Eine Analyse von News4teachers-Herausgeber ANDREJ PRIBOSCHEK.
HAMBURG. „Die erschreckenden Bildungsdefizite junger Deutscher“ – so lautet die Schlagzeile, mit der die „Welt“ aktuell Stimmung macht. Die Zeitung berichtet darunter groß von einer aktuellen Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Tenor: Eine „Kultur des Durchwinkens“ in den Schulen mache sich bei der Ausbildungs- und Studierfähigkeit des Nachwuchses dramatisch bemerkbar. Die werde nämlich immer schlechter. Wasser auf die Mühlen konservativer Bildungspolitiker also? Wer die Aufsatzsammlung zu Ende liest, kommt zu überraschend anderen Erkenntnissen.
„Immer mehr Deutsche scheitern in Ausbildung oder Studium. Eine Studie zeigt: Die politisch gewollte Inflation der Abschlüsse wurde mit einer dramatischen Absenkung der Anforderungen erkauft“, so heißt es in dem großformatigen Bericht der Tageszeitung „Die Welt“ unter Berufung auf das aktuelle Papier „Ausbildungsreife & Studierfährigkeit“ der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Das stimmt aber gar nicht – jedenfalls zeigt die genannte Studie nichts davon.
Zwar schreiben die Herausgeberinnen Elisabeth Hoffmann und Christine Henry-Huthmacher, beide Koordinatorinnen der Stiftung in den Bereichen Jugend und Familienpolitik: „Denn trotz gestiegener guter Schulabschlüsse steigt die Anzahl der jungen Menschen, die gleich zu Beginn einer Berufsqualifikation in Unternehmen oder Hörsälen mit fehlenden Grundlagenkompetenzen hinsichtlich Sprache und Mathematik zu kämpfen haben. Diese Hardskills gelten immer weniger als Elementartechniken in der schulischen Bildung. Universitäten und Ausbildungsbetriebe haben mittlerweile darauf reagiert. Eine steigende Zahl von Betrieben und immer mehr Hochschulen bessern mangelnde schulische Grundlagen nach. So erteilen mehr als ein Drittel der IHK-Betriebe und viele, gerade auch renommierte Hochschulen, nachholenden Schulunterricht wie zum Beispiel Schreibberatung, Texterfassung und -verständnis oder Brückenkurse Mathematik.“
Belege für ihre These einer steigenden Zahl von Problemfällen bleiben die Autorinnen aber schuldig. Dass – im Gegenteil – die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland so niedrig wie seit Jahrzehnten ist, und dass PISA dem deutschen Bildungsniveau in wichtigen Kompetenzbereichen deutliche Verbesserungen attestiert, ficht die Herausgeberinnen nicht an.
Positive Entwicklung
Tatsächlich zeichnet sich zumindest beim fachlichen Niveau der Absolventen in den vergangenen Jahren in der Tat eine positive Entwicklung ab – wie auch ein Aufsatz von Berit Heintz, Leiterin des Referats Schulpolitik beim Deutschen Industrie und Handwerkskammertag, nahelegt. „In einer Umfrage, die der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) seit 2006 jährlich durchführt (2015: 11.000 Ausbildungsunternehmen; DIHK: „Ausbildung 2015 – Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung, Berlin 2015), nennen viele Unternehmen eine mangelnde Ausbildungsreife vieler Schulabgänger immer wieder als Ausbildungshemmnis. Dabei ist die Einschätzung der Betriebe über die Jahre weitgehend stabil. Bei der Bewertung der Deutsch- und Mathematikkompetenzen ist eine leichte Tendenz der Verbesserung erkennbar. Eine wachsende Unzufriedenheit zeigt sich dagegen bei den sogenannten Softskills, insbesondere bei der Leistungsbereitschaft, der Disziplin und der Belastbarkeit der Auszubildenden.”
Und weiter: „Dass ein Mangel an sozialen Kompetenzen nicht nur bei einem Teil der Ausbildungsplatzbewerber festgestellt wird, zeigt eine weitere Studie des DIHK zu den Kompetenzen von Hochschulabsolventen (DIHK, „Kompetent und praxisnah – Erwartungen der Wirtschaft an Hochschulabsolventen“, Berlin, 2015). Auf die Frage, aus welchen Gründen sich Unternehmen während der Probezeit von Mitarbeitern mit Hochschulabschluss trennen, bemängelten rund 40 % der Betriebe nicht ausreichende soziale Kompetenzen. Dies zeigt deutlich, dass die sozialen Kompetenzen keine Frage des Bildungsstandes sind.“
Also: Es geht vorwiegend eben nicht um Mängel in Rechtschreibung und Mathe (den klassischen Verdächtigen also, wenn von den vermeintlichen Bildungslücken des Nachwuchses die Rede ist) – es geht um die sogenannten Softskills, auf deren Entwicklung die Schule nur begrenzt Einfluss hat.
