REGENSBURG. Bei den Regensburger Domspatzen hat es wesentlich mehr Misshandlungsfälle gegeben als bisher angenommen. Von 1953 bis 1992 seien mindestens 231 Kinder von Priestern und Lehrern des Bistums misshandelt worden, sagte der von Bistum und Chor mit der Klärung des Skandals beauftragte Rechtsanwalt Ulrich Weber in einem Zwischenbericht – vermutlich jeder dritte Schüler. Zudem seien 50 Kinder auch Opfer sexueller Gewalt geworden. “Die sexuellen Übergriffe reichten von Streicheln bis zu Vergewaltigungen“, betonte der Rechtsanwalt.
Weber hat seit Mai 2015 mit Dutzenden Opfern, Verantwortlichen und dem Missbrauchsbeauftragten des Bistums gesprochen. Zudem hatte er Einblick in die Geheimarchive, Personalakten des Bistums sowie die persönlichen Notizen des Generalvikars.
Weber geht davon aus, dass die Dunkelziffer der misshandelten Kinder noch deutlich höher liegt. Er rechnet damit, dass etwa jeder dritte der rund 2100 Vorschüler zwischen 1953 bis 1992 unter körperlicher Gewalt litt – also rund 700. Die Betroffenen hätten von Prügeln, blutigen Schlägen mit Rohrstock, Schlüsselbund oder Siegelringen berichtet. “Bettnässern wurde die Flüssigkeitsaufnahme verweigert”, erläuterte Weber.
Wie perfide Priester und Lehrer auch die Kinder selbst in ihr System aus Prügel und Schweigen eingebunden häben, schildert Weber laut „Süddeutscher Zeitung“ an einem Vorfall aus den 60er-Jahren. Damals sei ein Internatsschüler “erheblich verletzt worden”, worauf dessen Mutter Anzeige gegen einen Kirchenverantwortlichen erstattete. Weil Mitschüler aber “gedrängt wurden, über einen Treppensturz zu berichten”, konnten die Prügel nicht bewiesen und nicht bestraft werden. Am Ende verließ nicht der Täter das Internat, sondern das Opfer.
Die Übergriffe waren offenbar über Jahrzehnte intern bekannt, führten nach Angaben von Weber aber nicht zu personellen Konsequenzen oder strukturellen Veränderungen. Der Missbrauch habe überall stattgefunden: in der Domspatzen-Vorschule in Pielenhofen und Etterzhausen, aber auch im Musikgymnasium, im Internat und im Chor in Regensburg.
Auch der Bruder des emeritierten Papstes Benedikt XVI., Georg Ratzinger, der den Chor von 1964 bis 1994 geleitet hatte, dürfte laut Weber von den Vorgängen gewusst haben. “Davon muss ich nach meinen Recherchen ausgehen”, betonte Weber. Ratzinger selbst bestritt, von den Missbrauchsfällen im Chor gewusst zu haben. “Von sexuellen Missbräuchen habe ich überhaupt nichts gehört in meiner Zeit. Mir ist nicht bekannt geworden, dass sich damals ein sexueller Missbrauch ereignet hätte”, sagte der 91-Jährige der „Passauer Neuen Presse“.
Im vergangenen Februar hatte das Bistum Regensburg noch mitgeteilt, dass Berichte von 72 früheren Mitgliedern des weltberühmten Chors aus den Jahren 1953 bis 1992 vorlägen. Bischof Rudolf Voderholzer hatte mitgeteilt, die Straftaten anzuerkennen und den Opfern ein Schmerzensgeld in Höhe von jeweils 2500 Euro zu zahlen. Weber betonte, dass die jetzige Zusammenarbeit mit dem Bistum konstruktiv und zielführend sei. Wann er einen Abschlussbericht vorlegen kann, sei noch unklar.
Die Regensburger Domspatzen sind Deutschlands ältester Knabenchor und einer der berühmtesten Chöre der Welt. Die reisefreudigen Singknaben der Kathedrale zu St. Peter feierten 1976 ihr 1000-jähriges Bestehen. Die Knaben und jungen Männer haben schon vor Papst Benedikt XVI. gesungen. Seit 1994 leitet der Nicht-Geistliche Roland Büchner den Chor. Das renommierte Internat am Ostrand der Altstadt von Regensburg besuchen derzeit etwa 170 Jungen, viele werden in der Tagesschule vom Unterrichtsende bis zum Abendessen betreut. News4teachers / mit Material der dpa
Zum Bericht: Missbrauch bei den „Regensburger Domspatzen“ – Ehemalige Schüler erheben neue Vorwürfe