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Internationales Symposium: Probleme beim Handschreiben sind nicht auf Deutschland beschränkt

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TRAMIN. Die Hälfte aller Jungen und ein Drittel aller Mädchen, so ergab unlängst eine Umfrage unter deutschen Lehrern, haben Probleme mit dem Handschreiben. Tendenz: dramatisch steigend. Was lässt sich in der Schule dagegen tun? Wie sehen Methoden aus, mit denen sich den motorischen Schwächen entgegenwirken lässt? Darüber diskutierten Wissenschaftler und Experten aus acht europäischen Staaten beim Ersten Internationalen Symposium zum Thema Handschreiben, das nun im Südtiroler Tramin stattfand. Erste Erkenntnis des vom deutschen Schreibmotorik Institut, Heroldsberg, organisierten Kongresses: Überall gibt es wachsende Probleme mit dem Handschreiben.

Immer mehr Schüler haben Probleme mit dem Handschreiben. Foto: dotmatchbox / flickr (CC BY-SA 2.0)

Das Thema ist neu im Fokus der Bildungsforschung hierzulande. Das Problem, zumindest aus deutscher Sicht: Schreibmotorik ist bislang an den Universitäten zu wenig verankert. Ein entsprechender Lehrstuhl, der Erkenntnisse der Neurowissenschaften, der Erziehungswissenschaft, der Bildungsforschung, der Ergonomie sowie der Sportwissenschaft einbezieht, fehlt. In anderen Staaten, etwa den Niederlanden und Belgien, ist die Forschung dazu in den medizinischen Fakultäten angesiedelt – anders als in Deutschland, wo eine  ingenieurwissenschaftliche Perspektive überwiegt. Schon diese Ausgangslage macht den internationalen Austausch lohnend.

Darüber hinaus sind die Probleme, wie die Auftritte der Wissenschaftler aus Italien, der Schweiz, Österreich, Deutschland, Großbritannien, Belgien, Frankreich und den Niederlanden in der Fortbildungsakademie Schloss Rechtenthal in Tramin bestätigten, vergleichbar: Ein wachsender Anteil von Kindern hat Schwierigkeiten, eine flüssige Handschrift zu entwickeln. Das Phänomen ist also international, womöglich sogar global. Angela Webb, Vorsitzende der britischen National Handwriting Association, erklärte, dass Schätzungen zufolge im Königreich mindestens ein Drittel der Schülerinnen und Schüler betroffen seien, also ähnlich viele wie in Deutschland. Gleiche Größenordnungen bestätigten Prof. Dr. Hilde Van Waelvelde von der Universität Gent für Belgien sowie Dr. Anneloes Overvelde von der Radboud University für die Niederlande.

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Bestätigen sich die Einschätzungen der Handschreib-Forscher auf internationaler Ebene, hat das durchaus Konsequenzen für die Bewertung des Phänomens – und damit auch für Lösungsansätze. Erklärungsmuster, die der deutschen Bildungspolitik einen zu laxen Umgang mit der deutschen Sprache in der Schule attestieren und den Rückgang der motorischen Fähigkeiten in den Zusammenhang mit abnehmenden Rechtschreibfähigkeiten der Kinder und Jugendlichen hierzulande setzen, greifen im internationalen Kontext nicht. Sehr viel wahrscheinlicher liegen die schreibmotorischen Defizite heutiger Kinder (im Vergleich zu Altersgenossen vor 40 oder 50 Jahren) in einer kulturellen Entwicklung begründet, die alle Industriestaaten betreffen – und die mit der Digitalisierung der Kindheit und den immer kleiner werdenden Freiräumen zusammenhängen, in denen der Nachwuchs sich auch motorisch austoben kann.

Soziologen zufolge hatten Kinder in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Radius von 20 Kilometern um ihr Elternhaus, in dem sie sich selbstständig bewegten, in den 70-er Jahren noch von zwei Kilometern – heute von nur 200 Metern. Das sind Maßzahlen, die allerdings nur einen Aspekt der sich dramatisch veränderten Kindheit beschreiben. Ein anderer Wert, der die Entwicklung anschaulich macht, sind die gemessenen Minuten, die Kinder und Jugendliche heute vor Bildschirmen verbringen. Die durchschnittliche Zeit, in der Sechs- bis Neunjährige fernsehen, lag im Jahr 2010 täglich bei 84 Minuten. Bei den Neun- bis 13-Jährigen sind es dann schon täglich 107 Minuten. Wohlgemerkt: Das sind allein die Zeiten fürs Fernsehen. Dazu kommen dann noch die individuell explodierenden Zeiten, die mit dem Smartphone oder Computer verbracht werden. Schon die zeitlichen Möglichkeiten, durch Sport und Spiel die Fingerfertigkeit zu trainieren, sind also massiv eingeschränkt.

Die Wissenschaft muss sich angesichts dieser Entwicklung dem Thema Schreibmotorik stellen, darüber herrschte Einigkeit in Tramin. Denn Lehrkräfte benötigen Unterstützung, um diesem Trend hin zur motorischen Verarmung entgegenzuwirken – nicht, um das Kulturgut Handschrift zu retten, sondern um die Bildungschancen von Kindern zu verbessern. Denn auch diese Einschätzung teilten die Forscher: Die motorische Entwicklung ist wichtig für die kognitive. Ein klarer Befund auch bei der eingangs erwähnten Lehrer-Umfrage: Nur die wenigsten Lehrkräfte mochten keinen Zusammenhang zwischen Lernleistung und den Handschreibfähigkeiten ihrer Schüler zu erkennen. Und tendenziell, die Hypothese lässt sich mit Blick auf Schuleingangsuntersuchungen vertreten, dürften Kinder aus bildungsfernen Familien stärker mit motorischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Es geht also auch um ein Stück Chancengerechtigkeit.

„Wenn viele Schwierigkeiten der Kinder und Jugendlichen in motorischen Defiziten begründet liegen, dann müssen wir zunächst einmal die Förderung der Motorik verbessern – und zwar von der Kita an“, schlussfolgerte Christian Marquardt, wissenschaftlicher Beirat des Schreibmotorik Instituts. Ansätze, wie das bewerkstelligt werden kann, wurden nun von der internationalen Expertenrunde diskutiert: von akustischen Signalen, die französische Neurowissenschaftler entwickelt haben, um Kinder zu richtigen Bewegungen zu führen, über pädagogische Konzepte, die ein verstärktes motorisches Training im Unterricht vorsehen, bis hin zur Entwicklung von digitalen Lernmedien, die eine bessere motorische Förderung zu Hause ermöglichen – der  Austausch über Grenzen eröffnet spannende Perspektiven. News4teachers

Zum Bericht: Nach Umfrage unter Lehrern entbrennt bundesweite Debatte um das Handschreiben

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