Zunächst beschreibt Kirsten Ehrhardt in Ihrem Buch ihre Erfahrungen nach der Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom. In einer Gesellschaft, die behinderte Kinder bereits durch vorgeburtliche Diagnostik verhindern will, ist es kein leichter Weg, den sie zu gehen hatte. „Experten“ wie Mitbürger tragen hier dazu bei, dass der ohnehin durch eine Behinderung belastete Lebensstart nicht einfacher wird und so geht es dann in Frühförderung, Kindergarten und Schule weiter. Mal klappt es gut, dann werden wieder Steine in den Weg gelegt.
Doch da gibt es ja ein Recht auf Inklusion, das die Bundesrepublik durch die Unterzeichnung der UN- Konvention zum Grundrecht erhoben hat. So jedenfalls will es uns die Politik und die Presse gerne erklären. Frau Ehrhardt tut nichts anderes, als diese Aussagen ernst zu nehmen und wählt für Ihren Sohn den Weg der Inklusion. Ob sie vorher wusste, was sie damit auslöst? Jedenfalls zeigen ihr die Reaktionen von Politik und Verwaltung deutlich, dass es doch nicht ganz so ernst gemeint ist mit der Inklusion, dass Inklusion zwar irgendwann, aber doch nicht schon jetzt sofort umgesetzt wird, dass man zum „Bittsteller“ gemacht wird. Und dass man als Eltern behinderter Kinder befangen ist, die Behinderung nicht akzeptieren und nicht objektiv entscheiden kann, was dem Kindswohl dient – das wissen die Außenstehenden offenbar besser. Juristen, Politiker, Pädagogen, Sonderpädagogen,…, oft auch Lieschen Müller von der Straße – sie alle wollen hier mitreden und –beeinflussen.
Frau Ehrhardt tut nichts anderes, als konsequent bei sich zu bleiben und die versprochenen Grundrechte für ihren Sohn einzufordern. Was dann passiert, schildert sie eindrücklich in ihrem sehr lesenswerten Buch. Auch, was die Familie zu ertragen hat, nur weil sie sich den letztlich dann doch inklusionsfeindlichen oder –einschränkenden Kräften dieser Gesellschaft zu widersetzen versucht.
So deckt der „Fall Henri“ die Widersprüche dieser Gesellschaft auf, die vorgibt, liberal und inklusiv zu sein, die letztlich aber, wenn es um Veränderung geht, um Pfründe der vermeintlichen Elite auf dem Gymnasium, ihr wahres Gesicht zeigt. Und Teile dieser Gesellschaft zeigen, dass sie einfach nicht verstehen können und wollen, um was es eigentlich geht. Zieldifferenz in der Schule. Veränderung von Schule, weg von der vermeintlichen Gleichmacherei hin zu individueller Förderung, weg vom Frontalunterricht, hin zu geeigneten individualisierenden Lernformen, die die Verantwortung für das eigene Lernen beim Lernenden belassen. Doch selbst ein Kultusministerium, das die Gemeinschaftsschule, die diese Ziele verfolgen soll, eingeführt hat, knickt vor der Macht des Gymnasiums ein und setzt so Signale und Standards, die für die Inklusion, für Familien mit behinderten Kindern, die den inklusiven Weg gehen wollen, fatal sind.
Denn der „Fall Henri“ ist natürlich kein Einzelfall, andere Eltern haben nur oft nicht die Kraft oder die Möglichkeiten sich so zu engagieren wie Frau Ehrhardt oder sie geben früher auf. So gesehen ist Frau Ehrhardt eine wichtige Wegbereiterin auch für andere. Schade nur, dass sie so viel Gegenwind und Unterstellungen ertragen muss. In keinem Satz verlangt Frau Ehrhardt die Abschaffung der Sonderschulen. Sie zeigt nur ihre Begegnungen und Erfahrungen mit den Sonderschulen auf und erklärt, warum sie einen anderen Weg gehen will.
Das Buch zeigt m.E., dass Henris Eltern keinesfalls die gefühllosen, ideologischen, fanatischen, ihren Sohn instrumentalisierenden, gewissenlosen Eltern sind, die ihr Kind nicht wahrnehmen. Es gibt Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt der Familie, zeugt vom verzweifelten Kampf um Normalität in dieser Gesellschaft, der einen hohen Preis hat, aber auch viel Solidarität, Freundschaft, Unterstützung hervorruft. Immer wieder berichtet Kirsten Ehrhardt von den positiven Begegnungen und Erfahrung, insbesondere mit anderen Kindern. Warum tun sich die Erwachsenen nur so schwer? Wovor hat diese Gesellschaft Angst?
Wenn das Buch zur Auseinandersetzung mit dieser Frage anregt, dann hat es einen Beitrag zu dem geleistet, was der Untertitel (vielleicht etwas großspurig) verheißt: Ein Junge verändert die Welt.
Wünschenswert wäre es.
Wünschenswert wäre auch, dass gerade die, die in Gegenpetitonen, Internetforen und Leserbriefen vehement gegen die Inklusion und teilweise sogar persönlich gegen Familie Ehrhardt schießen, sich einmal offen mit diesem Buch auseinandersetzen. Dass sie begreifen, dass es um zieldifferente Beschulung geht und was das bedeutet. Auch vor dem Hintergrund, dass sie selbst schon morgen von Exklusion betroffen sein könnten, sei es als Eltern, sei es als Person. Denn ca. zehn Prozent unserer Bevölkerung ist behindert, die allerwenigsten davon von Geburt an. Wollen die, die heute so gegen Inklusion Stimmung machen im Fall des Falles dann wirklich in Anstalten und Pflegeheimen enden, wo man besser weiß, was für sie gut geht, wo sie „Ihresgleichen“ haben???
Andreas Größler
Mehr über das Buch: Kirsten Ehrhardt: „Henri – Ein kleiner Junge verändert die Welt.“ Wilhelm Heyne Verlag, 8,99 €
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