Klagen der Hochschulen
Aber was ist mit den Klagen der Hochschulen, dass immer mehr Studienanfänger erst einmal in Kernfächern nachgeschult werden müssen? Unter Berufung auf eine fünf Jahre alte Umfrage unter 135 geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten in Deutschland meint Prof. Gerhard Wolf, Lehrstuhl-Inhaber für Ältere deutsche Philologie an der Universität Bayreuth: „So existiert eine wachsende Gruppe von Studierenden, die den Anforderungen des gewählten Studiengangs intellektuell und von seinen fachlichen Voraussetzungen her nicht gewachsen sind.“ Große Schwächen bestünden in der Rechtschreibung, Zeichensetzung, Grammatik und der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit.
Weiter schreibt er: „Studenten der Germanistik oder Anglistik kennen die Werke der Klassiker ihres Faches nur dem Namen nach und finden dann wenig Gefallen daran, im Studium ‚Faust‘ und ‚Hamlet‘ lesen zu müssen. Studenten der Geschichtswissenschaft verlegen Luther ins 19. Jahrhundert und im Gegenzug die Aufklärung in die Renaissance. Viele angehende Geisteswissenschaftler verfügen nicht mehr über die Fähigkeit, sich komplexere Texte systematisch durch Beiziehung anderer Texte zu erschließen, kritisch auszuwerten, verschiedene Quellen zueinander in Beziehung zu setzen und am Ende zu einem begründeten Urteil zu kommen, das auch hinreichend sprachlich präzise formuliert wird. Eigene Literaturrecherche wird ersetzt durch blindes Vertrauen in Internetseiten.“ Auch aus anderen Fächerkulturen mehrten sich die Klagen über die mangelhafte Studierfähigkeit der Jugendlichen. “So hört man von Ingenieurwissenschaftlern, dass bei ihren Eignungsfeststellungsprüfungen selbst einfache Fragen zur Analysis, die Gegenstand des G8-Lehrplans gewesen waren, von niemandem beantwortet werden konnten. Angesichts dessen erstaunt es nicht, wenn die Ingenieurwissenschaften zu den Fächern mit den höchsten Studienabbruchquoten gehören.“
Daten, die die Zunahme des Problems belegen? Auch hier: Fehlanzeige.
Dafür bricht Wolf dann die Lanze für tradierten, inputorientierten Unterricht: „Während der Lehrer früher in den Leistungskursen Deutsch und Mathematik mit einschlägig begabten Schülern arbeitete, die von ihm eine optimale Vorbereitung auf das Universitätsstudium erhielten, muss er sich heute an den Schwächeren orientieren, damit diese halbwegs mitkommen, was jedoch die Begabten potenziell demotiviert. Am gravierendsten wird aber von Lehrerseite eine Änderung in den Bildungszielen empfunden: Heute dominiert in den Lehrplänen nicht mehr der Fachunterricht, sondern das neue Leitkonzept des ‚kompetenzorientierten Unterrichts‘, worin sich ein geradezu hypertrophes Konzept verbirgt, das vom Lehrer erwartet, seinem Schüler neben der Fachkompetenz „Methodenkompetenz“, „soziale Kompetenz“ und „Selbstkompetenz“ zu vermitteln. An sich wäre es nicht verkehrt, wenn der Unterricht den Schüler in die Lage versetzt, seine fachlichen Kenntnisse auf unterschiedliche Lebenssituationen anzuwenden und daraus Selbstbewusstsein zu entwickeln. Kommt dabei aber die fachliche Bildung zu kurz, dann bricht das ganze Konzept zusammen und die Schüler flüchten sich in die Geschwätzigkeit.“
Zur Erinnerung: Mangelnde Sozialkompetenz von Ausbildungs- und Berufsanfängern– und nicht deren schlechtes fachliches Niveau – wird von den Unternehmen als Problem Nummer eins beschrieben.
