Ein Kommentar von ANDREJ PRIBOSCHEK.
DÜSSELDORF. Bildung für Flüchtlinge? Tut not. Aber es klemmt an allen Ecken und Enden. Ein kleines Beispiel: Korschenbroich, ein Städtchen am Niederrhein. Für Asylbewerber werden Deutschkurse angeboten. Das ist löblich. Allerdings: Es gibt keine gleichzeitig stattfindende Kinderbetreuung (auf einen Kita-Platz haben Flüchtlinge keinen Anspruch), und das Kursprogramm ist starr. Zeitversetzte Zweitveranstaltungen sind nicht vorgesehen. Die Folge: Frauen mit kleinen Kindern, und kleine Kinder haben die meisten Flüchtlingsfamilien hier, bleiben außen vor. Die Männer finden das mitunter nicht so schlimm. Manche meinen ohnehin, es reicht, wenn sie Deutsch lernen. Die Folgen sind absehbar: Die Mütter, die ja auch für die Sprachbildung ihrer Kinder unerlässlich sind, werden nicht integriert. So wächst eine Parallelgesellschaft heran – die wir auf jeden Fall vermeiden müssen, wenn aus der Flüchtlingsfrage nicht die soziale Krise der nächsten Jahrzehnte werden soll. Wie wenig diese Frauen eine Chance auf Gleichberechtigung bekommen, sei hier nur am Rande erwähnt.
Das Beispiel zeigt: So geht es nicht. Die deutsche Kleinstaaterei in der Bildung ist häufig ein Ärgernis, skurril, aber irgendwie erträglich. Bei bundesweiten Großthemen wie der Integration von Flüchtlingen – oder auch der Inklusion – gerät das System der Länderhoheit beim Schulpersonal und der kommunalen Trägerschaft bei den Sachaufwendungen aber an seine Grenzen. Wo bleibt das Engagement der Bundesregierung? Es kann nicht angehen, dass allerorten in Deutschland Flüchtlingskinder zu Hunderttausenden in die Schulen kommen, ohne dass viele von ihnen dort vernünftig unterrichtet werden könnten.
Die Lehrer, die ja schon bislang nicht unterbeschäftigt waren, können doch nicht weitgehend im Alleingang die Einwanderung erledigen, alle Kinder in Nullkommanichts zu elaborierten Deutschkenntnissen führen, sie individuell nach ihren Begabungen fördern, die schweren Traumata aus Kriegs- und Fluchterfahrungen heilen und ihnen nebenbei auch noch die demokratischen Grundwerte vermitteln, die sie aus ihren von Diktatoren und Kriegen geplagten Heimatländern wohl eher nicht kennen. Viele Kollegien versuchen das trotzdem, und zwar mit einem gewaltigen persönlichen Einsatz und unbezahlten Überstunden. Eine längerfristige Lösung ist das aber nicht.
Der Bayerische Lehrerinnen und Lehrerverband (BLLV) beklagt aktuell – sicher stellvertretend für die Kollegen bundesweit -, dass Dolmetscher, Sozialpädagogen und weiteres unterstützendes Personal fehlten, auch Schulpsychologen. „Lehrerinnen und Lehrer sind keine Experten für traumatisierte junge Menschen. Sie werden aber im Schulalltag damit konfrontiert“, sagt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. Der Bedarf an fundiertem Wissen sei groß. Aus schierer Not hat der Lehrerverband in Eigenregie ein Fortbildungsprogramm entwickelt, das helfen soll, Kinder und Jugendliche aus Kriegs- und Krisengebieten möglichst erfolgreich in den Unterricht zu integrieren. Eine tolle Initiative – leider auf Bayern beschränkt. Dabei wären solche Fortbildungen in ganz Deutschland notwendig. Doch: Wer organisiert so etwas?
Es reicht eben nicht, wenn Bundesinnenminister de Maizière Lehrkräften und Eltern die Senkung von Standards in der Bildung nebulös ankündigt, aber offenlässt, was er damit meint. Ist das die einzige Lösung, Standards senken? Doch wohl kaum. Wie steht es beispielsweise um die Förder- und Sonderschulen, die im Zuge der Inklusion abgewickelt werden sollten? Kann es nicht sein, dass wir sie jetzt als „Durchlauferhitzer“ für die Bildungskarrieren von Flüchtlingskindern dringend benötigen? Wie steht es überhaupt um die Inklusion? Kann der Prozess angesichts der aktuellen Probleme noch weiter mit Volldampf vorangetrieben werden? Um solche Fragen zu beantworten, ist ein nationaler Krisenstab notwendig, der mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet wird und einen praktikablen Plan entwirft, wie Flüchtlingskinder überhaupt erst einmal sprachlich und kulturell so gefördert werden können, dass sie eine echte Chance auf Bildungserfolg haben – und wie Hindernisse beseitigt werden können.
Es gibt ja gute Beispiele, aktuell etwa eine gemeinsame Bundesratsinitiative von Nordrhein-Westfalen und Thüringen mit dem Ziel, junge Flüchtlinge mit Ausbildungsplätzen und anschließender Beschäftigung vor Abschiebung zu schützen. Damit Arbeitgeber überhaupt eine Perspektive für sie sehen – und Flüchtlinge ausbilden. Auch solche Fragen könnten von einem nationalen Bildungsgremium zügiger aufgegriffen und im Zusammenhang geklärt werden.
Jetzt ist es an der Zeit, neben den Begriffen Krise, Problem und Problematik auch noch einen anderen einzuführen: Chance. Diese Hunderttausenden von Kindern, die in diesen Wochen und Monaten Deutschland erreichen, machen in kurzer Zeit das, was die Familienpolitik der letzten Jahrzehnte mit Milliardensummen nicht erreicht hat: Sie stoppen die Vergreisung Deutschlands. Seit zehn Jahren reden wir über den Schülerschwund in den Schulen, über eine „demografische Rendite“ (was gleichzusetzen ist mit dem Abbau von Lehrerstellen), über Azubi-Mangel und eine alternde Gesellschaft, deren gesellschaftliche Großthemen sich tendenziell von Erziehungsfragen hin zu Demenzerscheinungen verlagern. Mit diesen unguten Entwicklungen ist wohl bald Schluss.
Damit allerdings die Frischzellenkur nicht mit langfristigen sozialen Verwerfungen erkauft werden muss, sind jetzt Investitionen in die Bildung nötig, und zwar massive. Gelingt es uns, diesen vielen Kindern vom Start weg eine Perspektive für ein lebenswertes Leben in Deutschland zu geben, muss uns um die Zukunft unseres Landes nicht bange sein.
Zur Analyse: Wegen Flüchtlingskindern – De Maizière kündigt Senkung von Bildungsstandards an
