DÜSSELDORF. Brockhaus und Enzyklopädia Britannica waren einmal – die Verlage haben den Verkauf der traditionsreichen Lexika eingestellt und beugen ihr Haupt vor dem Online-Nachschlagewerk Wikipedia. Die Plattform, die am 15. Januar 15 Jahre alt wird, ist trotzdem umstritten. Einige ihrer Probleme, wie etwa die öffentlich und für jedermann zugänglichen Pornobilder, wurden bereits auf News4teachers.de diskutiert. Fakt ist dennoch: Wikipedia sammelt immenses Wissen und hat eine große Vision. Kostenlos soll möglichst viel Wissen möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden. Was die Plattform nach 15 Jahren wirklich kann und was eher nicht – eine Bilanz.
1. Wikipedia ist Aufklärung für breite Bevölkerungsschichten
In diesem Punkt hat sich Wikipedia großes Lob verdient: Vermutlich hat die Plattform dieses Ziel besser erreicht als alle ihre gedruckten Vorgänger. Laut Internetmarktforschungsinstitut Alexa.com steht Wikipedia hinter den Platzhirschen google, facebook, youtube, baidu, yahoo und amazon weltweit auf Platz sieben der meistgeklickten Webseiten. Rudolf Stöber, Wissenschaftler an der Universität Bamberg, der zum Thema forscht, sieht in der Plattform sogar ein Instrument der Aufklärung nach Immanuel Kant: “Das Grundprinzip der Aufklärung ist mit Immanuel Kants berühmtem Diktum vom „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ am treffendsten umschrieben. Wikipedia ist ein Ausweis der Selbstaufklärung, insoweit die Wikipedia-Gemeinde, also ihre Autoren und Leser, sich um Wissensakkumulation bemühen.”
2. Computer-Technik- und popkulturelle Themen sind weitestgehen faktentreu wiedergegeben
Hier gibt es Lob und Tadel: Vergleicht man Wikipedia mit den klassischen und kommerziellen Lexika in Bezug auf Faktentreue, schneidet das Online-Nachschlagewerk nach Expertenmeinung bei den Themen Computer – Technik und Popkultur regelmäßig gut ab. Schwächen weist sie in den Kultur- und Geisteswissenschaften auf.
3. Vor allem bei politisch-ideologischen Themen sind viele Texte unausgewogen
Das ist der größten Kritikpunkt an der Plattform: Viele Texte sind unausgewogen und weit davon entfernt, annähernd objektives Wissen zu liefern. Die Liste dieser Beispiele im Bereich der politisch-ideologischen Themen ist umfangreich.
Am 7. Januar 2016 fragte beispielsweise die Medienfachseite kress.de “Haben Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Wikipedia herumgeschrieben, Behördenkritik gelöscht und den Eintrag zum entlassenen Generalbundesanwalt Harald Range geändert? Darauf deutet einiges hin.” Offenbar sind von IP-Adressen, die dem Verfassungsschutz zugeordnet werden können, u.a. Einträge über James Bond-Filme (!), über andere Behörden und über den umstrittenen Range geändert worden.
Der Bamberger Wissenschaftler Stöber schrieb unlängst dazu in einem Aufsatz: “Wenn man sich derzeit Einträge zur Ukraine, zum Abschuss des malaysischen FlugzeugsMH 17 am 17. Juli 2014 oder zum Freihandelsabkommen TTIP anschaut, wird die Strittigkeit der Einträge schon bei kursorischer Einsichtnahme deutlich. In der deutschen Wikipedia etwa gibt es keinen Artikel zum Flug, in der englischen hatten sich bis dato (Anmerkung der Redaktion: Hier ist das Datum des fertigen Beitrags des wissenschaftlichen Autoren gemeint, bis heute kann sich das natürlich geändert haben.) mehr als 800 Autoren mit über 5.200 Versionen beteiligt.”
4. Das Wissen aus Wikipedia muss hinterfragt werden
Eigentlich logisch. Wissenschaft und Selberdenken zu ersetzen, war niemals der Zweck von Lexika. “Die klassischen deutschen Lexika seit dem 19. Jahrhundert, die Konversationslexika, führten den Hauptzweck zumeist im Titel: Sie sollten der Konversation, der gepflegten Unterhaltung, dienen”, erklärt der Bamberger Wissenschaftler Rudolf Stöber. Die Lexika stellten gesichertes, präzises, stabiles Wissen bereit. Davon ist Wikipedia weit entfernt. Im Online-Lexikon finden sich gesichertes Wissen neben höchst aktuellen und umstrittenen Themen.
5. Struktur und Qualität der Text ist höchst unterschiedlich
Angesichts der unterschiedlichen Autoren ist es nicht verwunderlich, dass auch die Struktur und Qualität der Texte höchst unterschiedlich sind. Alle Bemühungen um Qualitätssicherung können nicht verhindern, dass Artikel etwa überlang sind oder eine unsortierte Ansammlung von Fakten präsentieren. Inkonsequent mutet die Regelung zur Autorentransparenz an. Einerseits wird Bearbeiter-Transparenz hochgehalten, andererseits lässt sie sich nicht völlig durchhalten, weil Autoren mit Alias-Identitäten zugelassen sind. Darüber hinaus schwele im Kreise der Wikipedia-Aktivisten
seit Jahren der Streit zwischen „Inklusionisten“, die eher auf Addition der Informationen setzen, und „Deletionisten“, die Zusammenstreichen für
unerlässlich halten, erklärt Wissenschaftler Stöber. nin
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Die aktuelle Publikation der Universität Bamberg zum 15. Wikipedia-Geburtstag finden Sie hier