Wachsende Internationalität
Warum es der Wirtschaft immer mehr auf diese Softskills ankommt, das macht Stefan Küpper, Geschäftsführer des Bildungswerkes der Baden-Württembergischen Wirtschaft, in einem anschließenden Beitrag deutlich: „Zum einen verlangt die Digitalisierung der Arbeitswelt hohe fachliche Kompetenzen bei der Entwicklung neuer Produkte, Technologien oder Dienstleistungen. Da unterschiedliche fachliche Kompetenzen gefordert sind, geschieht dies in der Regel in interdisziplinären Teams, häufig über Ländergrenzen und Kontinente hinweg. Dies erfordert zum anderen zusätzlich zur fachlichen Kompetenz eine ausgeprägte Teamfähigkeit mit Experten unterschiedlicher Fachrichtungen und mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund erfolgreich zusammenzuarbeiten.“ Und, so möchte man ergänzen: Die Internationalisierung der Wirtschaft erfordert gute Fremdsprachenkenntnisse – die in den vergangenen Jahrzehnten zum Beispiel deutlich besser geworden sind, wie Studien belegen.
Ketzerische Frage: Könnte es nicht sein, dass wir gar kein zunehmendes Kompetenz- und Wissensproblem beim Nachwuchs haben? Sondern, dass es die Universitäten und Unternehmen bislang versäumt haben, sich auf die „Generation Y“ einzustellen – und mit deren Stärken und Schwächen nicht umzugehen wissen?
Jürgen Oelkers, Pädagogik-Professor an der Universität Zürich, nimmt in seinem Beitrag zur KAS-Studie tatsächlich die Hochschulen aufs Korn. Die Lehre lasse vielerorts zu wünschen übrig. „In den einschlägigen Departementen und Universitätskulturen wird selten und nicht angemessen genug nach Unterstützung gesucht, insbesondere wird nicht thematisiert, wie effektive Unterrichtsmethoden aus anderen Fächern oder Universitätskulturen übernommen und weiterentwickelt werden können. Der eigene Unterricht wird selten von außen beurteilt und nur sehr minimal oder sehr formal von innen. Insbesondere fehlt es an didaktischer Expertise, während die Universitätsprofessoren meistens davon ausgehen, die Expertise mit der eigenen Lehrerfahrung gleichsetzen zu können.“
Heißt: Die Verantwortung für das Scheitern von Studierenden wird auf die Schule geschoben, ohne die eigenen Versäumnisse zu reflektieren.
Schlimmer noch: Die deutschen Hochschulen streben häufig noch nicht einmal danach, ihre Studierenden berufsfähig zu machen. Hier herrsche oftmals immer noch ein akademischer Dünkel vor. „In der Hochschuldebatte ist (..) die Meinung weit verbreitet, dass Beschäftigungsfähigkeit mit einem akademischen Bildungsanspruch kaum vereinbar sei“, schreibt Prof. Wilfried Schubarth, Bildungsforscher an der Universität Potsdam.
Und auch bei so manchem Unternehmen scheint es mit der Qualität der Ausbildung nicht zum Besten bestellt zu sein, wie ein Interview mit dem Praktiker Michael Kiwal, Geschäftsführer eines großen Malerbetriebs aus Herdecke, nahelegt. Er betont: „Wir erfahren die jungen Menschen als leistungswillig, sie wollen wirklich gefordert und gefördert werden, sind neugierig und lassen sich begeistern. Aber: Das hängt entscheidend davon ab, wie man mit ihnen umgeht. Wertschätzung ist der Schlüssel unserer gesamten Arbeit und für die Ausbildung bedeutet dies: Wir schauen jede(n) Azubi einzeln an, es gibt nicht „den/die Azubi“, sondern viele unterschiedliche Einzelpersönlichkeiten, die sich in verschiedenen Entwicklungsstadien, schulisch – sozial – persönlich, befinden. So erkennen wir bei jedem Einzelnen, wo er/sie steht und können gezielt in den einzelnen Gebieten fördern.“
Das wäre wohl auch in anderen Betrieben nötig, so möchte man anmerken. Denn Jammern hilft ja nicht: Andere junge Menschen wird sich diese Gesellschaft nicht zaubern können. Umso schlimmer, wenn Zerrbilder und reaktionäre Reflexe die Diskussion bestimmen. „Das fleißige Kind ist eindeutig aus der Mode gekommen“, so behaupten Elisabeth Hoffmann und Christine Henry-Huthmacher. Das ist – bezogen auf die weit überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen in Deutschland – schlicht falsch: 83 Prozent der Zwölf- bis 25-Jährigen in Deutschland halten laut der aktuellen Shell-Jugendstudie „Fleißig und ehrgeizig sein“ für einen hohen Wert.
Hier geht es zu der KAS-Studie “Ausbildungsreife & Studierfähigkeit”
Zum Kommentar: Das Abitur wird verschenkt? Das wüsste ich aber …