und anhand von Notendurchschnitten in den Hauptfächern Deutsch, Mathematik sowie Heimat- und Sachkunde die folgenden Aussagen formuliert:
- 2,33 oder besser: geeignet für das Gymnasium, Realschule und Mittelschule
- 2,66: geeignet für die Realschule und Mittelschule
- 3 oder schlechter: geeignet für die Mittelschule
Damit werde nicht nur eine Aussage über die Zukunft des weiteren schulischen Weges getroffen: Oft würden so schon die Weichen für berufsbiografische Laufbahnen gestellt, denn die Nennung eines Notendurchschnittes mit einer Zahl und 2 Kommastellen sei nur die Spitze eines Eisberges. Auf alle Beteiligten warteten in der 4. Jahrgangsstufe Stress, Belastung, Prüfungssituationen, Auseinandersetzungen, Konflikte und Vergleiche von Schülern, Lehrern und Eltern. Dies müsste nicht sein, so die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Bayern. Die Schubladen hätten keinerlei pädagogische oder wissenschaftliche Fundierung: Sie dienten allein der Selektion von 10-jährigen Kindern und der Zuordnung zu einem dreigliedrigen Schulsystem.
„Das Kultusministerium, eine vom schulischen Alltag sehr weit entfernte Behörde mit Mitarbeitern, die, wenn überhaupt, dann nur wenige Jahre in der Institution Schule verbrachten, stellt die Dinge völlig anders dar.“ In einer Pressemitteilung vom 17. April 2015 werde schon in der Überschrift beschönigt: „Übertrittsempfehlung dient Eltern als wichtige Hilfe für die Schulwahl ihrer Kinder – Elternwille spielt zentrale Rolle bei Schulartwahl“.
Wer Grundschullehrer, Eltern und Schüler über ihre Erfahrungen in der 4. Jahrgangsstufe und speziell zum Übertrittsverfahren befragt, kommt zu völlig anderen Aussagen. „Ein derartig festgelegtes, reglementiertes und bürokratisiertes Verfahren, welches vorrangig nach dem Grundsatz der Justiziabilität ausgerichtet ist, kann niemals eine Hilfe für die Betroffenen sein“, so Wolfram Witte, stellvertretender Vorsitzender der GEW-Bayern. Standardisierte und manchmal in Parallelklassen gleichzeitig terminierte Proben, Vorbereitungsgehefte und Kurse im Internet, auf die Problematik zugeschnittene Nachhilfeangebote seien nur einzelne Beispiele von völlig unpädagogischen Auswüchsen der Übertrittsproblematik. „Dies alles geht zu Lasten der Kinder und ihrer Lernfreude, zu Lasten der Eltern, die wiederum mit ihren Kindern unter der Gesamtsituation leiden und natürlich zu Lasten der Kollegen und Kolleginnen, die an den Grundschulen engagiert arbeiten. Das muss nicht sein!“, so Witte.
Schon seit langem fordere die GEW nach eigenen Angaben die Überwindung des zergliederten Schulsystems vergangener Jahrhunderte zugunsten einer Schule für alle Kinder bis zum Ende der Pflichtschulzeit. Eine große Mehrheit der Lehrkräfte lehne den Auslesezwang ab und würde die Kinder gern in Bezug auf ihren persönlichen Fortschritt beurteilen. Die GEW Bayern fordert daher die Abschaffung der Übertrittszeugnisse und die Freigabe des Elternwillens beim Übertritt! Die Entscheidung, welche Schulart ein Kind besuchen soll, sei aus Sicht der Gewerkschaft den Kindern zusammen mit ihren Eltern zu überlassen, die Schule sollte dabei eine beratende Funktion haben.
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